Geisterstadien und Arbeiterelend Jetzt entzieht sich Katar wieder den Scheinwerfern

Ein letztes Mal Feuerwerk, dann zieht der Zirkus und damit die große Aufmerksamkeit weiter.

Ein letztes Mal Feuerwerk, dann zieht der Zirkus und damit die große Aufmerksamkeit weiter.

(Foto: picture alliance / AA)

Zwölf Jahre bereitet sich Katar auf vier Wochen im Spätherbst 2022 vor. Nach dem fulminanten Finale wandern die Scheinwerfer der Welt erschöpft weiter. Das Turnier hinterlässt mehr Fragen als Antworten, die es vor Ort kaum gibt. Das Licht verschwindet. Die Zukunft ist unklar. Aber interessiert das noch?

Was wird aus Katar, wenn die Fußball-Weltmeisterschaft nicht mehr da ist? Innerhalb von nur zwölf Jahren hat das Emirat die komplette Infrastruktur für die erste Stadt-WM der Geschichte in den Wüstenboden gestampft. Die gigantischen Wohnblöcke in Lusail und auf The Pearl werden kaum neue Mieter finden und vorerst als Erinnerungen an die WM im Wüstensand zurückbleiben. In der Nähe des Endspielstadions wird trotzdem schon die neue Yasmeen-City errichtet.

Die Stadien, Kathedralen des Katar-Kapitalismus, werden teilweise zurückgebaut und im Falle des Stadiums 974 am Ufer des Persischen Golfs sogar komplett demontiert werden. Noch ist unklar, an welcher Stelle, in welchem Land es wieder auftauchen wird. Das Lusail Iconic Stadium, Schauplatz des historischen Finals am Sonntag, wird sehr wahrscheinlich nie wieder ein Spiel erleben. Es soll dem "zivilen Nutzen" zugefügt werden, der sich beim Anblick der Betonwüste im Norden Dohas allerdings kaum noch erschließt.

Die Armee der Gesichtslosen

Doha ist eine Stadt voller Widersprüche. Eingepfercht in den Wohnanlagen der Industrial Area fristen die Arbeitsmigranten ihr mehr als bescheidenes Dasein. Teilweise teilen die Menschen aus Indien, Bangladesch, Nepal, Sudan und Co. sich zu siebt kleinste Zimmer. Sie arbeiten sprichwörtlich bis zum Umfallen, manchmal den ganzen Tag und die ganze Nacht. Missbrauch und Menschenrechtsverstöße werden aus Furcht vor Strafen und dem Verlust des Jobs stillschweigend hingekommen. Denn sie alle eint, dass sie nach Katar gekommen sind, weil es in ihren Heimatländern nur Korruption und keine Arbeit gibt. Dass sie im reichsten Land der Erde aber solch ein Elend erfahren würden, ahnen viele nicht.

Bauarbeiter, Taxi- und Busfahrer, Bedienstete, Kellner, Putzkräfte – sie alle bilden das Rückgrat der katarischen Gesellschaft. Doch am Reichtum und Glitzer des Landes darf diese Armee der Gesichtslosen nicht teilhaben. Die Regierung des Emirats macht sie zu Bürgern dritter Klasse, nach den Einheimischen und westlichen Arbeitern im Land. Infrastruktur, Gesetze und die Arten der ausgeübten Jobs sorgen dafür, dass sich diese Bevölkerungsgruppen nicht vermischen und die unterste Klasse fast keinen Kontakt mit den Bessergestellten hat.

Zerreißprobe für den FC Bayern

In Doha kracht die eine Parallelwelt in die nächste. Auf den unzähligen Verkehrsachsen der Stadt ruht der Verkehr auch tief in der Nacht nicht und die Fassaden der West Bay, Lusails und von The Pearl glitzern ohne Unterlass. Demütig dienen dort die Migranten aus der Industrial Area denen, die ihren unermesslichen Reichtum gerne zur Schau stellen. In der Metro wird die Klassentrennung zur Erleichterung der Katarer wieder Einzug halten, zahlreiche Helfer werden das Land verlassen, wie auch alle Fans und Journalisten.

Mit dem Abflug von Weltmeister Lionel Messi wird auch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit verschwinden. Hinterlassen wird sie ein auch in sich zerrissenes Land, in dem die konservativen Kräfte an ihren alten Wertvorstellungen festhalten werden und die pro-westlichen hoffen, dass die Menschenrechtsorganisationen sich nicht aus dem Land zurückziehen werden. Sie sollen sich weiter an der Entwicklung des Emirats beteiligen.

Dieses "im Dialog bleiben" wird auch in Fußball-Deutschland in den nächsten Monaten noch einmal hochkochen. Bereits im Januar zieht es den FC Bayern München in die Aspire Academy nahe dem Khalifa-Stadion, dem Ort des deutschen Debakels gegen Japan. Neben dem Trainingslager dürfte es dort auch um eine mögliche Verlängerung des innerhalb des Vereins höchst umstrittenen Vertrags mit Qatar Airways gehen. Diese Frage stellt den Rekordmeister seit langer Zeit vor eine Zerreißprobe. Wird der FC Bayern mit dem Zuschuss von etlichen Millionen "weiter hinschauen" oder lässt Katar den Klub am Ende sogar fallen?

Vernichtendes Urteil

Klar ist: Katar benötigt in Sachen Menschenrechte dauerhafte Reformen, die wirklich greifen und nicht nur auf dem Papier stehen. Die ein Leuchtturm für andere Länder sein könnten. Denn Katar steht exemplarisch für die Golf-Region, in der Menschenrechte unter ferner liefen laufen. Bis sich das ändert, ist es wohl noch ein langer Weg. Die Erfahrung aus China und Russland etwa, wo 2008 die Olympischen Spiele und 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft stattfanden, zeigt, dass die Menschenrechtslage sich durch solche Großereignisse nicht verbessert.

Im Gegenteil. Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor von Human Rights Watch, sagte der "Welt am Sonntag": "Die WM ist genauso schlimm abgelaufen wie befürchtet." Auch die Mitglieder der FIFA müssten daraus "Konsequenzen ziehen" und an einer "tief greifenden Veränderung der Organisation arbeiten". Doch auch ein Wandel des Weltverbandes ist kaum erwartbar.

Katar bleibt dem Fußball erhalten

So oder so wird Katar im europäischen Fußball ein alltäglicher Name bleiben. Mit Lionel Messi und Kylian Mbappé stellen sie die Superstars des Turniers, beiden laufen für den katarischen Klub Paris Saint-Germain auf. Neben dem Traditionsverein aus der französischen Hauptstadt könnte schon bald einer der großen englischen Klubs in den Besitz Katars übergehen. Die zum Emirat gehörende Bank QNB hat Interesse an den zum Verkauf stehenden Giganten Manchester United und FC Liverpool, wird auf den Straßen Dohas erzählt.

Dass Katar unter den vielen in den europäischen Markt drängenden Staaten weiter eine Vormachtstellung besitzt, garantiert PSG-Boss Nasser Al-Khelaifi. Der hält über seine Funktion als CEO von beIn Sports unzählige Senderechte an europäischen Wettwerben und hat sich als Vorsitzender der European Club Association und mächtiger UEFA-Funktionär tief in die Entscheidungsebenen eingegraben.

Bei all der berechtigten Kritik an Katar ist es wichtig, nicht nur belehrend mit dem Finger zu zeigen, sondern auch auf Deutschlands Verfehlungen zu schauen. Dass der DFB sich das Sommermärchen 2006 in die Heimat ergaunerte, sollte nicht vergessen werden. Auch der Blick auf Deutschland wird in den kommenden 18 Monaten vor der Europameisterschaft schärfer werden. Wie behandelt das Land die Geflüchteten, die von den Kriegen und Krisen der Welt nach Europa getrieben werden? Wie sind die Lebensbedingungen für die Erntehelfer und die in der Fleischindustrie?

Auch politisch und ökonomisch wird die Verbindung Berlins zu Doha immer stärker. Während die Menschenrechtsverstöße angeprangert werden, schließen die Regierungen beider Länder milliardenschwere Deals. Gas, das künftig durch deutsche Haushalte fließt, sorgt ebenfalls für Leid unter den ausgebeuteten Migrantenarbeitern.

Das Recht auf Rausch

Zurück zur WM. Die gute Organisation des Turniers, die unzähligen freundlichen Helfer und die Abwesenheit jeder Gewalt wird in Erinnerung bleiben. Das totalitäre System des Landes ist abschreckend genug, um jede Art von Unruhe bereits im Keim zu ersticken. Die Angst vor der Willkür der Sicherheitskräfte unterdrückt alles. Diese Willkür ist in kleinen Momenten beim Spiel der USA gegen den Iran zu beobachten. Dort bringen Schergen des Mullah-Regimes Auszüge des Terrors ihrer Heimat über die gegen das Regime protestierenden Bürger Irans. Die Einsatzkräfte Katars schauen – wie die kurz schockierte Weltöffentlichkeit – nur tatenlos zu. Sie lassen es geschehen. Auch das Interesse der Öffentlichkeit schwindet schnell.

Die kurze Aufmerksamkeitsspanne wird durch die hohe Taktung der Spiele garantiert. Das Turnier ist ruhelos wie eine Nacht in Doha, in der die Arbeiter um 3 Uhr morgens für ihre Pausen zusammenkommen, einen Tee trinken und in die Anonymität ihrer Existenz verschwinden. Vergessen ist somit auch schnell die Aufregung um das kurz vor Anpfiff erlassene Bierverbot. Bereits Monate im Vorfeld soll Budweiser, der Bier-Sponsor, in Gesprächen mit den Organisatoren auf ein mögliches Verkaufsverbot eingegangen sein. Doch erst als der Druck in den sozialen Medien in Katar zu groß wird, erinnert sich der Veranstalter daran und reagiert in aller Schnelle. Die WM soll nicht nur in die Welt strahlen, sondern auch alle im Emirat mitnehmen.

Das fehlende Recht auf Rausch zeigt sich in Doha über die Dauer des Turniers auf allen Ebenen. Es geht nicht nur um Alkohol - der ist ohnehin erhältlich, wenn auch nicht erschwinglich. Es geht vielmehr um das Recht auf den Rausch der Freiheit, der in Doha an allen Stellen eingeschränkt wird. Alle bewegen sich in einem engen Sicherheitskorsett, das bald alltäglich ist und nicht nur die freie Bewegung einschränkt. Es gibt keine Möglichkeiten, daraus auszubrechen. Die künstliche Stimmung in den Stadien, die in den gekauften Ultras Katars ihren frühen Höhepunkt findet, wird nur bei wenigen Partien durch die Macht der Authentizität gebrochen. Weil kaum Europäer vor Ort sind, obliegt es vor allen Dingen den Fans aus Marokko und denen aus Süd- und Mittelamerika, die WM mit Leben zu füllen.

Weitere Großevents werden folgen

Großveranstaltungen werden in die Region des unendlichen Reichtums und des unendlichen Leids zurückkehren. Die FIFA liebäugelt bereits mit Saudi-Arabien als Co-Gastgeber der WM 2030, die Infrastruktur Dohas verlangt ebenfalls nach weiteren Events. Der Traum von den Olympischen Spielen in Doha ist noch lange nicht ausgeträumt.

So geht nach dem Schlusspfiff des Finales, ausgerechnet am Internationalen Tag der Migranten und nach 144 Monaten seit der Vergabe des Turniers ohne wirkliche Fortschritte in Sachen Menschenrechte "die beste WM aller Zeiten" (FIFA-Boss Infantino) zu Ende. Eine WM, für die unglaublich viel menschliches Leid geopfert wurde. Möglich, dass Katar weitere Reformen anstößt. Möglich, dass andere zurückgefahren werden, jetzt, da der Tross der westlichen Medien abreist. Egal welchen Weg der Wüstenstaat in der Zukunft geht, mental traumatisierte Arbeitsmigranten bleiben geschädigt. Und verstorbene Arbeiter bleiben tot. Ihre Familien werden sie weiter vermissen.

Quelle: ntv.de

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