Das Tagebuch zur WM in Katar Metallgitter brechen den Willen der WM-Besucher

Diese vier Katarer haben es hinter die Metallgitter geschafft.

Diese vier Katarer haben es hinter die Metallgitter geschafft.

(Foto: IMAGO/Offside Sports Photography)

Am Vorabend der Fußball-WM bereitet sich Doha auf das laut FIFA-Präsident Gianni Infantino schon wieder beste Turnier aller Zeiten vor. Die Besucher bekommen einen ersten Eindruck vom Katar-Kapitalismus, der den Willen der Menschen bricht, sie zu einer willenlosen Einheit werden lässt.

Herzlich Willkommen in Doha, liebe Leserinnen und Leser. Herzlich Willkommen in der katarischen Hitzekammer. Bereits am Flughafen schlagen die hohen Temperaturen drückend ins Gesicht. Die Schwüle legt sich als warm-feuchter Umhang um die Schultern. Dabei ist es 20.30 Uhr am Abend. Und Ende November. Die 30 Grad Celsius sind dennoch eine viel stärkere und drückende Hitze als in Deutschland. Schon nach wenigen Minuten im Wüstenstaat kann man erahnen, wie immens die Temperaturen im Sommer sein müssen und wie unglaublich belastet der Körper von körperlicher Arbeit, etwa auf einer WM-Baustelle, sein muss (natürlich ohne das auch nur irgendwie wirklich nachempfinden zu können).

Im Flugzeug herrscht WM-Ernüchterung, am Flughafen ebenso. Die meisten Passagiere wollen weiter. Es geht nach Bali oder Vietnam. Ein Bild, das sich wiederholt in den monumentalen Hallen und Gängen (blitzeblank) der neu gebauten U-Bahn und in vielen der Züge (ohne Lokführer, auf den vordersten Plätzen können Frauen und Männer ihre Mädchen- und Jungenträume erfüllen): Fanscharen? Fehlanzeige. Aber es ist ja auch noch ein Tag hin bis zum Eröffnungsspiel. Was nicht ist, kann noch werden. Etwa beim Start des Fanfests, dazu später mehr.

Zunächst einmal wirkt alles bereit für die Massen. Vornehmlich elend lange, von Gittern gesäumte Schlangenlinien. In diesen stehen jedoch wohlgemerkt keine Massen, weil diese eben (noch) nicht da sind. Die unzähligen Helferinnen und Helfer (meist aus Indien), Volunteers und Aushilfspolizisten (Tournament Security Force, bisher nur Männer) proben aber mit jedem einzelnen den Ernstfall. Und so geht es vor dem Betreten eines U-Bahnhofs oder auf dem Weg zu einer Bushaltestelle in der Innenstadt - links, rechts, links, noch eine Kurve, hier eine weitere Pirouette, und dann ein abschließender langer Bogen - durch das Zaun-Labyrinth. Die neue Wüsten-Odyssee dort, wo einst Wüstensand herrschte und nun Betonbauten mit riesigen Glasfronten gen Himmel wachsen.

Keine freien Entscheidungen

Generell stellt Katar für die WM-Besucherinnen und -Besucher Kilometer um Kilometer Metallabsperrungen auf. Jeder Weg scheint klar vorgegeben. Wer zweifelt, wird innerhalb von einer Zehntelsekunde von einem der zehn Helferinnen oder Helfern in der Umgebung freundlich, aber konsequent in die richtige Richtung geschickt. So langsam gewöhnt sich der Kopf an diese Anleitungen. Sie sickern von Mal zu Mal mehr ins Gehirn ein. Es ist fast, als verliere man ein wenig die eigene Orientierung, ja gar den Willen. Als gebe man - quasi freiwillig - die Selbstbestimmung mehr und mehr ab und treibe wie ein Schaf in der Herde mit. Haben die Machthaber hier einen besonders schlauen Herrschaftsplan ausgeheckt?

Alkohol, diesen alten Ersatz-Aufreger, gibt es natürlich in einer entlegenen Ecke des FIFA-Medienzentrums. Auf einer mit bunten Sitzsäcken drapierten Grünfläche namens Oase ist eine kleine Bar aufgebaut. Das Budweiser zu 40 Riyal, knapp 10,50 Euro. Kauft aber niemand. Zu sehr beschäftigt Infantinos Rede die Reporter, die seine Worte in den entlegensten Winkel der Welt senden. Ob das die Menschen auf dem Fanfest stört? Vielleicht sind sie schon längst gebrochen. Durch den Al Rumailah Park, durch den Al Bidda Park geht es in einer langen Prozession vorbei an abgesperrten Grünflächen, immer angetrieben von den Helfern mit Papphänden, Leuchtstäben und Megafon. Ausbrechen aus der Masse ist nicht. Von hier ist das Fest über eine Brücke zu erreichen. Doch niemand darf hinein.

Gianni Infantino ist natürlich auch zum FIFA-Fanfest gekommen. Denn er ist Fan der FIFA.

Gianni Infantino ist natürlich auch zum FIFA-Fanfest gekommen. Denn er ist Fan der FIFA.

(Foto: IMAGO/Agencia MexSport)

Anders ist es auf der Corniche-Seite. Aus der U-Bahn-Station nahe dem Wasser strömen die Fans über die Straße. "Exit only", krakeelt ein Megafon in Dauerschleife. Ein Helfer hält es. Hier kommt niemand rein. Vor den gigantischen roten Toren des Fests sitzen ein paar Fans. Argentinier, Tunesier, Brasilianer, Südkoreaner, Gastarbeiter, ein paar Teenagerinnen in Hot Pants und mit Spaghettiträgern. Europäer sind kaum zu sehen. Ein paar England-Fans, Spanier, Waliser und nur ganz wenige Deutsche. Einer, im Götze-Trikot, zeigt seine Regenbogenbinde. Den ganzen Tag getragen, sagt er, nur hier nicht. Weil politische Symbole auf dem Fanfest nicht erlaubt sein. Sonst aber auch nichts passiert. Ein Mexikaner trägt eine Regenbogenperücke.

Auch Lothar Matthäus ist gekommen

Über der großen Betonfläche schwirren grün und rot blinkende Drohnen, Überwachungskameras sind omnipräsent, Einpeitscher treiben die Massen durch die Tore und in die Sicherheitskontrollen. Manche rennen, aus Angst, irgendwas zu verpassen. Auf dem Fest ist die Stimmung ausgelassen. Mexikaner mit ausladenden Hüten, immer wieder Tunesier. Auch Jude Bellingham ist gekommen. Als Werbefigur vor einer Arena eines Sponsors überstrahlt sein überlebensgroßer Körper einen Teil des Fests. Der DJ spielt das, was man so spielt. Best of Bravo Hits, The Final Countdown. Lange Schlangen vor den Ständen. Gitter weisen den Weg. Hinter dem Pressezelt steht ein riesiger Aschenbecher, daran gekettet: Feuerzeuge. "Es ist doch verrückt", sagt einer: "Rauchen ist okay, aber Alkohol nicht?" Auf dem Gelände präsentieren die Zuschauer stolz ihr Bier.

Wieder raus. Bevor Gianni Infantino kommt. Er wird gleich reden. Die versammelten FIFA-Altstars um Lothar Matthäus werden den Weltpokal präsentieren. Gute Laune. "Exit only", krakeelt das Megafon immer noch. Die U-Bahn-Station Corniche bleibt geschlossen. Daneben gleich eine tolle Foto-Möglichkeit für die Generation Instagram. Ein kleiner, mit Regenschirmen überspannter Weg. Alle machen Bilder. Keine Polizisten hier. Nur ein paar Überwachungskameras.

"Du kannst mir vertrauen!"

Am Ende der West Bay thronen die Wolkenkratzer. Einer ist in den Farben der katarischen Flagge beleuchtet, die Commercial Bank zeigt alle Teilnehmerländer als Lichtinstallation, und dahinter stehen die Türme von Qatar Energy, die in dieser künstlichen Glitzerwelt auf Steroiden alles überragen. Unten auf dem Boden wieder Metallgitter, die Wege versperren. Die einen brechen und verzweifeln lassen. Aus einem Kilometer Luftlinie werden fünf Kilometer Fußweg. "Mein Name ist Clive! Du kannst mir vertrauen", sagt ein Helfer zu einer verzweifelten Britin, die von Gitterschlange zu Gitterschlange stolpert. "Da hinten fährt der Bus." Fährt er nicht. Immer wieder Umwege, die nirgendwo hinführen.

Niemand weiß, wo ein Bus fährt, obwohl auf der anderen Seite der Gitter ständig Busse fahren. Ein paar Arbeitsmigranten gehen mit großen Keschern und in blauen Arbeitsanzügen in die Gegenrichtung. Über dem Wasser erleuchtet ein Feuerwerk die Dunkelheit. Im Mittelpunkt ein riesiger Feuerring. Er spuckt in allen Farben. Irgendwo fährt ein Bus. Am Old Port Doha ankern Kreuzfahrtschiffe. Die Polizei patrouilliert auf den Gewässern. Über der Bucht dreht eine Maschine von Qatar Airways in Richtung Osten ab. Am Flughafen landet der saudische Prinz Mohammed bin Salman. Alles ist erleuchtet. Grelles Licht verhüllt die Dunkelheit. Der Vorabend der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar.

Quelle: ntv.de

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