Gibt es etwa drei Kantés? Der vergessene Weltstar verblüfft die EM
04.07.2024, 19:11 Uhr
N'Golo Kanté spielt, als wäre er nie weggewesen.
(Foto: IMAGO/Sportimage)
Die französische Fußball-Nationalmannschaft legt bei der EM einen kaum mitreißenden Pragmatismus an den Tag. Die Offensive lahmt, dafür aber steht die Abwehr überragend sicher. Deren Anführer ist ein Mann, der eigentlich bereits in der Wüste verschwunden war.
Huch, wo kommt der denn her? N'Golo Kanté steht plötzlich vor, nein, hinter, nein, neben, ach was, man weiß es nicht so genau ... nun, er steht also bei Kevin De Bruyne und klaut ihm den Ball. Niemand hat das kommen sehen. Erst recht nicht der belgische Superstar. Der breitet verzweifelt beide Hände aus. Hätte ihm ja mal jemand sagen können, dass sich da unerwünschter Besuch ankündigt. Kleine Verteidigungsrede für seine belgischen Mitspieler: Auch sie hatten vermutlich nicht gesehen, wo dieser Kanté schon wieder hergekommen war.
Am vergangenen Montag hat Frankreich die "Roten Teufel" aus der Fußball-Europameisterschaft geschmissen. Ein 1:0 im Achtelfinale reichte dafür. In der 85. Minute flog der Ball über das Bein des belgischen Verteidigers Jan Vertonghen ins Tor. Man hätte den Treffer gut und gerne Randal Kolo Muani zuschreiben können, aber die UEFA wertete den Einschlag als Eigentor. Für die Star-Offensive der Équipe Tricolore ist das eine bittere Zuschreibung. Denn offiziell geht sie damit bei diesem Turnier ohne eigenen Treffer aus dem Spiel hervor.
Wirklich dramatisch ist das für die Mannschaft von Didier Deschamps nicht. Auch wenn es das große Thema um diese Mannschaft ist. Denn was spielen da doch für Granaten: Kylian Mbappé! Antoine Griezmann! Ousmane Dembélé! Und wie die anderen alle heißen. Aber die Debatten lassen sich prima aushalten, solange der Erfolg stimmt. Und der stimmt. Frankreich steht im Viertelfinale (Gegner ist Portugal - Samstagabend, 21 Uhr/ZDF/MagentaTV und im ntv.de-Liveticker) und das ohne großen Aufwand. Oder zumindest mit reichlich Luft nach oben. Zumindest was das Spektakel angeht.
Kanté ist wieder überall
Dafür haben sie den eigenen Laden im Griff. Was bedeutet: Kundschaft kommt eher selten vorbei. Im Fußball gelten dabei andere Regeln als in der freien Wirtschaft. Dort endet das Ausbleiben von Kunden häufig mit in der Insolvenz oder der Geschäftsaufgabe. Im Fußball dagegen ist es zielführend (im Sinne der Titelambition), wenn sich möglichst wenige Menschen in den eigenen Laden, sprich der eigenen Abwehr, verirren. Und das gelingt dem Ensemble von Deschamps bei diesem Turnier herausragend. In vier Spielen gab es nur einen Gegentreffer. Der einzige Kunde, der etwas mitnahm, war Robert Lewandowski mit seinem viel diskutierten Elfmeter im Gruppenspiel gegen Polen.
Gegen Belgien ließen die Franzosen erneut wenig zu. Sturm-Hüne Romelu Lukaku war in bester Gesellschaft bei den Innenverteidigern Dayot Upamecano und William Saliba. Die trickreichen Außen Jeremy Doku und Yannick Carrasco wurde bestens betreut von Theo Hernández, der als Kandidat für den FC Bayern gilt, und Jules Koundé, der später zum Man of the Match gekürt worden war. Aber sie alle stehen im großen Schatten eines Mannes - huch, wo kommt der denn her - der durch seine Größe eigentlich gar nicht dafür gemacht ist, allzu viele Ombre zu spenden. Mit 1,68 Meter ist Kanté kein großartig absorbierender Typ. Seine Schattenkraft kommt durch sein Spiel. Einst gab es T-Shirts mit dem Aufdruck "70 Prozent der Erde sind von Wasser bedeckt, der Rest von N'Golo Kanté." Bedeutet: Er ist immer überall. Auf dem Feld, im Training.
Teamkollege Marcus Thuram war angesichts der Omnipräsenz bereits im Trainingslager vor der EM so verwirrt und fragte sich, ob es sogar drei Kantés gebe: "Ich habe den Eindruck, dass sie zu dritt nach Clairefontaine gekommen sind", sagte er witzelnd. "Es ist schrecklich, wir können nicht mehr im Training spielen. Man weiß, dass man gewonnen hat, wenn man ihn bei sich hat. Er ist unglaublich."
Von privaten Schlägen geprägt
Dabei war er doch eigentlich längst verschwunden, im Wüstensand. Wie Cristiano Ronaldo, wie Karim Benzema und viele andere alternde Stars war auch der defensive Mittelfeldspieler im vergangenen Sommer dem großen Ruf des Geldes erlegen. Das saudische Fußballprojekt hatte mit so vielen Scheinen gewedelt, dass der nun 33-Jährige zu Al-Ittihad wechselte. Ausgerechnet Kanté, wunderte man sich damals, dieser schüchterne Star, dem die Herzen zuflogen. Ausgerechnet er schenkte dem international wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehenden Staat seinen Glanz, ein neues Gesicht des saudischen Sportwashings. Immerhin ist er gläubiger Moslem, seine Religion verbindet ihm mit dem in der Kritik stehenden Staat.
Kanté war jahrelang ein Star, weil er kein Star sein wollte. Weil er nicht im Glanz lebte und durch schwere private Schläge geprägt wurde. Menschen mögen so etwas eben. So schrieb das Magazin "France Football" vor ein paar Jahren: "Warum die ganze Welt N'Golo Kanté liebt". Schon früh in seinem Leben starb sein Vater, er selbst war damals elf Jahre alt. Vor sechs Jahren verlor er seinen Bruder. Als Fußballer erlebte er die brutale Schattenseite des Business. Mit vorgehaltener Waffen, so heißt es Berichten zufolge, soll er mal aufgefordert worden sein, seinen Berater zu wechseln. Er selbst redet wenig. Und wenn, sehr leise.
"Seine Eroberungen waren monströs"
Glanz und Kanté, das passt eben nicht zusammen. Weder inszeniert sich der Franzose zu einer Marke, wie viele seiner prominenten Kollegen, noch stand er für das Spektakel am Ball. Er ist vielmehr das Spektakel gegen den Ball. Als die Équipe Tricolore in der Vorrunde gegen die Niederlande spielte, flitzte der gebürtige Pariser wie ein Teufel durchs Mittelfeld. Kaum zu fassen war. Kaum zu fassen war es, wie er überall die Bälle stibitzte. "Seine Eroberungen waren monströs", staunte Koundé. Es habe sich nichts geändert.
Seit er in der Wüste ist, seit er das letzte Mal für Frankreich gespielt hatte. Das war vor dieser EM-Vorbereitung ziemlich genau zwei Jahre her gewesen. Knieprobleme und danach eine hartnäckige Oberschenkelverletzung hatten ihn über Monate außer Dienst gestellt. So verpasste er unter anderem die WM 2022, die Frankreich als Vize-Champion beendet hatte. Danach war er nicht mehr berufen worden. Seine Zeit schien vorbei, erst recht mit dem Wechsel in die Wüste. Dort geht es schließlich nicht mehr um Fußball auf höchstem Niveau, dort geht es um eine tüchtige finanzielle Aufwertung der Fußballer-Rente.
Aber Deschamps setzte darauf, dass der alte Mann noch immer helfen kann. Weil der schillernde Star Paul Pogba wegen Doping eine lange Sperre absitzen muss, weil Aurélien Tchouaméni sich kurz vor dem Turnier verletzt und nicht klar, ob sich die Dinge noch fügen und weil Kanté 2018 unter Deschamps Weltmeister wurde, setzte der Coach auf die Dienste des Routiniers.
Und für den 33-Jährige scheint es kein Haltbarkeitsdatum zu geben. Das eint ihn mit dem deutschen Metronom Toni Kroos. Er spielt, als habe er die große Bühne nie verlassen. Er spielt, wie zu seinen besten Zeiten, als er mit Leicester City überraschend die Premier League gewann und danach, als er mit dem FC Chelsea unter anderem die Champions League gewann. 41 Kilometer hat er bei dieser EM schon absolviert. Sein Trainer schwärmt und staunt: "N'Golo läuft immer noch." Kanté war über Jahre stilprägend für das defensive Mittelfeld. So wie er die Rolle als Balldieb und Antreiber interpretierte, so musste diese Rolle eben ausfüllen. Er hätte es verdient, die Trophäe als bester Spieler der Welt ausgezeichnet zu werden. Die aber geht selten bis nie an Fußballer, die sich dem Spektakel am Ball entsagen und für das Spektakel gegen den Ball sorgen. Eine internationale Gemeinheit. Kanté hat sich nie darüber beklagt. Er rennt und - huch - klaut Bälle. Nicht nur den Fame. Für den Titel.
Quelle: ntv.de