Friede, Freude, Fußball Von der Überhöhung des Fußballs als heilende Kraft

Mehr Zuversicht und Zusammenhalt durch das positive Auftreten der DFB-Kicker bei der Heim-EM 2024? So ein Quatsch.

Mehr Zuversicht und Zusammenhalt durch das positive Auftreten der DFB-Kicker bei der Heim-EM 2024? So ein Quatsch.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Wann immer die Mannschaft eines Landes mit krassen gesellschaftlichen Verwerfungen ein Fußball-Turnier gewinnt, wird dem Triumph eine Art heilende Kraft zugemessen. Nun machen auch Julian Nagelsmann und Uli Hoeneß bei dem Unsinn mit.

"Frankreich feiert den Sieg mit Euphorie und neuer Zuversicht. In Jahren der Terrorangst ein wichtiges Signal für das Selbstbewusstsein und den Zusammenhalt der ganzen Nation." So hieß es in der "Tagesschau" nach dem Sieg des französischen Teams bei der Fußball-WM 2018. Zeugen der These waren junge Fans in Paris, die sagten: "Heute sind wir alle vereint." Oder auch: "Alle Kulturen, die Mannschaft repräsentiert das ganze Land. Der ganze Rassismus, alle Probleme sind für heute weg." Und morgen?

Unmittelbar nach dem Sieg Argentiniens im Finale der WM 2022 verkündete ein Reporter aus Buenos Aires im "Morgenmagazin": "Die Leute leiden seit Jahren unter einer Wirtschaftskrise, dieses Jahr über 90 Prozent Inflation", die Lage sei "viel schwieriger als bei uns in Deutschland. Und dann eben die Armut, die gestiegen ist, der hohe Schuldenberg" des Landes, den die argentinische Regierung nicht in den Griff kriege. "Die Leute leiden häufig im Alltag unter diesen Bedingungen. Und jetzt das, diese Erlösung, diese Anerkennung, dieser Kampfeswille, den sie auch im Alltag hier haben müssen."

Die Berichterstattung entspricht dem Reflex, dem Finalsieg einer Mannschaft eines Landes mit krassen gesellschaftlichen Verwerfungen, bedingt durch Armut, Rassismus und politischer Polarisierung, eine Art heilende Kraft zuzumessen. Falls es sie wirklich gibt, hält sie nur wenige Tage. In Wahrheit ist es banal: Die Freude verdrängt für kurze Zeit die vielen Sorgen - aber nicht die Realität. Bald holt der Alltag die Menschen wieder ein. Was am Ende zählt, ist der Blick auf den Kontostand. Die politischen Ereignisse sprechen ebenfalls eine andere Sprache. Frankreich ist so gespalten wie nie zuvor, wie die Wahl neulich zeigte. Von Argentinien ganz zu schweigen.

Nagelsmann trägt das Pathos davon

Man darf sich spaßeshalber fragen, was gewesen wäre, wenn Deutschland den EM-Titel geholt hätte, ob jemand in der "Tagesschau" oder wo immer unter Hinweis auf Konjunkturflaute und Kaufkraftverlust erklärt hätte: "Deutschland feiert den Sieg mit Euphorie und neuer Zuversicht. In Jahren der Angst vor Wohlstandsverlust und Gewalt ein wichtiges Signal für das Selbstbewusstsein und den Zusammenhalt der ganzen Nation." Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man das verneinen, zumal das Wort "Nation" nach wie vor gemieden wird, obwohl es in "Nationalmannschaft" steckt. In jedem Fall hätten wir jede Menge Statements und Appelle zum Aufbruch, zu mehr Mut, Zuversicht, zum Zusammenhalt und Miteinander von Deutschen mit und ohne Migrationshinter- oder vordergrund zu hören bekommen.

Kurz vor dem ersten EM-Match hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann verlangt, seine Mannschaft politisch in Ruhe zu lassen und nicht etwa mit dem Resultat über eine "Scheiß"-Umfrage zu nerven: "Ich würde mir wünschen, dass man das Team aus allen Debatten heraushält." Dabei war nicht die Erhebung das Problem, sondern deren Ergebnis, das - pardon - so braun war wie Scheiße. "Bei politischen und gesellschaftlichen Themen kommen innerhalb einer Fußballmannschaft, wo sich verschiedene Ansichten, Kulturen und Religionen versammeln, immer Diskussionen auf - und das schlägt in der Regel auf die Leistung", sagte er dem "Spiegel".

Deshalb also das Motto: Friede, Freude, Fußball. Umso erstaunlicher war es dann, dass sich Nagelsmann nach dem Ausscheiden seiner Mannschaft zu einer flammenden Rede aufschwang und damit seinen Beitrag zur Überhöhung des Fußballs als Mittel zur Überwindung gesellschaftlicher Zerwürfnisse leistete. In einem Mix aus Bundespräsidenten- und Pfarrersansprache sagte er nicht frei von Pathos: "Es ist wichtig zu realisieren, in welch schönem Land wir leben, landschaftlich und kulturell. Was wir für Möglichkeiten haben, wenn wir alle zusammenhalten und nicht alles extrem schwarzmalen, dem Nachbarn nichts gönnen und von Neid zerfressen sind." Und: "Man muss sich unterstützen, alle Menschen integrieren und willkommen heißen."

Was ist denn vom "Sommermärchen 2006" geblieben?

Das wird wohl jeder Erdenbürger unterschreiben, der nicht völlig empathielos ist. Allerdings spricht sich das umso leichter aus, wenn man Spitzenverdiener ist, der in einer Blase aus millionenschweren Kickern lebt, die keine Zukunftsangst haben müssen und gut reden können. In die Richtung gingen auch Äußerungen von FC-Bayern-Ehrenpräsident Uli Hoeneß, der entweder das Ergebnis der Europawahl und sonstige Ereignisse auf dem Kontinent ignoriert oder nicht verinnerlicht hat. Die deutsche "Nationalmannschaft mit ihrem Auftreten" habe für mehr Zuversicht gesorgt, behauptete er kühn im "Kicker". "Dieses Turnier hat Europa zusammengeführt, Deutschland und der Kontinent können davon nur profitieren."

Wer's glaubt, wird selig. Und pfeift hoffentlich keine Spieler anderer Teams aus, die die Handspielregeln nicht erfunden haben. Was ist denn vom "Sommermärchen 2006" übrig geblieben außer schönen Erinnerungen, dass die Deutschen Leichtigkeit und freundliche Gastgeber sein können? Die Wahrheit ist auch hier gar simpel: Erfolg zieht an. Das ist alles. Niemand bejubelt ein Team, das schlecht kickt und gegen relativ schwache Gegner verliert. Nichtsdestotrotz hat Sport etwas Integratives. Man sieht es auf Sportplätzen, wenn Mädchen und Jungen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen oder Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam trainieren. Aggressive Eltern und brutale Attacken auf Schiedsrichter sind nochmal ein anderes Thema.

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Profi-Fußball war jedenfalls noch nie Treiber gesellschaftlichen Wandels, die "Respect"-Banner und Anti-Rassismus-Losungen auf Shirts sind richtig und gut, aber eben auch Feigenblätter: Schaut her, wir tun was. "Wenn wir immer nur in Tristesse verfallen, und alles ist grau und alles ist schlecht, dann wird sich keiner verbessern", sagte Nagelsmann. Zur Wahrheit gehört aber auch: Mit guten Fußballspielen ballert man die Krisen Deutschlands und der Welt halt nicht weg. Da haben Toni Kroos, Manuel Neuer und Lukas Podolski mit ihren Stiftungen, die sich für schwerkranke beziehungsweise sozial benachteiligte Kinder starkmachen, vermutlich mehr Konkretes erreicht als sämtliche Nationalmannschaften der vergangenen Jahrzehnte.

Titel bei Europa- und Weltmeisterschaften verbleiben genauso wie grottenschlechte EM- oder WM-Spiele im kollektiven Gedächtnis eines Landes. Gesellschaftliche und politische Nachhaltigkeit sind damit nicht verbunden. Symbolisch dafür stehen die Fanmeilen. In Berlin wird, um nur ein Beispiel zu nennen, alle zwei Jahre die sechsspurige Straße des 17. Juni für viele Wochen für den Verkehr gesperrt, ohne dass irgendwer protestiert. Sollen aber Trassen dicht gemacht werden mit der Begründung, etwas für die Gesundheit, Sicherheit und den Klimaschutz zu tun, tobt ein Streit. Und der ist kickend nicht zu befrieden, geschweige denn zu beenden.

Quelle: ntv.de

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