Fußball

Grausame Schmerzen - und Applaus Als die DFB-Elf mit dem 7:1 eine gesamte Nation verletzte

Jung und Alt waren zutiefst betrübt nach dem 1:7 aus brasilianischer Sicht.

Jung und Alt waren zutiefst betrübt nach dem 1:7 aus brasilianischer Sicht.

(Foto: imago/Action Plus)

Surreal. Obszön. Demütigend. Das historische 7:1 schickt Brasilien vor zehn Jahren in einen Strudel der Trauer und hinterlässt bleibende Narben. Dennoch gibt es besonderen Applaus. Eine Dekade später erlebt die DFB-Elf selbst eine der bittersten Pleiten in der deutschen Historie.

Finden neue Wortschöpfungen den Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch einer gesamten Nation, verfestigen sie sich in einer Kultur, müssen sie besonders sein. Das war der Fall, als vor zehn Jahren die deutsche Nationalmannschaft Fußball-Geschichte schrieb - und Brasilien am 8. Juli 2014 eine der verheerendsten Niederlagen im Fußball zufügte.

Im Ausrichterland der damaligen Weltmeisterschaft ist das Ergebnis "7:1" (portugiesisch: sete a um) zu einer Metapher für etwas Schlechtes geworden, das einem widerfährt, während "Tor für Deutschland" (gol da Alemanha) als Ausruf nach einem Missgeschick verwendet wird. Zehn Jahre vor dem bitteren Last-Minute-Aus bei der Heim-EM gegen Spanien, einer der schmerzhaftesten Niederlagen in der DFB-Historie, feierte die deutsche Nationalelf einen ihrer eindrucksvollsten Siege. Grauen und Leid gab es ebenfalls, doch damals aufseiten des Gegners: Sieben Treffer und die wohl verblüffendsten 90 Minuten, die eine WM je gesehen hat, zerstörten damals einen großen Traum und verletzten - unabsichtlich, versteht sich - ganz Brasilien.

Müller (11.). Klose (23.). Kroos (24.). Kroos (26.). Khedira (29.). Schürrle (69.). Schürrle (79.). Liest sich wie Videospiel, sah aus wie Videospiel. Sieben Tore in einem WM-Halbfinale gegen Brasilien. Das ergab keinen Sinn. Das war surreal. Obszön. Der Ehrentreffer von Oscar kurz vor Schluss in Belo Horizonte änderte an einem der größten Siege in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften und an der vernichtenden Pleite nichts. Brasilien weinte, Deutschland jubelte, die Welt rieb sich wunderlich-begeistert die Augen.

"Es tut mir leid für alle Brasilianer"

Rein sportlich hatte kein Fußballfan, kein Sportfan, weltweit je so etwas auf der größten aller Bühnen gesehen. War das wirklich passiert? Konnte ein fünffacher Weltmeister, die erfolgreichste Nationalelf weltweit, überhaupt derart unter die Räder kommen? Und das im vor Fußballstolz strotzenden Heimatland?

Nie zuvor hatte ein Gastgeber ein WM-Spiel mit mehr als drei Toren verloren. Brasilien hatte nur einmal in seiner erfolgreichen Fußball-Geschichte sieben Tore kassiert: 94 Jahre zuvor. Noch nie hatte eine Mannschaft in einem WM-Spiel innerhalb von sechs Minuten vier Tore erzielt oder innerhalb von 30 Minuten mit 5:0 geführt. Angelehnt an "Mineirão", ein Kosename für das Stadion in Belo Horizonte, wurde die Pleite in Brasilien zum Mineiraço, zum "Schock von Mineirão".

"Ich wollte meinem Volk nur ein wenig Glück schenken. Meinem Volk, das schon so viel leidet", sagte ein tränenüberströmter David Luiz, als die nationale Nachbetrachtung des Mineiraço begann. "Leider konnten wir es nicht tun. Es tut mir leid, für alle. Es tut mir leid für alle Brasilianer." Diese Niederlage war so schockierend, dass der Präsident des Landes danach auf Twitter versuchte, die Stimmung zu heben. Er drückte seine Traurigkeit aus, forderte seine Bürger aber auf, "aufzustehen, den Staub abzuschütteln und darüber hinwegzukommen".

Die Presse überschlug sich förmlich nach diesem noch nie dagewesenen Ereignis. Die brasilianische Tageszeitung "Folha de São Paulo" berichtete von einer "historischen Schmach", "O Globo" von einer "beschämenden Leistung und "O Estado de Minas" wurde martialisch und sprach vom "größtem Massaker in [der] Historie [der Seleção]". Selbst das "Time"-Magazin schrieb damals: "Der brasilianische WM-Traum endete nicht nur im Halbfinale, er wurde spektakulär in winzige gelbe Stücke zerschlagen."

Vergleich mit dem 11. September

In einem Interview mit einem brasilianischen TV-Sender verglich der Technische Direktor des brasilianischen Verbandes, Carlos Alberto Parreira, das Debakel gar mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York: "Du glaubst es nicht, es ist genau wie damals mit den Zwillingstürmen. Du siehst, wie der erste Turm zerstört wird, danach der zweite. Es sah aus wie eine Fiktion, war nicht real. Es ging alles sehr schnell, es gab keine Zeit zu reagieren."

In Deutschland fragte die "Süddeutsche Zeitung": "Ist das wirklich wahr?" Die Frankfurter Rundschau sah "einen Sieg für die Geschichtsbücher" und England-Ikone Gary Lineker, der seine ganz eigene Beziehung zur Bundesrepublik hat, bezeichnete die Begegnung als "das außergewöhnlichste, atemberaubendste und verwirrendste Spiel, das ich je erlebt habe."

"Am Tag des Weltuntergangs, den die Brasilianer gestern ohne Frage bereits zu erleben glaubten, wird man sich noch an dieses Halbfinale erinnern", schrieb das französische Sportmagazin "L'Equipe". Und Star-Trainer José Mourinho meinte: "In 50 Jahren werden die Kinder [immer noch] wissen, dass Brasilien zu Hause mit 1:7 gegen Deutschland verloren hat." Wie recht beide mit dieser Aussage hatten. Der 8. Juli 2014 wurde zum Tag, den in Brasilien und Deutschland nie jemand vergisst.

Auch Neymar wird wohl zehn Jahre später an das Debakel denken. Nach Deutschlands siebtem Tor schaltete der traurige und verzweifelte Superstar, der die Partie verletzt verpasste und zu Hause mit seiner Familie am Fernseher schaute, das Spiel ab und ging stattdessen zum Pokern. Luiz Felipe Scolari nannte es den "schlimmsten Tag seines Lebens" und trat nach dem Ende der Weltmeisterschaft 2014 zurück.

DFB-Team erntet Applaus für Verhalten

Für die Elf von Bundestrainer Joachim Löw war das 7:1 ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum späteren Titel. Den vierten Stern hätte es ohne das erspielte Selbstvertrauen vielleicht gar nicht gegeben. Und die schockierten brasilianischen Fans applaudierten den Deutschen am Ende für die außerordentliche Leistung und drückten dem DFB-Team im Finale gegen Erzrivale Argentinien die Daumen.

Vor allem, weil Klose, Kroos und Co. nicht überbordend feierten, nachdem klar wurde, dass die Partie in eine historische Klatsche ausarten würde. Sie spürten, dass es in Belo Horizonte um mehr ging als um ein WM-Halbfinale. Dass sie ihren Torjubel dämpfen sollten, als wohnten sie einem feierlichen Staatsbegräbnis bei. Dass sie kein Salz in die frische Wunde einer ganzen Nation streuen sollten. In der Halbzeitpause warnte der damalige Bundestrainer Joachim Löw, der 2006 als Co-Trainer miterlebt hatte, wie schmerzhaft es ist, ein WM-Finale im eigenen Land zu verpassen, vor Arroganz gegenüber dem Gegner. Ein feiner Zug der deutschen Mannschaft, die international zuvor eher als erbarmungslos, emotionslos und eisenhart angesehen wurde.

Für Brasilien brachte das 1:7 dennoch unvorstellbares sportliches Leid. Der Seleção ging etwas verloren, eine Wunde klaffte auf, die vielleicht nie wieder komplett geheilt werden kann. Der fünffache Weltmeister galt als die dominanteste Fußball-Nation aller Zeiten, die Pleite wurde zum Zeitenwechsel. Zur Neuausrichtung der Macht auf dem Rasen. Seit 2014 fehlt der brasilianischen Elf der Angstfaktor und die Stärke einer Nation, die Weltmeisterschaften mit "o jogo bonito" dominiert und gewonnen und einige der besten Spieler des Sports hervorgebracht hatte.

Anschließend konnte sie bis auf die Copa América 2019 nichts mehr gewinnen. Bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften war jeweils im Viertelfinale Schluss. Der letzte WM-Titel ist 22 Jahre her. Mancher Fan verlor sogar das Interesse an der Seleção. Die sieben Sargnägel sorgten dafür, dass heute von Porto Alegre über Rio de Janeiro bis Belém manchmal andere Nationalmannschaften angefeuert werden und sich über eine Pleite des eigenen Teams lustig gemacht wird.

Eine Narbe bleibt zurück

Der kollektive Schock, der Brasilien damals erschütterte, ist nur im Kontext des Wettbewerbs und des Landes wirklich zu verstehen ist. Die Blamage tat so sehr weh, weil sie so unerwartet kam - obwohl mit Neymar der beste Mann und mit Thiago Silva der Abwehrchef fehlte. Die Seleção war voller Zuversicht in das Turnier gegangen, der technische Direktor Parreira sagte gar, sie hätten "eine Hand am Pokal", als sich die Mannschaft zur Vorbereitung traf.

Ferner war bis dato die persönliche Identifikation der Fußballfans mit ihrer Mannschaft und deren Leistungen in kaum einem Land größer und emotionaler als in Brasilien. Beim Heim-Turnier machte sich ein riesiger Hurrapatriotismus breit, obwohl 2013 massive politische Unruhen und Proteste Korruption, soziale Missstände und die 14 Milliarden Dollar attackierten, die für die WM ausgegeben wurden, während Millionen von Brasilianern in Armut in Favelas lebten.

Im Kopf bleiben auch Bilder von verzweifelten Fans auf den Tribünen in Belo Horizonte. Hier ein niedergeschlagener älterer Mann mit einer WM-Pokal-Nachbildung, dort ein Junge, der wie ein Schlosshund heult. Bitter, traurig, ikonisch. Zehn Jahre vor dem dramatischen EM-Aus gegen Spanien zauberte die deutsche Nationalelf - mit dem schönen Spiel, mit Joga Bonito, wie es im Fußballjargon heute heißt, das ansonsten die Brasilianer mit Stolz gepachtet hatten. Zu allem Übel überholte Klose mit seinem 2:0 auch noch die brasilianische Legende Ronaldo als WM-Rekordtorschütze.

Weil mit der 1:7-Klatsche so vieles zusammenbrach, hatte der Schock auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaft: So fair die DFB-Elf auch jubelte, die Niederlage wurde von vielen Brasilianern als nationale Demütigung und als traumatisches Ereignis empfunden. Als ein Knacks in der kollektiven Psyche. Das Debakel wurde zu einem prägenden Moment in der Geschichte des brasilianischen Fußballs und die sete-a-um-Narbe bleibt bis heute im Sprachgebrauch.

Quelle: ntv.de

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