Das Tagebuch zur WM in Katar Hinter den Fassaden lauert das große Chaos

Das Wüstenzelt. So nah und doch so fern.

Das Wüstenzelt. So nah und doch so fern.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Der Eröffnungstag der Fußball-WM in Katar. Das Eröffnungsspiel findet weit vor den Toren Dohas statt. Während sich in der Hauptstadt-Glitzerwelt so etwas wie WM-Stimmung zeigt, herrscht rund um das Al-Bayt-Stadion ein monumentales Verkehrschaos. Hinter den Fassaden des Turniers herrscht Einsturzgefahr.

Der Tag des Eröffnungsspiels. So ein wenig liegt endlich eine Fußball-WM in der Luft. Die U-Bahnen sind zwar nicht voll und es gibt keine Gesänge, aber es tummeln sich doch Fans mehrerer Nationen in den Zügen. Da treffen US-Amerikaner aufeinander und begrüßen sich mit einem dreifachen "USA, USA, USA". Da ist die Mittvierzigerin im Mexiko-Trikot, die Shopping-Tüten trägt. Oder auch die Gruppe von Ecuador-Fans, die sich auf die Partie gegen Katar am Abend einstimmt. Für Kurzentschlossene ganz ohne Utensilien, oder Fans, die es etwas extravaganter mögen, bietet der Bahnhofsshop traditionelle katarische Gewänder komplett in Nationalfarben an. Allein: Der Laden ist komplett leer.

In der Doha Festival City Mall, der allergrößten Mall der Stadt, herrscht auch WM-Stimmung. Die Mall liegt an einer der großen Straßen raus in Richtung Norden. Sie gehört technisch schon nicht mehr zu Doha, sondern zu Umm Salal Muhammed, einer Ansiedlung von immerhin bald 100.000 Einwohnern. Hierher verirren sich keine Fans anderer Nationen. Aus den Compounds, diesen in den Sand und das Geröll gestampften Wohnanlagen, dringen die Rufe von Kindern. Sie jagen einem Ball hinterher.

Auch in der Mall geht es natürlich um Fußball. Die Stimmung ist nicht so, wie es vielleicht aus Deutschland bekannt ist, doch etwas liegt in der Luft. Schon am Eingang steht ein älter Mann in einem traditionellen Gewand und spielt den Besuchern Pässe mit einem kleinen, grünen Fußball zu. Er freut sich. Im Food Court sammeln sich einige Fans. Einige, unter ihnen auch Frauen, haben sich die katarische Flagge ins Gesicht geschminkt.

Chaotische Anreise betrifft alle

Auf dem Weg zum Al-Bayt-Stadion geht es raus aus der Millionenstadt Doha ins karge Niemandsland der Wüste. Ägyptische Kollegen im Medienbus reden die deutsche Mannschaft auch bei diesem Turnier in den Kreis der absoluten Topfavoriten. Die Klimaanlage dröhnt bedrohlich auf Eisschrankniveau, Journalistinnen und Journalisten mummeln sich ein.

Dann erscheint am Horizont die neu gebaute, hochmoderne Arena. Mitten im Nichts. Der obligatorische Stadion-Stau bleibt auch in Katar nicht aus. Auch Trucks und Pick-Ups mit eigentlich für die Dauer des Turniers von einigen Zufahrtsstraßen verbannten Commercial Vehicles stehen mittendrin in dem Stau, in dem sie nicht sein dürften. An den langen Autoreihen, unter denen sich auch Trucks mit ägyptischen Fahnen gemischt haben, schieben sich auf der rechten Seite immer wieder wichtig aussehende Kolonnen vorbei. Blaulicht, Motorräder, dicke SUVs mit getönten Scheiben.

Manchmal prescht ein roter Polizeiwagen vorbei. Unter den unzähligen Polizeiarten Katars gehören sie zu denen ganz oben im System. Auch sie haben andere Autos im Schlepptau. Einige Autofahrer nehmen ihr Glück in die eigene Hand, stellen sich quer auf die Fahrbahn und kommen natürlich auch nicht weiter. Alles steht still.

Die Zeit zur Eröffnungsfeier tickt runter. Das Zelt in der Wüste ist weithin sichtbar, doch unerreichbar, wird manchmal von einem Sandsturm umhüllt, ein Hubschrauber lässt seine Rotorblätter aufheulen und beobachtet die Szenerie von oben. Autotüren öffnen sich und spucken Menschen aus, die sich auf den Fußmarsch durch die Geröllwüste machen. In der Ferne winken und trillern und organisieren irgendwelche Polizisten den Verkehr. Kommt man ihnen dann aus der Wüste kommend näher, lächeln sie und weisen den Weg in Richtung Stadion. Immer mehr begeben sich auf den langen Marsch durch die Wüste.

Unzählige Helfer, Polizisten, Fragen - keine Antworten

Grelles Scheinwerferlicht flankiert die letzten Meter. VVIPs, VIPs und Medien in die eine, die anderen Zuschauer in die andere Richtung. Überall stehen die angeheuerten Hilfskräfte, überall stehen die schon lange bekannten Polizisten in Trainingsanzügen, die einen bald in die eine und dann in die andere Richtung schicken. Mit Lautstärke, Hektik und strenger Miene blockieren sie Wege, erfinden Umleitungen.

Die Menge an Hilfsarbeitern, an Aushilfspolizisten, an echten Polizisten, an Volunteers lässt das Chaos ins Unermessliche steigen. Es wird in offensichtlicher Willkür bewacht, geordnet, durcheinandergewirbelt, mit Trillerpfeifen in Aufregung versetzt. Viele der eingesetzten Hilfskräfte wirken wohl nicht nur so, als ob sie zum ersten Mal an diesem bestimmten Ort sind. Überfordert, ohne Plan, ohne überhaupt nur eine Idee, wo sie sich gerade befinden.

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Der Einlass scheint dieses Mal gut geregelt, im Gegensatz zum Fanfest, wo es am Vortag zu tumultartigen Szenen und Panik kam. Schade: Vor dem Stadion kommt es kaum zu Fankontakt, die Eingangsbereiche liegen alle weit entfernt voneinander. Der Weg zurück gestaltet sich ungleich schwerer. Während erst die Kronprinzen-Kolonne der Saudis vorbeirast und kurz darauf der Emir im Heli abdüst, stehen die Medienschaffenden in langen Schlangen und warten mehr als eine Stunde auf den Bus. Aber siehe da: In der Metro gibt es kurz vor Mitternacht dann doch noch Gesänge und Trommeln. Es sind Fans in Ghana-Trikots, die sich auf das erste Spiel gegen Portugal am Donnerstag freuen.

Jeder Schritt in die vielen Fassaden dieser Fußball-WM wirkt wie ein Schritt in eine ausgehöhlte Filmkulisse, die jeden Moment kollabieren könnte. Jeder Schritt in die vielen Fassaden dieser Fußball-WM ist ein Schritt in das große Chaos. Jeder Schritt in die vielen Fassaden dieser Fußball-WM wirft neue Fragen auf und über allem schwebt der bittere Gestank des Größenwahns, des Todes und der Unterwerfung der Menschen.

Quelle: ntv.de

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