Mit Goretzka zur Revolution? Kimmich zwingt Löw zum Weltklasse-"Opfer"

Eine Überraschung war es ja nicht mehr, aber ein Plan, der nicht aufging: Gegen Frankreich setzt Bundestrainer Joachim Löw darauf, dass seine Allzweckwaffe Joshua Kimmich auch auf der rechten Seite starke Impulse bringt. Belohnt wird er nicht.

Joachim Löw baute einen kleinen Wellenbrecher auf, um die Wucht der ersten Schübe etwas zu mildern. Wohl wissend, dass dieser kleine Wellenbrecher schon sehr, sehr bald von der Wucht der nächsten Schübe reichlich gnadenlos fortgerissen werden wird. Joachim Löw sagte - was dann sein kleiner Wellenbrecher war -, dass die Leistung der beiden deutschen Außenverteidiger Robin Gosens und Joshua Kimmich beim ersten EM-Spiel, es endete mit einer 0:1-Niederlage gegen Frankreich, schon "okay" gewesen sei. "Okay", das ist im allgemeinen Verständnis immer noch deutlich besser als "nicht so gut". Aber ein "nicht so gut" wäre auch "okay" gewesen, um sich einzugestehen, dass der Versuch mit Kimmich an der Seite untauglich war.

Nun kann man freilich darüber diskutieren, ob der Plan des Bundestrainers tatsächlich gescheitert war, denn Kimmich machte eines seiner schlechtesten Länderspiele überhaupt. Was im allgemeinen Verständnis immer noch für ein mäßig solides "okay" reicht. Aber Kimmich, dieser Mann, der mit Erwartungen und Hoffnungen auf fast schon unfaire Weise zugepflastert wurde, taugt eben für so viel mehr. Er, dem man den Weltfußballer-Titel voraussagt. Ein "okay" für ihn ist demnach beinahe eine Horrorurteil.

Man kann natürlich auch diskutieren, ob Kimmich einfach einen so schwachen Tag erwischte, dass es gar nicht zulässig ist, den Plan des Trainers infrage zu stellen. Der sah ja zwei Dinge vor: Zum einen sollten der 25-Jährige die rechte Seite gegen den tempoharten Franzosen dichtmachen und für offensive Akzente sorgen. Dieser Plan ging nur äußerst bedingt auf. Und zum anderen sollte seine Versetzung jenen Platz schaffen, den es braucht, um Toni Kroos und Ilkay Gündogan in der Startelf unterzukriegen. Der Plan klappte. War aber nicht erfolgreich.

Wenig Argumente für Außenspieler Kimmich

Und so hat Deutschland, zumindest die Teile, die sich für Fußball interessieren, plötzlich doch wieder die Debatte am Hals, die eigentlich unbedingt verstummen sollte: Wohin mit Kimmich? Die Argumente für die rechte Seite sind nach dem Frankreich-Spiel reichlich dürftig. Viele Ballverluste, einige Stellungsfehler (unter anderem in Vorbereitung des Gegentreffers) kaum Zugriff aufs Spiel, keine Chipbälle als kreatives und überraschendes Mittel im deutschen Angriff. Was gegen Lettland (Nummer 138 der Welt) noch ordentlich funktionierte, Durchbrüche auf der Seite und Hereingaben, funktionierte gegen Frankreich kaum. Löw gestand: "Sie (Anmerk. d. Red. die Außenverteidiger Gosens und Kimmich) haben ein paar gute Flanken gebracht, manchmal waren sie zu hoch - wir hatten uns vorgenommen, flach und scharf reinzuspielen, weil uns Frankreich im Kopfballspiel überlegen ist." Wie schon bei der hart vergeigten WM 2018 in Russland fremdelte Kimmich mit seiner einstigen Stammposition - und zog weg. Nun, zum Ende des Spiels, vermehrt ins Zentrum.

Also zurück ins Zentrum. Wenn das so einfach wäre. Dort spielen ja Kroos und Gündogan. Und nach dem Duell gegen Frankreich würde man sich wünschen, dass da bald auch Leon Goretzka spielt. Mit seiner Dynamik, seiner Power, seine Qualitäten in beide Richtungen des Spielfelds. Was beim FC Bayern gut, sogar sehr gut funktioniert, das kann ja schließlich auch für Deutschland nicht schlecht sein. Goretzka und Kimmich im Zentrum, davor dann Müller, daneben dann Serge Gnabry. Und womöglich auch Leroy Sané. Dessen bestes Argument für einen Start-Platz gegen Portugal ist die schwache Leistung von Kai Havertz gegen Frankreich.

Kimmich zurück ins Zentrum. Wenn das so einfach wäre (II). Löw müsste dafür tatsächlich ein Weltklasse-"Opfer" bringen. Also Kroos oder Gündogan auf die Bank setzen. Oder beide. Wegen der Goretzka-Option. Und auch wenn der Bundestrainer seiner finalen Mission nach 17 Jahren beim DFB den Anstrich gegeben hat, dem Titel alles unterzuordnen - die Rückholaktionen von Thomas Müller und Mats Hummels sind die prominentesten Belege - so ist von ihm nun kaum zu erwarten, dass er nach einem guten, aber doch ziemlich chancenlosen Auftakt gegen Frankreich zu radikalen Maßnahmen greift. Dass er Kroos und Gündogan opfert, um dem perfekt harmonierenden Power-House des FC Bayern auch die Leitung im Zentrum seiner Nationalmannschaft anzuvertrauen. Dafür ist er nicht nur zu loyal gegenüber seinen langjährigen Spielern, dafür ist er auch viel zu sehr überzeugt von ihren herausragenden Qualitäten. Aber womöglich ist es genau diese Überzeugung von Löw, die Deutschland die Stärke nimmt. Nämlich das Tempo, die Dynamik und die Unberechenbarkeit ins Spiel zu bringen, für die Gnabry, Sané, Müller, Havertz oder auch Timo Werner stehen.

Tatsächlich ist Kimmich der Schlüsselspieler für die DFB-Elf. Mehr noch als Abwehrchef Mats Hummels. Mehr noch als Antreiber, Schleichkatze und Kommunikations-CEO Müller. Kimmich ist so wichtig, weil er als einziger Spieler des Aufgebots Zweikampfstärke, Dynamik, Führung und kreative Momente auf höchstem Niveau vereint. Seine Position ist elementar für die Stabilität des Teams. Für die Balance. Während die Stabilität gegen die doch eher zurückhaltenden Franzosen weitgehend stimmte, fehlte die Balance. Kroos und Gündogan rangen gegen die überragenden Paul Pogba und N'Golo Kanté um Räume. Hingen in Wellenbrecher-Aufgaben fest. Ob Kimmich im Zentrum mehr geholfen hätte? Eine ziemlich müßige Spekulation. Aber eine Diskussion, die nun wohl nicht mehr aufzuhalten sein wird.

Quelle: ntv.de

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