Spektakel vs. Schauspielerei Italien fasziniert und nervt (ein bisschen)

Nach einer "magischen Nacht" freut sich die Squadra Azzurra auf den Fußballgipfel gegen Spanien. Eine schwere Verletzung trübt die EM-Stimmung bei den Italienern allerdings. Im belgischen Team um die Stars Kevin De Bruyne und Romelo Lukaku ist die eh dahin.

Lorenzo Insigne ist in manchen Momenten ein Fußballer, der einem so richtig auf Sack geht. Ein kleiner Fummler vor dem Herrn. Der Typ, den man auf dem Bolzplatz am allerwenigsten mag. Den man nicht als Gegenspieler haben will, weil er zu trickreich ist, viel zu schnell. Den man aber auch nicht in der eigenen Mannschaft haben will, weil seine Aktionen bisweilen in einem kaum erträglichen Egoismus enden. Lorenzo Insigne ist in manchen Momenten aber auch der Fußballer, der das Besondere schafft. Der den Unterschied ausmacht. Gut für Italien: Bei dieser EM ist Lorenzo Insigne eher nicht der Typ, der einem auf den Sack geht. Er ist vielmehr der Typ, der sein Land verzaubert. Mit Tricks, mit Dribblings, mit zauberhaften Abschlüssen.

So wie Italien einem bei diesem Turnier nicht auf den Sack geht. Kein Catenaccio, kaum Schauspieleinlagen und ein Zeitspiel, das sich im erträglichen Maß hält. Das andere Mannschaften genauso betreiben. Dieses Italien ist anders. Es ist erfolgreich, es ist spektakulär, es ist mitreißend. Und leidenschaftlich. Aber gut, das waren sie ja eigentlich immer schon. Seit 32 Spielen ist die Mannschaft von Trainer Roberto Mancini bereits ohne Niederlage. Bleibt diese Serie noch zwei weitere Partien bestehen, dann ist Italien tatsächlich Europameister. Was für eine verrückte Geschichte das wäre. Vor drei Jahren, bei der WM in Russland, war die "Squadra Azzurra" nicht dabei. Sie hatte sich nicht qualifiziert. Der Stolz der Mannschaft, der Stolz der Nation war gebrochen.

Die Tragik von Kevin De Bruyne

Und jetzt das. Jetzt diese Auferstehung. Jetzt Halbfinale bei der EM. Nach einem 2:1-Sieg gegen Belgien, gegen die "goldene Generation" von Belgien, die wieder mal nicht in der Lage war, ihr überragendes Talent mit einem Titel zu belohnen. Kevin De Bruyne, dem Superstar, droht das Schicksal zwar viele Meisterschaften und Pokale gewonnen, aber nie eine internationale Trophäe gesammelt zu haben. Gemeinhin braucht es so etwas, um als ganz Großer der Branche bewertet zu werden. Vor allem in der Rückschau auf seine Karriere. Nun, mit 30 Jahren ist noch nicht alles vorbei, die Chancen aber werden weniger. Und sie waren groß in diesem Jahr. Belgien, Erster der Fifa-Coca-Cola-Weltrangliste, war nach dem überraschend frühen Knockout von Frankreich (im Achtelfinale gegen die Schweiz) die Nation, die die Rolle als Top-Favorit eingenommen hatte. Auch, wenn die Leistungen bis zum Viertelfinale eher mit effizient als mit spektakulär beschrieben werden mussten.

Tatsächlich gaben die Belgier ihre zurückhaltende Strategie auf und verwickelten die furiosen Italiener in einen offenen Schlagabtausch. In ein Spiel ohne Kontrolle, in ein Spiel, das phasenweise ein rauschhafter Trip war. Der faszinierendste des Turniers. Und hätte Italien mit Gianluigi Donnarumma nicht einen herausragenden Torwart gehabt, dann wäre Italien womöglich ausgeschieden. In der ersten Halbzeit parierte der 22-Jährige zweimal auf sensationelle Weise. Einmal gegen De Bruyne. Ein anderes Mal gegen Romelu Lukaku, der ihn übrigens kurz vor der Pause per Elfmeter überwand. Ein anderer Mann, der einen großen Heldenmoment für Italien hatte, war Leonardo Spinazzola. Dessen angespannter Oberschenkel verhinderte in der 60. Minute das mögliche 2:2. Der Schuss kam vom unglücklichen Lukaku aus kürzester Distanz. Spinazzolas Erzählung an diesem Abend wurde 18 Minuten später noch ein bisschen größer, leider tragisch. Nach einem Sprint blieb er plötzlich stehen, sank auf den Boden, weinte. Es waren Tränen voller Schmerz und Frust. Vermutlich ist seine Achillessehne gerissen.

Tatsächlich ist es fast ein bisschen komisch, die Helden der Italiener in der Defensive zu suchen. Und zu finden. Denn sie war ja gar nicht gewillt, sich dem alten Catenaccio zu ergeben. Aber sie können es eben einfach. Auch unter Mancini, der dem Team eine schnelle offensive Idee verpasst hat. Die legendären Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci lassen Abwehr wie Kunst aussehen. Sie lassen Stürmer wie Lukaku phasenweise einfach aus dem Spiel verschwinden. Aber natürlich finden sich in der Mannschaft auch offensive Protagonisten. Insigne ist eben so einer. Wahnsinnig geschickt am Ball, mit den Gedanken immer in der Offensive. Immer lauernd auf ein feines Zuspiel oder auf einen noch feineren Abschluss. Sein traumhafter Schlenzer aus 20 Metern zum 2:0 nach 44 Minuten gehört zu den schönsten Toren der EM.

"Wir opfern uns einer für den anderen"

In Deutschland, Ort des bislang letzten großen italienischen Triumphs vor 15 Jahren, wurde die Titellust der "Squadra Azzurra" an diesem Freitagabend noch ein bisschen größer. 32 Spiele ohne Niederlage bringen dem von Mancini perfekt zusammen - und eingestellten Kollektiv auch eine fast unerschütterliche Zuversicht. "Das unterscheidet uns von den anderen Mannschaften: Wir opfern uns einer für den anderen, so können wir weit kommen", sagte Insigne. "Jetzt müssen wir die Akkus aufladen, es wartet Spanien, da müssen wir vorbereitet sein." Die Spanier hatten zuvor die Schweizer Heldenreise im Elfmeterschießen beendet.

Die stets zwischen Euphorie und Gnadenlosigkeit changierenden Medien in Italien feiern die Mannschaft schon überschwänglich. Die "Gazzetta dello Sport" schwärmte von einem wirklich "fabelhaften Italien", der "Corriere dello Sport" machte eine "magische Nacht" aus. "Tuttosport" schrieb: "Du bist wunderschön! Wie schön es ist, Italiener zu sein!"

Getrübt wurde diese indes nicht nur von Spinazzolas bitteren Tränen auf der Verletztentrage, sondern auch von einer peinlichen Einlage von Topstürmer Ciro Immobile. Unmittelbar vor dem 1:0 wollte er einen Elfmeter schinden, wand sich im Strafraum auf dem Boden. Als Nicolò Barella zum 1:0 traf, war all der doch so große Schmerz fix vergessen. Manch einer spottete über eine vermeintliche Wunderheilung. Es sind Momente, die an das alte Italien erinnern. An das alte Italien, das einem in manchen Momenten echt auf den Sack gehen konnte.

Quelle: ntv.de

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