EM-Spezialdisziplin ohne Tore Frankreich spielt, als wäre es ein ICE zwischen Köln und Dortmund
02.07.2024, 01:30 UhrFrankreichs Fußballer feiern eine ausgelassene EM-Party. Nach einem zähen Kampf mit Belgien steht die "Equipe Tricolore" im Viertelfinale. Die Star-Offensive erzielt wieder kein Tor aus dem Spiel, der Siegtreffer wird offiziell als Eigentor gewertet.
Die Hymne nach Schlusspfiff passte sehr gut. "Freed from desire" wurde gespielt, die Spieler der französischen Nationalmannschaft tanzten, der Trainer winkte dem eigenen Anhang erfreut zu. 1996 schenkte die italienische Sängerin Gala der Welt diesen stumpfen Eurodance-Klassiker. "Freed from desire", befreit vom Verlangen, das waren die Franzosen in den 90 Minuten zuvor offenbar gewesen. Wie schon in der Gruppenphase. Seltsam befreit vom Verlangen, der Welt die ganze Kraft ihres Schaffens zu zeigen.
Belgien wurde in Düsseldorf mit 1:0 (0:0) besiegt. Offiziell durch ein Eigentor. Der Schuss von Randal Kolo Muani (85.) wurde von Routinier Jan Vertonghen abgefälscht. Auf dem Bolzplatz hätte die Kraft des Schützen gezählt, die UEFA sieht die Dinge anders. Damit hält die EM eine unglaubliche Erzählung am Leben.
"Schweratmig", "barockes Konzept"
Frankreich steht im Viertelfinale und das, obwohl dieses 1,23 Milliarden Euro schwere Ensemble nun seit sechs Stunden ohne ein Tor aus dem Spiel heraus durch dieses Turnier läuft, Pardon, geht, Pardon, schleicht. Wie ein ICE im Verkehrsstress zwischen Köln und Dortmund. Die Gäste sind sehr unzufrieden. Man erwartet mehr (wobei das bei den Zügen der Deutschen Bahn eigentlich nicht mehr stimmt). Doch am Ende kommt man irgendwie und irgendwann am Ziel an.
Das Ziel der Franzosen ist der Titel. Es geht ihnen nicht darum, die Herzen der Fußball-Welt zu erobern. Das können die tollen Spieler in und mit ihren Vereinen erledigen. Bei großen Turnieren setzt Frankreich auf einen eiskalten Pragmatismus. Der stößt nicht auf viel Amour, die Zeitung "Le Parisien" klagt in großer Bewunderung: "Les Bleus spielen Fußball ohne Tore, ein barockes Konzept, das ihre Spiele schweratmig macht. Wenn sie mal eines machen, weiß man mit ziemlicher Sicherheit, dass es das einzige Tor sein wird."
Tor: 1:0 Vertonghen (85., Eigentor)
Frankreich: Maignan - Koundé, Upamecano, Saliba, Hernández - Tchouaméni - Kanté, Rabiot - Griezmann, Thuram (62. Kolo Muani), Mbappé; Trainer: Deschamps
Belgien: Casteels - Castagne (88. De Ketelaere), Faes, Vertonghen, Theate - Carrasco (88. Lukebakio), Onana, De Bruyne, Doku - Openda (63. Mangala), Lukaku; Trainer: Tedesco
Gelbe Karten: Tchouaméni, Griezmann, Rabiot - Vertonghen, Mangala
Schiedsrichter: Glenn Nyberg (Schweden)
Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Düsseldorf
Ob dieser Weg, der erfolgreichste ist? Der Kampf um den besten Ansatz spitzt sich zu. Die Spanier spielen ihren Gegnern Kopf, Körper und Beine schwindelig. Die Deutschen verzaubern das Land mit Wucht und Leidenschaft. Österreich spielt einen so mitreißenden Fußball, als würde Herrmann Maier die Streif herunterrasen. England ist England, erschütternd schlecht und "erfolgreich".
Die Portugiesen stützten ihren Superstar Cristiano Ronaldo für den letzten großen Moment seiner gigantischen Karriere. Und die weiter bestens dosierten Franzosen laufen zu keiner Zeit Gefahr, in einen anstrengenden Vollgas-Modus schalten zu müssen. Aber gut, auf der Strecke zwischen Köln und Dortmund gibt es schließlich auch kaum Gelegenheiten für den Hochgeschwindigkeitsmodus. Durchschlängeln ist da das Stichwort.
Das "Eigentor" ist der erfolgreichste Stürmer
Zwischenhalt an diesem Montagabend war Düsseldorf. Ein gefährliches Nadelöhr! Kurz vor der Einfahrt in den herrlich schönen Ruhrpott droht immer ein von vorausfahrenden Zügen besetztes Gleis, eine Signalstörung, ein Stellwerkschaden, ein Problem mit der Oberleitung oder einfach nur eine Störung im Betriebsablauf. Aber irgendwie rollt es ja doch immer weiter, am Düsseldorfer Flughafen vorbei, durch Duisburg, Mülheim, Essen, Wattenscheid und Bochum. Und so setzt auch der blau-weiße-rote ICE seine Fahrt fort. Am Freitag ist Hamburg die nächste Station, um 21 Uhr geht es dann gegen Portugal.
Bis dahin bleiben aber viele Fragen offen. Die drängendste: Wer schießt denn mal ein Tor? Also eines aus dem Spiel heraus. In der Torjäger-Statistik der Équipe Tricolore steht das "Eigentor" (mit zwei Treffern) vor Superstar Kylian Mbappé. Doch der Mann, der seit diesem Montag von Real Madrid bezahlt wird, hat bislang nur einmal und das auch noch per Strafstoß getroffen.
Mbappé ist im Weltfußball eigentlich das, was der ICE 3 für die Deutsche Bahn ist. Der Leistungsstärkste, den es im Bestand gibt. Nein, er hat keine 10.876 PS, er beschleunigt nicht von null von 100 in 49 Sekunden und schafft es auch nicht in sechs Minuten 300 km/h zu erreichen. Aber wenn dieser Mbappé normalerweise losstürmt, gibt es kaum ein Halten mehr. Doch aktuell ist der 25-Jährige gedrosselt unterwegs, was auch an seiner Maske liegt.
Mbappés "Horror"
Ausgerechnet in Düsseldorf, zum Start der EM, hatte er sich das Riechorgan gebrochen. In seiner Heimat, dem politisch dramatisch nach rechts rückenden Frankreich, war er somit nicht nur zum lauten Fürsprecher für die Demokratie geworden, sondern auch zur "Nase der Nation". Nach einer Pause gegen die Niederlande kehrt er gegen die Polen im letzten Gruppenspiel zurück, erzielte den Elfmetertreffer, ruckelte aber sonst übers Gleis.
Vor dem Duell gegen Belgien bekannte er, was für ein "Horror" die Maske doch sei. Alles sei ein großer Mist, man schwitze und die Sicht sei eingeschränkt. Das darf als kleine Entschuldigung durchgehen, erklärt aber nicht, was mit der Superstar-Offensive los ist. Antoine Griezmann, Marcus Thuram, Ousmane Dembélé und wie alle heißen, krampfen sich tüchtig einen ab. Ohne jeden Ertrag. Der nominell beste Angriff des Turniers kommt nicht in Fahrt.
Trainer Didier Deschamps stört sich derweil nicht an den frustrierenden Darten. "Man muss das genießen, das ist keine Kleinigkeit", sagte der Weltmeistertrainer von 2018, dem der Pragmatismus immer mehr um die Ohren zu sausen droht, wie seinem englischen Pendant Gareth Southgate, auch wenn Frankreich noch meilenweit davon entfernt ist, das Spiel mit dem Feuer (Turnier-K.-o.) auf eine so skurrile Weise zu betreiben wie die Three Lions: "Wir sind einen Schritt weiter. Das darf gern so weitergehen. Wir hatten gute Chancen, aber der Gegner war auch stark."
Immer wieder Störungen im Betriebsablauf
Was genau stark bedeutet, das war die große Definitionsfrage des Abends. Belgien versuchte zu kontern und die Defensive stabil zu halten. Das Erste gelang nicht sehr gut, das Zweite dagegen lange Zeit schon. Die 45 Minuten vor der Pause waren ein Schachspiel zweier Großmeister. Ein Lauern auf Fehler. Den hauchzart mutigeren Ansatz wählte Belgien, auch wenn Frankreich meist den Ball hatte.
Die Analogie zum Schach wird meist dann gewählt, um zu verhindern, ein Spiel als kaum ansehbar zu diskreditieren. Einmal ließ Kevin De Bruyne einen Freistoß los, der so seltsam auftickte, dass Frankreichs Keeper Mike Maignan kurios mit dem Fuß klärte. Auf der anderen Seite versuchte es Aurélien Tchouaméni zweimal aus der Distanz, einmal köpfte Marcus Thuram vorbei. Vom Spiel des Weltranglisten-Zweiten (Frankreich) gegen den Dritten hätte man mehr erwarten dürfen.
Nach der Pause wurde es besser. Wieder köpfte Thuram vorbei (49.). Der ICE beschleunigte endlich, versuchte auf Tempo zu kommen. Mbappé schoss drüber (56.). Es waren kleine Momente der Raserei, dazwischen immer wieder grobe Störungen im Betriebsablauf, Bremse. Die knallte Theo Hernández gegen Yannick Carrasco ein paar Minuten später rein. In allerbester Heldengrätscher-Manier stoppte der den belgischen Flügelstürmer, der eine der sonderbarsten Karrieren hat. Von der AS Monaco ging es einst zu Atlético Madrid, dann zog er das Geld des chinesischen Fußball-Goldrauschs vor, ehe er zurück zu den Rojiblancos ging. Nach drei weiteren Jahren dort rief schon wieder das Geld und Carrasco ging nach Saudi-Arabien.
Egal, Hernández feierte, Frankreich mit. Das ist reichlich seltsam: Die Mannschaft, deren Offensivstars jeder auf der Welt kennt, findet ihre Helden plötzlich in der Defensive. Der Expected-Goals-Wert der Belgier war so absurd niedrig, dass die Mannschaft eigentlich (laut Statistik) gar keine Chance hatte, dieses Spiel zu gewinnen. Was ja nun auch nicht passierte.
Tedesco sucht nach Erklärungen
Belgien wurde mutiger, brachte mit dem großen EM-Pechvogel Romelo Lukaku und noch einmal De Bruyne noch zwei starke Schüsse an, die Maignan wieder entschärfte. Unmittelbar nach der guten Chance durch den Kapitän, der die Fortsetzung seiner Nationalmannschaftskarriere offen ließ und auf Reporterfragen gereizt reagiert hatte, traf Frankreich zum 1:0. Randal Kolo Muani wurde vom wieder einmal großartig aufspielenden N'Golo Kanté im Strafraum angespielt, schoss erst sich und dann das Bein von Gegenspieler Vertonghen an. Mehr Glück und Pech in einer Szene geht nicht zusammen. Belgiens Trainer Domenico Tedesco, der in seiner Fußball-Heimat unter Druck steht, war geschockt. Wie sein Team, das sich nicht mehr erholen konnte.
Mit versteinerter Miene saß er später in den Katakomben der Düsseldorfer EM-Arena und konnte das Aus nicht so wirklich erklären. "Wenn wir das Spiel gewinnen, ist alles top und alles ist aufgegangen. Die Chancen waren da - auch, wenn es nur fünf waren, muss man auch die Qualitäten sehen." Belgiens Turnier-Reise endet abermals (zu) schnell. Die "goldene Generation" wird titellos in die Geschichtsbücher eingehen. Frankreich fährt weiter. Gute Nachrichten von der Strecke: Zwischen Dortmund und Hamburg werden derzeit keine Vorfälle gemeldet.
Quelle: ntv.de