"Dieser Sport ist absolut krank" Kieler Giganten können ihr "Wunder" nicht fassen
03.05.2024, 11:05 Uhr
Rune Dahmke und Domagoj Duvnjak hatten einen guten Abend.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der THW Kiel steht im Halbfinale der Champions League. Geglaubt hatte daran nach einem desaströsen Hinspiel beinahe niemand mehr. Doch eine magische Nacht später ist das Handball-Wunder perfekt.
Als am späten Donnerstagabend im Kieler Handballtempel, in dem sie schon so viele große Spiele und große Triumphe erlebt haben, die Schlusssirene ertönt, rasten sie alle aus. Alle, die für den THW Kiel an diesem magischen Abend gearbeitet, geschwitzt und gelitten hatten. Auf der Platte, neben der Platte, auf den Rängen.
Überall ein Taumel in schwarz-weiß. 31:21 zeigt die Anzeigentafel, der deutsche Rekordmeister hatte gegen den SC Montpellier einen Neun-Tore-Rückstand weggearbeitet und steht gegen alle Wahrscheinlichkeiten doch im Final4-Turnier der Champions League! Sie brüllten, sie tanzten, manche sanken entkräftet zu Boden und der hünenhafte Kreisläufer Patrick Wiencek schlug einfach ungläubig die Hände vors Gesicht.
"Keine Ahnung, wie das möglich war"
Domagoj Duvnjak, Rune Dahmke und Hendrik Pekeler - alle diese Handball-Giganten, die in ihren Karrieren national und international Titel um Titel gesammelt haben, waren nach der aufreibenden Handballschlacht körperlich leer und emotional beseelt. "Ich habe keine Ahnung, wie das möglich war. Dieser Sport ist absolut krank", sagte Linksaußen Dahmke, immerhin Sensations-Europameister von 2016: "Es ist absolut verrückt, was hier passiert ist. Ich habe so etwas noch nie erlebt."
Auch der bereits seit zehn Jahren beim THW spielende Kapitän Duvnjak fand kaum Worte: "Ich bin schon lange im Verein. Aber ich habe sehr selten so eine Atmosphäre erlebt." Die Atmosphäre mag außergewöhnlich gewesen sein, doch die Leistung der Spieler war es noch viel mehr. Rückraumspieler Harald Reinkind befand: "Seitdem ich hier bin, habe ich noch nie gesehen, dass so viele Spieler so sehr gekämpft haben."
Eine üble 30:39-Klatsche hatte man sich vor einer Woche in Frankreich abgeholt, die Leistung lieferte keinerlei Anhaltspunkte, dass im Rückspiel irgendetwas möglich sein würde für den THW, der im nationalen Pokal und in der Meisterschaft schon früh alle Titelchancen weggeworfen hatte. Und doch: "Wir waren die ganze Woche auf diese eine Chance fokussiert und haben sie genutzt. Das toppt alles", kommentierte der schwedische Rechtsaußen Niclas Ekberg im Dyn-Interview das "Wunder von Kiel".
"Unser Wunder in der Wunderino Arena!"
Und Toptorschütze Eric Johansson, der mit seinem achten Treffer den umjubelten Schlusspunkt setzte, schwärmte: "Das Training in dieser Woche war unglaublich, unglaublich hart. Aber es hat sich ausgezahlt", sagte der Rückraumschütze. "Danke an unsere Fans, dass sie in jeder Phase des Spiels an uns geglaubt haben. Ich bedanke mich bei jedem einzelnen Zuschauer, dass er diese magische Nacht in Kiel möglich gemacht hat. Das war unser Wunder in der Wunderino Arena!"
Vier Minuten vor dem Ende hatten die Zebras den gewaltigen Rückstand egalisiert, auch, weil die Franzosen in den letzten zehn Minuten überhaupt nicht mehr trafen. Wenige Augenblicke später fiel das Tor, das die Arena in ihren Grundfesten erschütterte.
Trainer Filip Jicha, der seinen THW einst als Spieler zum Champions-League-Titel geschossen hatte, war auf der Pressekonferenz noch lange nach dem dramatischen Ritt euphorisch: "Wir haben heute unser Herz in unsere Hände genommen. Wir haben unseren Fans in dieser Kult-Arena, wir haben uns selbst gezeigt, dass wir eine Mannschaft sind, die bis zum Ende kämpfen kann. Ich bin so stolz auf meine Spieler." Jicha hatte die richtigen Worte gefunden. Und der Matchplan stimmte: "Unser Ziel war, dass wir jede 12. Minute mit zwei Toren gewinnen", erklärte Duvnjak. Dies hätte zwar nicht immer funktioniert: "Aber mental hat es geholfen, von Schritt zu Schritt zu denken."
Es war das zweite dramatische Kapitel deutscher Handballgeschichte, nachdem keine 24 Stunden zuvor der designierte deutsche Meister SC Magdeburg den polnischen Serienmeister Kielce um Nationaltorwart Andreas Wolff in einem veritablen Siebenmeter-Drama bezwungen hatte. "Herzzerreißend" nannte Wolff das Ausscheiden, während sie in Magdeburg noch jubelten. Die Bundesliga ist damit erstmals seit zehn Jahren wieder mit zwei Teams beim Final4 der Champions League vertreten.
Es gab schon ein größeres Wunder
Den Kieler Stammplatz in der Königsklasse werden in der kommenden Saison wohl die Füchse Berlin einnehmen. Die Hauptstädter haben auf Platz zwei der Bundesliga vier Punkte Vorsprung auf Verfolger Flensburg-Handewitt. Die Wunderhandballer aus Kiel sind in der Bundesliga weit abgeschlagen. Die Füchse haben ihrerseits bei ihrer ersten und bislang einzigen Teilnahme an der Königsklasse eine ganz große Geschichte geschrieben. Sie ist sogar noch ein klein bisschen größer als die der Kieler: 2012 war es, als die Füchse mit einer desolaten Leistung und einer schallenden 23:34-Niederlage vom damaligen spanischen Spitzenklub Ademar Leon zurückkehrten.
Das Rückspiel machte die damalige Mannschaft um Weltstar Iker Romero, Nationaltorwart Silvio Heinevetter und den späteren Europameister-Trainer Dagur Sigurdsson zum "Wunder von Berlin" - und überrollte die Spanier mit 29:18. Der 60-minütige Husarenritt war und bleibt das größte deutsche Europapokal-Comeback. Die Füchse mussten damals sogar noch etwas mehr Gas geben als die Kieler, die alle zwölf Minuten mit zwei Toren gewinnen wollten: Alle fünf Minuten, so war es der Plan von Sigurdsson, sollte ein Tor aufgeholt werden!
Aufgrund der damals noch geltenden Auswärtstorregel zog der Bundesligist ins Finalturnier ein. Das gewann - und das ist doch ein gutes Omen - der THW Kiel.
Quelle: ntv.de