Gelebte Inklusion auf dem Platz Tennis-Geschwister schaffen ganz großen Aufschlag
22.06.2023, 19:41 Uhr
Voll im Spiel und voll im Leben: Julius und Marlene Dietrich treten bei den Special Olympics im Tennis an. Die Geschwister bilden ein Unified-Doppel, Julius hat das Down-Syndrom. Sein Ehrgeiz hilft ihm auch im Job weiter. Dort wird Inklusion gelebt, so wie seine Eltern sich es noch viel mehr in Deutschland wünschen.
Die Sonne brennt, die rote Asche der Tennisplätze am Berliner Grunewald hat diesen ganz bestimmten Geruch angenommen, der sich mit Schweiß mischt. Egal ob von Athletinnen und Athleten oder den Fans, der schwülen Hitze entkommt in diesen Tagen niemand. Über das Gelände, das ein Wettkampfort der Special Olympics World Games ist, schwappen aus allen Richtungen Jubel- und Anfeuerungsrufe in den verschiedensten Sprachen, auf acht Plätzen wird parallel gespielt.
Eine deutsche Gruppe hat sich ganz außen, am hintersten Platz zusammengefunden, versucht sich möglichst in den wenig vorhandenen Schatten zu stellen und drückt die Daumen für Teamkollege Christian Schlaikier, der sich ein scheinbar ewig dauerndes Match mit seinem Gegner liefert. Auch Julius und Marlene Dietrich fiebern mit, dabei müssen sie sich eigentlich selbst vorbereiten und einspielen. Doch der Teamkollege ist genauso wichtig.
Die Geschwister aus Lehrte bei Hannover treten im Unified Mixed Doppel an. Bei den Unified-Wettbewerben spielt ein behinderter Athlet mit seinem nicht-behinderten Partner. Für Deutschland sind im Tennis unter anderem der 23-jährige Julius und seine zwei Jahre ältere Schwester dabei. Die beiden haben sich lange vorbereitet und vor allem Julius, der mit dem Down-Syndrom zur Welt kam, will zeigen, was er kann. Er tritt sowohl gemeinsam mit seiner Schwester als auch im Einzel an. Am liebsten würde er Gold gewinnen, so wie im vergangenen Jahr bei den Nationalen Spielen der Special Olympics.
Vater Christian nimmt sie früh mit auf den Tennisplatz
"Die Goldmedaille ist nicht das Entscheidende bei den Special Olympics", sagt dagegen sein Vater Christian gegenüber ntv.de und auch Mutter Silke ist wichtiger, dass ihre Kinder Spaß haben und eine tolle Woche in Berlin erleben. Dabei sein ist alles, das olympische Motto gilt erst recht bei den Special Olympics, wo am Ende jeder eine Auszeichnung erhält. Harmonie wünscht sich Christian Dietrich im Vorfeld der Spiele und dass sein Sohn eine Einheit bildet mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Auf dem Tennisgelände zeigt sich: Sein Wunsch erfüllt sich.
Immer wieder kommen zur deutschen Gruppe am hintersten Platz Leute hinzu, erkundigen sich, wie es für Schlaikier läuft, feuern mit an, motivieren, beglückwünschen schon siegreiche Athleten zu ihren Spielen - und fragen, wann und auf welchem Platz Julius und Marlene denn gleich spielen werden. Zuschauer sind dem Geschwisterpaar im Duell mit dem Duo aus Liechtenstein sicher. Darunter sind dann auch ihre Großeltern und Freunde, die extra nach Berlin gereist sind.
Auf die Special Olympics haben sich die beiden lange vorbereitet. Marlene spielt schon etwa 15 Jahre lang Tennis, die Studentin ist inzwischen auch selbst Trainerin, ihr Bruder spielt ebenfalls bereits seit der Kindheit. Der Vater hat sie zum Sport gebracht, er spielt selbst beim PSV Rot-Gold Lehrte und auch die Geschwister haben viel Spaß. Dass sie nun bei den Weltspielen der Menschen mit geistiger Behinderung dabei sein können, ist etwas ganz Großes.
Das Doppel mit seiner Schwester ist nicht das erste Spiel an dem Tag für Julius Dietrich. Am Mittag hat er bereits eine Partie im Einzel gegen einen Athleten aus Pakistan absolviert. Ein enges, ausgeglichenes Duell, was gar nicht immer so einfach ist, zu erreichen. Damit die Athletinnen und Athleten möglichst gegen gleichstarke Konkurrenz spielen, werden sie in einer Klassifizierung, die in den ersten Tagen der Special Olympics stattfindet, eingestuft. Es geht nicht um die Art der Behinderung, sondern um das Können auf dem Platz, Fairness ist das höchste Gut. So kann es auch schonmal passieren, dass ein Athlet, der im Wettbewerb plötzlich über sich hinauswächst und viel besser spielt als in der Klassifizierung, disqualifiziert wird.
"Er ist mein Anker"
Julius Dietrich sieht seine Vorhand als Stärke an, seine Aufschläge will er weiter verbessern, da fühlt er sich "noch nicht so sicher". Gegen den Pakistani Mehmood Furqan aber kommen sie zuverlässig, 6:3 gewinnt der 23-Jährige den ersten Satz. Immer wieder blickt er dabei rückversichernd zu seiner Schwester, die das Spiel hinter dem Zaun verfolgt und ihn motiviert und lobt, er kommt auch mal zum Abklatschen vorbei. Für seine Schwester ist er ohnehin der Größte. "Die Beziehung zwischen mir und meinem Bruder kann man ganz schwer in Worte fassen. Wenn es mir mal schlecht geht, gehe ich zu ihm, wir verbringen eine Stunde miteinander und es geht mir wieder besser, ich bin ruhiger und gelassener. Wenn wir gute Laune haben, machen wir coole Sachen zusammen", erklärt sie. "Er ist mein Anker, in jeder Lebenslage brauche ich ihn und habe ich ihn."
Auch im zweiten liegt er schnell mit 4:1 vorn, doch dann hat er eine kleine Schwächephase, es zeigt sich das größte Problem, das Julius Dietrich hat: Es fällt ihm schwer, sich für lange Zeit zu konzentrieren, "dann macht er kleine Fehler", beschreibt seine Schwester. Doch er kann noch einmal aufdrehen und sichert sich auch den zweiten Satz - Spiel gewonnen. Ein Motivationsschub für die weiteren Spiele und Tage, so wertet es seine Mutter, die vom bunten Trubel begeistert ist. Um die Medaillen geht es nur nebenbei, eine Auszeichnung erhalten am Ende alle Teilnehmer.
Die Special Olympics sind ein Highlight in diesem Jahr, in dem Julius Dietrich schon einen anderen Meilenstein erlebt hat: Er ist zu Hause ausgezogen, wohnt jetzt in einer WG in Hannover. Nach Lehrte kommt er dennoch fast täglich, allerdings nicht zu seinen Eltern, sondern zu seinem Job. Er arbeitet in einem großen Supermarkt und dort aufhören kam für ihn überhaupt nicht infrage. Den längeren Fahrtweg mit Umsteigen nimmt er gern in Kauf. "Julius ist ein ganz toller Mensch, ein ganz liebevoller Mensch und auch ein ganz toller Kollege", sagt eine Kollegin über ihn und lobt. "Er hat, seitdem er hier ist, eine ganz tolle Entwicklung hingelegt. Er ist viel selbstbewusster, viel lockerer geworden."
Dietrich arbeitet im Supermarkt
Dass Julius Dietrich einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt hat, ist nicht selbstverständlich. Vielen Menschen mit Behinderung bleibt der Zugang verwehrt. Doch der Niedersachse ist ganz natürlich hineingewachsen. Alles begann mit einem Praktikum, bei dem er sich so gut schlug, dass der Markt ihn auf 400-Euro-Basis anstellte. Die Aufgaben hat er "hervorragend gelöst", sagte der stellvertretende Marktleiter Thorsten Nandy und so ist Julius Dietrich inzwischen fest angestellt. Zuständig ist er für die Tiefkühlabteilung und für den Getränkemarkt. "Julius ist sehr ruhig, wird nicht nervös, hat keine Probleme mit vielen Kunden, er wird nicht hektisch", lobt Nandy.
Wenn er von zu Hause losfährt, schickt Dietrich dem stellvertretenden Filialleiter eine SMS, damit er Bescheid weiß. Die Fahrten funktionieren prima: "Er hat keinen Fehltag, keine Fehlzeiten, er ist pünktlich hier und kommt immer gut zu Hause an", so Nandy. Besonders stolz ist Julius Dietrich darauf, dass er eigene Stammkunden hat. Nach seinem Gold bei den Nationalen Spielen kamen sie extra im Supermarkt vorbei, um ihm zu gratulieren, diesmal haben sie ihm vorab viel Erfolg gewünscht.
Eltern wünschen sich mehr Inklusion
Für den jungen Mann aus Hannover läuft es im Berufsleben rund und auch bei seinem Verein, dem PSV Rot-Gold Lehrte, ist er ganz selbstverständlich integriert und immer dabei. Doch Turniere kann er nicht mitspielen, da bleiben die nicht-behinderten Herren unter sich. Seine Eltern würden sich wünschen, wenn Menschen mit Behinderung überall Inklusion erfahren würden. Der Sport hilft ungemein bei der Entwicklung, fördert und fordert. Doch gerade im Sport liege der Fokus zu sehr auf der Leistungsorientierung, erklärt Mutter Silke Dietrich. "Es sollte vielleicht einfach mal mehr Spaß an der Freude geben und die Vereine sich öffnen für Inklusionsgruppen."
Dass Julius Dietrich mal mit seinen Vorbildern Rafael Nadal und Angelique Kerber spielen kann, wird vermutlich nicht klappen. Doch er schaut sie sich gern im Fernsehen an, "weil ich dabei auch selbst viel lerne", erklärt er. Einen großen Traum hat er: Einmal bei den French Open oder den US Open dabei sein. "Wenn nicht als Spieler dann als Volunteer."
Quelle: ntv.de