EM-Analyse: Lienen atmet auf "Wenn diese Engländer jetzt die EM gewonnen hätten ..."
15.07.2024, 02:45 UhrDie Fußball-Europameisterschaft ist Geschichte: Spanien holt dank eines 2:1-Erfolgs im Finale den Titel und Englands traurige Löwen jaulen weiter. Seit 1966 warten die Three Lions auf einen Titel. ntv.de-Experte Ewald Lienen ist sehr erleichtert, weil der Triumph der Furia Roja ein gutes Signal für den Fußball ist. Im EM-Abschlussinterview erklärt er, was ihn bei diesem Turnier genervt und was ihn mitgerissen hat.
Hallo Herr Lienen, wie geht's?
Ewald Lienen: Hahaha, sehr gut! So sieht's doch an diesem Abend aus!
Oh, in Feierlaune? Dann haben wir mit Spanien den richtigen Europameister?
Ich bin super zufrieden. Ich habe Respekt vor allem möglichem, aber wenn die Engländer jetzt die EM gewonnen hätten, dann können wir das Buch irgendwann mal zuklappen. Wenn das alles nicht mehr zählt, wie ich spiele, ob ich offensiven Fußball spiele, mit klassischen Außenstürmern, den Gegner dominieren kann, dann hätte ich auch nicht weiter gewusst. Und fast wäre es ja passiert, weil die Spanier das 2:0 verpasst haben. Und dann kommt der Klassiker, dann bekommst du nämlich das 1:1. So ist England auch gegen die anderen Mannschaft zum Erfolg gekommen, schießen spät ein Tor, retten sich in die Verlängerung oder gewinnen. Aber das wäre kein gutes Signal für den Fußball gewesen. Bei allem Respekt für die tollen Talente, die die Engländer auch haben.
Sie gehören also auch zu der Fraktion derer, die mit dem englischen Fußball gar nichts auffangen können, ja?
Ich kann nicht verstehen, wie man außer Bukayo Saka auf keinen weiteren Außenstürmer setzen kann. Weder auf Anthony Gordon, der ja im Kader war, oder aber auf Marcus Rashord, Raheem Sterling oder Jack Grealish, die ja gar nicht erst nominiert worden waren. Und dann lasse ich diesen Superspieler Jude Bellingham auf links rumlungern, der geht dann in der 55. Minute, ich weiß gar nicht, ob er das selbst entschieden hat, ins Zentrum und plötzlich fängt England an zu dominieren. Bellingham gewinnt Bälle, Bellingham schießt aufs Tor, Bellingham bereitet den Ausgleich auf. Wenn ich mir vorstelle, was möglich ist, wenn ich links einen stehen habe und rechts...
Aber dieser Fußball ist, wie bei anderen großen Nationen auch, ausgerichtet auf Kontrolle und darauf, dass ein Spieler mal was Besonderes macht. Das macht keine Freude. Aber die Art und Weise, wie die englische Presse mit Trainer Gareth Southgate umgeht, finde ich erbärmlich. Die Leute lächerlich zu machen, gehört sich nicht!
Dann widmen wir uns doch mal dem neuen Europameister...
Ich bin einfach sehr froh, dass die Spanier den Titel gewonnen haben. Weil das auch ein starkes Signal ist, dass man Meisterschaften mit richtig gutem Fußball und einer großen Leidenschaft in der Defensive gewinnen kann. Die haben so viel Talent nach vorne und sie dürfen das ausspielen. Du hast rechts Außenstürmer und links und in der Mitte mit Alvaro Morata zwar nicht den besten Mittelstürmer der Welt, aber einen der immer hart arbeitet, der ein klasse Typ ist. Und dann kommt Mikel Oyarzabal, der ist super der Junge. Der ist aggressiv, der kommt aus San Sebastian aus dem Baskenland, da geht direkt die Post ab! Die haben die besten Akademien in Spanien. Das sind top Leute, top Jungs. Auch viele Toptrainer kommen aus dem Baskenland. Aber für mich war heute wieder Dani Olmo der Gamechanger.
Sie sind ja richtiger Fan geworden!
Ja, mit was für einer Genialität und tollen Ideen er das Spiel beeinflusst. Das gefällt mir einfach. Und dann ist da noch Marc Cucurella ...
... der im Viertelfinale gegen Deutschland den Ball im Strafraum an die Hand bekommen hat ...
... der macht das vor dem Siegtreffer klasse. Er macht das, was du in so einer Situation machen musst. Er hat den Ball sofort reingespielt. Wenn er den erst annimmt, steht die Abwehr und du spielst den Ball dem Torwart in die Arme. Das war eine überragende Aktion und das freut mich auch für ihn, weil er wieder Pfiffe bekommen hat, die absolut lächerlich und nicht korrekt sind. Aber das ist auch Karma. Das sage ich mit meiner Karmamanie! Ach, aber bei dieser Mannschaft passt einfach alles. Wie sie zusammen funktionieren und wie sie den Ausfall von Schüsselspieler Rodri kompensiert haben, das ist absolut bemerkenswert. Wie Martín Zubimendi ihn dann nach der Pause ersetzt hat, das war überragend.
Sind Sie eigentlich froh, dass die Europameisterschaft jetzt zu Ende gegangen ist?
Wieso soll ich denn froh darüber sein?
Oh, so war das nicht gemeint. Es war nur Frage!
Nein, ich bin gar nicht froh. Aber wir können natürlich jetzt nicht immer nur für vier Wochen in den Fußball abtauchen. Das ist auch klar!
Schauen wir doch nochmal zurück, was bleibt denn von dieser EM hängen?
Im Grunde fast nur Positives! Wir neigen ja leider dazu, immer etwas zu kritisieren. Wenn ich zum Beispiel in der Schmoll-Ecke lese, dass wir den Fußball überhöhen. Das halte ich für Quatsch. Niemand, den ich kenne, glaubt, dass ein solches Turnier alle Probleme, die wir haben, behebt. Aber wir dürfen eins auch nicht vergessen: Was sollen die Menschen denn genießen, wenn nicht so eine Europameisterschaft? Das Leben findet im Hier und Jetzt statt. Deswegen sollten wir diese Erlebnisse nicht einfach abhaken und so tun, als wäre das nicht wichtig. Das Leben ist schwer genug. Es gehört einfach dazu, dass man den Augenblick mitnimmt und das Glück genießt.
Tore: 1:0 Williams (47.), 1:1 Palmer (73.), 2:1 Oyarzabal (86.)
Spanien: Simón - Carvajal, Le Normand (83. Nacho), Laporte, Cucurella - Rodri (46. Zubimendi), Fabián Ruiz Peña - Yamal (89. Merino), Olmo, Williams - Morata (68. Oyarzabal). - Trainer: De La Fuente
England: Pickford - Walker, Stones, Guehi - Saka, Mainoo (70. Palmer), Rice, Shaw - Foden (89. Toney), Bellingham - Kane (61. Watkins). - Trainer: Southgate
Schiedsrichter: Francois Letexier (Frankreich)
Gelbe Karten: Olmo - Kane, Stones, Watkins
Zuschauer: 71.000 (ausverkauft) in Berlin
Ich brauche Mut, ich brauche Zuversicht, ich brauche schöne Erlebnisse. Wir haben so viele Probleme, die wir täglich zu bewältigen haben. Und ich wiederhole mich, ich glaube nicht, dass die Leute denken, die Dinge sind jetzt erledigt. Auch nicht, wenn wir Europameister geworden wären. Das sieht man ja auch in Argentinien, die 2022 Weltmeister geworden sind. Oder auch gerade in den USA. Diese ganzen Animositäten kann der Fußball nicht überdecken. Darüber sollten wir uns keine falschen Vorstellungen machen. Aber wir dürfen genießen und sollten das auch tun.
Was hat Ihnen denn am besten gefallen?
Ach, die vielen tollen Spiele, das Auftreten der Fans, aber auch, wie wir uns als Gastgeber präsentiert haben. Mir fallen so viele positive Dinge ein. Die Bilder, die wir jetzt von vielen Fans zu sehen bekommen haben, das ist doch etwas Einmaliges. Die Niederländer etwa, oder die Schotten. Da geht es um so viel. Ums Genießen, aber auch um Zusammenhalt. Etwas gemeinsam machen. Und wenn es erstmal nur feiern ist. Ob sich daraus etwas Großes entwickelt, das ist ein anderes Thema. Aber zusammen etwas machen, ist immer besser, als es gegeneinander zu tun. Und schauen wir uns mal an, wie viele Menschen hier zu Gast waren und wie wenig passiert ist, das ist doch toll. Und die Polizei hat es ja selbst gesagt, an normalen Bundesliga-Wochenende ist oft mehr los. Trotz aller Rivalität zwischen manchen Gruppen ist es friedlich verlaufen, ich will sogar sagen: euphorisch! Und noch etwas ist mir wieder einmal aufgefallen.
Was denn?
Das Stadionerlebnis, das schafft etwas Verbindendes. Ein Wohnzimmergefühl. Man geht mit Leuten da hin, die die gleichen Werte teilen. Etwa Fairness, Rücksichtnahme, Gerechtigkeitssinn. Auch wenn es natürlich immer wieder Ausnahmen gibt. Aber die Szenen der Fans jetzt bei der EM, die zusammen gefeiert haben: Das waren doch einfach tolle Bilder, die die Dinge überlagern, die bei uns auch sonst nicht funktionieren!
Sie meinen die Deutsche Bahn?
Ja, genau. Da wurden uns mal wieder die Versäumnisse der vergangenen Jahre hart vor Augen geführt. Aber wie sollte das denn auch plötzlich klappen, wenn auf einmal gefühlt doppelt so viele Menschen mit der Bahn fahren? Das war doch von vorneherein klar! Aber auch da gab es ja schöne Momente. Wie unser Turnierdirektor Philipp Lahm erzählt hat, als in seinem Abteil erst die Schotten gesungen haben und dann die Dänen. Und später dann alle gemeinsam. Und zum Glück werden ja jetzt endlich die Strecken renoviert!
Dann lassen Sie uns mal sportlich werden. Was hat sie am meisten beeindruckt?
Vor allem die kleineren Nationen, wie Georgien, die Slowenen, die Slowaken. Aber auch die Türkei, die Schweiz und die Österreicher. Die haben mit einer unglaublichen Leidenschaft, Fairness und Freude gespielt. Mit einem großen Willen. Und sie sind als Mannschaft aufgetreten. Das hat mir besonders gefallen. Die stehen für Werte wie Zusammenhalt, Unterstützung, Loyalität. So kannst du erfolgreich sein. Und ich habe das schon mal gesagt, diese Mannschaften haben das Herz in beide Hände genommen und haben jedes Spiel bestritten, als wäre es ein Endspiel. Da geht mir das Herz auf. Schauen wir uns nochmal das Spiel Georgien gegen die Türkei an, das für mich das beste der EM war. Da ging es rauf und runter. Mit offenem Visier. Ohne Schauspielerei. Das ist Fußball, wie er sein soll. Solche Spiele sind für mich eine Botschaft.
Gibt es auch einen Fußballer, der sie besonders beeindruckt hat?
Ach Herr Nordmann, sie wissen doch, ich mag das nicht, einen einzelnen Spieler herauszuheben. Es gibt tolle Fußballer, die nichts für den Erfolg der Mannschaft tun. Vor solchen Spielern habe ich keinen Respekt. Ich mag Spieler, die sich in den Dienst des Teams stellen. Und ja, da haben mir einige Spieler in diesem Turnier sehr gefallen. Da ist bei den Spaniern natürlich ein Rodri, der einfach der beste Sechser der Welt ist. Der ist das Zentrum seiner Mannschaft und macht sie mit seiner Art der Spielorganisation besser. Aber auch bei kleineren Teams sind mir solchen Typen aufgefallen. Bei Georgien etwa Giorgi Kochorashvili, der in der zweiten spanischen Liga spielt. Oder auch auch der Slowake Stanislav Lobotka. Das beeindruckt mich, wie die das Spiel prägen.
Mir gefallen aber auch Spieler wie Olmo oder Yamine Lamal, die so unbeschwert spielen, mit einer unglaublichen Ruhe am Ball und sich auch unter Druck nicht stressen lassen. Ein anderer Typ ist Granit Xhaka, der das Spiel der Schweizer besser gemacht hat. Die haben gespielt wie Bayer Leverkusen, nur nicht mit der Durchschlagskraft.
Und von wem sind Sie enttäuscht?
Die größte Enttäuschung ist für mich Frankreich. Ich kann verstehen, dass Didier Deschamps den Plan hat, hinten nichts zuzulassen. Aber mit einer Offensive um Kylian Mbappé, Ousmane Dembélé und Randal Kolo Muani musst du einen Gegner mehr unter Druck setzen können. Ich komme nochmal auf Bayer Leverkusen zu sprechen. Die haben die anderen Mannschaft erdrückt, wenn es mal über das Tempo nicht geklappt hat. Die ganzen späten Tore waren ja kein Zufall. Und Frankreich hat solche Mittel doch auch. Wobei man sich eine Sache fragen muss.
Warum es keine Torgefahr gab?
Nein, ob die Besetzung im Mittelfeld mit zwei oder drei Sechsern geeignet ist, um die Offensiven in Szene zu setzen. Das sind doch drei ICE's, die man auf die Reise schicken muss. Ein N'Golo Kanté hat das im Zentrum natürlich überragend gemacht, aber brauche ich dann wirklich noch einen Aurélien Tchouaméni, wenn ich doch eine so überragende Abwehr habe? Warum lasse ich dann nicht lieber einen Spieler ran, wie den Stuttgarter Enzo Millot, der mit seiner Technik auch mal ein paar Gegenspieler aussteigen lassen kann? Und in Frankreich, wo du als Nationaltrainer mindestens zwei Weltklassemannschaften nominieren kannst, wird es mehrere solcher Spieler geben. So war es einfach Fußball, der an der Gewinnmaximierung orientiert ist. So geht der Fußball aber leider kaputt. So wie wir unser Klima ruiniert haben, mit dem rücksichtslosen Streben nach Profit.
Gibt es noch jemanden oder etwas, das sie enttäuscht hat?
Ja, die Portugiesen. Die haben auch so viele tolle Fußballer. Da verstehe ich einfach nicht, warum immer noch ein 41 Jahre alter Pepe und ein 39 Jahre alter Cristiano Ronaldo spielen müssen. Ich habe für beide den größten Respekt. Aber bei der letzten WM hat ein Gonçalo Ramos so groß aufgespielt, warum lässt man ihn nicht ran?
Und dann muss ich noch auf das Abwehrverhalten mancher Spieler zu sprechen kommen. Was macht da zum Beispiel der Niederländer Stefan de Vrij beim Siegtreffer der Engländer im Halbfinale? Das ist ein lächerliches Abwehrverhalten! Der steht da auf Abstand und kommt nicht heran. Der hätte bei mir direkt ein Seminar zum Thema Verteidigen bekommen. So etwas habe ich häufiger gesehen. Ein Weltklassemann steht nah dran, hält Kontakt und den Fuß vor den Ball. So wird geblockt!
Ein Thema, was sie während dieser EM umgetrieben hat, waren die Reg ...
Ja, die Handregel muss weg. Dabei bleibe ich. Diese Regel ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Aber was mich genau so aufregt, ist die Entwicklung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Mittlerweile wird ja jeder Konter bereits an der Mittellinie unterbunden, dort, wo man nicht Gefahr läuft, eine rote Karte zu kassieren. Das nervt mich kolossal. Da müsste es härtere Strafe geben. Ach und genauso schlimm sind die Schwalben. Da fällt ein Spieler um, wenn er die Hand des Gegners im Rücken spürt. Er fällt und schreit und tobt. Das ist ein Problem!
Für wen?
Es ist ein generelles Problem. Die Spieler vernachlässigen damit ihre Vorbildfunktion. Millionen von Menschen sehen zu, nicht nur Erwachsene, auch Kinder. Die kopieren das dann natürlich. Und da sind Sie, Herr Nordmann, und Ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus auch gefragt!
Oh, inwiefern?
Wie oft höre ich, wenn jemand einen Konter unterbindet, dass das ein wichtiges Foul und clever gewesen sei. Das ist nicht clever! Das ist unsportlich und respektlos. Das muss auch klar so benannt werden! Klug ist dagegen die Anti-Mecker-Regel. Dadurch haben wir weniger Gejammer und Rudelbildungen und können schneller wieder sportlich werden! Das soll auch gerne in der Bundesliga umgesetzt werden.
Weil Sie gerade den DFB erwähnt haben: Haben wir alles zur deutschen Nationalmannschaft besprochen, oder gibt es noch etwas zu sagen?
Ach gerne. Ich finde wirklich, dass Julian Nagelsmann und die Jungs das sehr gut gemacht haben. Ich war am Anfang skeptisch, aber bin mittlerweile überzeugt. Auch wenn ich bei einigen Personalien eine andere Meinung habe. Aber der Weg stimmt. Julian hat es gut gemacht, für die Probleme, die wir haben, Lösungen zu finden. Etwa beim Mangel an schnellen Außenverteidigern oder einem generellen Mangel an Außenstürmern. Aber sowohl Maxi Mittelstädt als auch David Raum und Joshua Kimmich haben das für ihre Verhältnisse überragend gemacht.
Und wie geht es ohne Toni Kroos weiter?
Nun, wir könnten Toni ja überreden, mit Cristiano Ronaldo eine gemeinsame Trainingsgruppe zu gründen. Dann könnte der eine bis 45 spielen und Kroos bis 40. Aber das bringt ja nichts. Es wird weitergehen. Und vielleicht hat Lothar Matthäus mit seiner Idee ja recht, dass Joshua Kimmich die Lösung ist!
Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de