Ein Fußball-Weltstar tritt ab Toni Kroos zeigt zum Ende noch seine ganz neue Seite

Toni Kroos beendet seine Karriere.

Toni Kroos beendet seine Karriere.

(Foto: IMAGO/Jan Huebner)

Er muss niemandem etwas beweisen und kommt kurz vor dem Karriereende trotzdem zurück: Toni Kroos führt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei seiner Rückkehr bis ins Viertelfinale der Heim-EM. Das ganz große Kitsch-Ende bleibt ihm jedoch verwehrt.

Toni Kroos probiert es noch einmal. Er weiß, das ist die letzte Chance. Ein Freistoß in den letzten Sekunden der Verlängerung gegen Spanien. Noch mal die Hoffnung, vielleicht doch der Ausgleich. Der 34-Jährige kann schon lange nicht mehr laufen. Krämpfe plagen seinen Körper, die Muskeln haben schon vor einer Viertelstunde aufgegeben. Kroos muss sich noch dehnen, bevor er den Ball tritt. Dann läuft er an, schlägt das Spielgerät in den Strafraum. Es senkt sich und landet - in den Armen von Spaniens Torwart Unai Simon. Schlusspfiff.

Das war's. Toni Kroos' letztes Spiel als Profifußballer. Das ganz kitschige Ende bleibt ihm verwehrt. Einer der größten deutschen Spieler, einer der besten Mittelfeldspieler aller Zeiten, verlässt für immer den Rasen. Weltmeister 2014, sechs Champions-League-Siege, Pokalsiege, Meisterschaften, Supercups in Deutschland und Spanien: Auf seinem langen Briefkopf gibt es nur einen Titel, der Toni Kroos fehlt: Europameister. Man könnte diesen Pokal nicht einplanen, sagte er vor einigen Tagen. Nach der 1:2-Niederlage im EM-Viertelfinale gegen Spanien bleibt es dabei.

Spanien - Deutschland 2:1 (1:1, 0:0) n.V.

Tore: 1:0 Olmo (51.), 1:1 Wirtz (89.), 2:1 Merino (119.)
Spanien: Simón - Carvajal, Le Normand (46. Nacho), Laporte, Cucurella - Rodri - Pedri (8. Olmo), Fabián Ruiz Peña (102. Josélu) - Yamal (63. Torres), Williams (80. Merino) - Morata (80. Oyarzabal); Trainer: de la Fuente
Deutschland: Neuer - Kimmich, Rüdiger, Tah (80. Müller), Raum (57. Mittelstädt) - Can (46. Andrich), Kroos - Sané (46. Wirtz), Gündoğan (57. Füllkrug), Musiala - Havertz (91. Anton); Trainer: Nagelsmann
Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Gelbe Karten: Le Normand, Torres, Simón, Rodri, Fabián Ruiz Peña - Rüdiger (2), Raum, Andrich (2), Kroos, Mittelstädt (2), Schlotterbeck, Wirtz, Undav
Gelb-Rote Karte: Carvajal (Spanien) wegen Foulspiels (120.+6)
Zuschauer: 51.000 (ausverkauft) in Stuttgart

Kroos hatte seine völlig neue Seite in dem Spiel von sich gezeigt. Toni, der Zweikämpfer. Eine, die die deutschen Fans noch nicht kannten. Er warf sich in die Duelle, schon früh foulte er Barça-Star Pedri so heftig, dass der verletzt vom Platz muss. Für alle Beteiligten überraschend: Er bekommt nicht dafür schon Gelb, die Karte sieht er erst später. Dass ausgerechnet der Leipziger Dani Olmo für Pedri ins Spiel kam und zum Matchwinner mit Tor und Vorlage wurde, es ist eine tragische Randpointe eines großen Abends. Kroos hatte 102-mal den Ball, 92 Prozent seiner Pässe kamen an, er riss nach Außenverteidiger Joshua Kimmich die meisten gelaufenen Meter ab. Eigentlich hätte er auch noch die Gelb-Rote Karte sehen müssen. Er und alle anderen DFB-Stars auf dem Feld wollten das Aus nicht akzeptieren.

Fast zu kitschig

Die Geschichte, wie Toni Kroos zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft zurückkehrte, überstrahlt die Heim-Europameisterschaft. Der letzte Tanz, der ganz große Abschied: Es hätte die Heldengeschichte werden können. Sein Trikot war das meistverkaufte, seinen Namen riefen die deutschen Fans vor Ecken. Der 34-Jährige, dem die Anerkennung bis kurz vor dem Karriereende verwehrt blieb, streift sich wieder das Trikot der Nationalelf über und führt ein verunsichertes, wachsendes DFB-Team zum Titel: Es blieb zu kitschig, um wahr zu sein.

Dabei war es nicht unmöglich: Bundestrainer Julian Nagelsmann holte Kroos zwischen den Jahren in die Nationalelf zurück. Was als "interessante Idee" begann, wurde der Kern des neuen DFB-Teams. Kroos war nicht nur eng in die Planungen eingebunden, sondern er war das Schaltzentrum dieser Mannschaft: Spielte Kroos schlecht, war alles schlecht. Die Nagelsmänner waren abhängig von ihm. Das klingt nach viel Risiko, war es aber nicht. Denn: Er war der Mitspieler, den jedes Team gern hätte. Wenn alles brennt und es keinen Ausweg gab, konnte man dem Papa den Ball geben. Der kümmerte sich schon um alles. Die personalisierte Aura. Natürliche Autorität.

Es gibt Statistiken, die das untermalen. Kein anderer Akteur in diesem Turnier spielte so viele Pässe, niemand mit mehr als 100 Zuspielen hatte eine vergleichbar gute Passquote. Aber es sind auch die vielen kleinen Szenen, die seinen Einfluss zeigen. Immer wieder erwischte man ihn dabei, wie er beruhigend die Arme senkte. In der chaotischsten Phase im Schweiz-Spiel stand er am Mittelkreis, drehte sich in alle Richtungen und zeigte mehrfach mit einer "Daumen hoch"-Geste: Cool bleiben, Leute, das wird schon.

Audienz beim König

Toni Kroos war der einzige aktive Weltstar, den der deutsche Fußball zuletzt hatte. Lange Zeit wurde er verschmäht, nun, mit seiner Rückkehr, erhielt er Heldenstatus. Vielleicht manchmal auch zu viel. Wenn Kroos in der großen DFB-Presseturnhalle in Herzogenaurach zu Gast war, um seine Audienz vor den Journalistinnen und Journalisten zu halten, waren nicht nur viele internationale Kolleginnen und Kollegen da. Er kam auch immer zu spät. Weil er es eben konnte.

Vor dem Spanien-Spiel, als Kroos das zweite Mal zur Pressekonferenz kam, versammelte sich eine kleine Traube Autogrammjäger vor den Absperrungen des Medienzentrums, deutlich mehr als bei den anderen DFB-Stars. Sie kamen ihrem Helden nicht nahe, natürlich nicht. Aber sie beobachteten ihn, wie er Interviews gab. "Du, ich hab' mir den Toni Kroos gerade von hinten angeschaut", sagte eine Frau aufgeregt ins Handy, ehe sie dann doch wieder vom Zaun des Medienzentrums verschwand.

Es war keineswegs eine logische Entwicklung, dass Kroos irgendwann diese Anerkennung in der Nationalelf erfahren würde. Weder von den Fans noch aus der DFB-Elf. Dabei spielte er beim WM-Triumph 2014 in Brasilien jede Sekunde. Er erzielte beim 7:1 im Halbfinale gegen den Gastgeber den bis heute schnellsten Doppelpack der Turniergeschichte. Doch im kollektiven Gedächtnis ist er keiner der Helden. Dort landeten Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil oder Manuel Neuer. Selten aber Toni Kroos, der einzige Fußball-Weltmeister, der in der DDR geboren ist.

Vier Jahre später blieb er - wie das gesamte Team - weit unter seinen Möglichkeiten. Der Mittelfeldstratege schenkte der DFB-Elf beim zweiten Spiel gegen Schweden zwar noch Hoffnung, traf er doch in der Nachspielzeit zum Sieg. Nur half es nichts: Die Nationalelf schied nach der Niederlage gegen Mexiko in der Gruppenphase aus. Das historische Debakel von Russland - erstmals schied die stolze Fußballnation Deutschland in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft aus. Das Team von Bundestrainer Joachim Löw verlor sich in seinem furchtbar ineffizienten Ballbesitzfußball. In dessen Herzen schaltete Toni Kroos, er passte den Ball von links nach rechts und wieder zurück. Sein Name war mit dem Scheitern verbunden.

Es war nicht das erste Mal, dass er unter den Entscheidungen seines Trainers litt. Im EM-Halbfinale 2012 sollte er, der nun wirklich andere Qualitäten hat, Italiens Strategen Andrea Pirlo bewachen. Das ging bekanntlich schief. Löw zwängte Kroos dann bei der Corona-EM 2021 in eine Doppelsechs mit İlkay Gündoğan - und tat beiden keinen Gefallen damit. Das Duo war konteranfällig, es funktionierte nicht. Zusammen mit Löw endete damit auch im Achtelfinale vorerst die DFB-Karriere seines einflussreichsten Spielers: Toni Kroos. "106-mal habe ich für Deutschland gespielt, ein weiteres Mal wird es nicht geben", schrieb er zu seiner Entscheidung. "Den Entschluss, nach diesem Turnier aufzuhören, hatte ich schon länger gefällt. Es war mir schon länger klar, dass ich für die WM 2022 in Katar nicht zur Verfügung stehe."

Gleichmut beim DFB, Verehrung bei Real

Das Verrückte ist, dass es diesen Toni Kroos, der in seinem Spätwerk das DFB-Team lenkte, schon seit mehr als zehn Jahren gab. So lange war er Teil des Maschinenraumes von Real Madrid. Dorthin war er gewechselt, nachdem ihn der FC Bayern verscherbelt hatte. Bei den Münchnern und vor allem Uli Hoeneß bekam er, Achtung, es wiederholt sich, kaum Anerkennung - trotz des Triples 2013.

Kroos' Spielweise entsprach nie den "deutschen Tugenden". Er war nicht schnell, kein Zweikämpfer, selten war sein Trikot voller Blut oder Rasenflecken. Stattdessen streichelte er den Ball, sah Räume, die andere nicht sahen. In Spanien erkannte man das früher. Mit den Jahren passte er sich an. Er arbeitete vergeblich an seinem Tempo, wurde aber im Karriereherbst deutlich physischer. An diesem lauen Sommerabend in Stuttgart zeigte er es auch endlich mal den deutschen Fans.

In Madrid hatten sie ihn indes verstanden. Fünf Champions-League-Titel und 464 Pflichtspiele machten ihn zur Ikone bei den Königlichen und seinen letzten Auftritt im Santiago Bernabéu hochemotional: Die Fans verabschiedeten ihn mit einem Banner. Sie applaudierten, sie hielten sein Trikot hoch, sie weinten. Seine Teamkameraden schickten Herz-Emojis und Trauersmileys in die Welt. Und Trainer Carlo Ancelotti huldigte einem der besten Mittelfeldspieler aller Zeiten, wie er es selbst sagte.

Nagelsmann orientiert sich an der Idee von Real Madrid

Kroos funktionierte bei Real deshalb so gut, weil Ancelotti das richtige Mittelfeld um ihn herum baute. Wie ein Quarterback beim Football benötigt er Unterstützung. Lange Zeit hatte er den brasilianischen Personenschützer Casemiro an seiner Seite, der seine defensiven Schwächen ausglich. Nagelsmann ließ sich von dem Real-Konstrukt inspirieren. Der Bundestrainer stellte ihm einen deutschen Casemiro beiseite. Der Arbeiter, "Worker" im Nagelmannschen Wörterbuch, war Robert Andrich. Er übernahm die Schwerstarbeit und räumte die Zweikämpfe ab. Die Symbiose klappte: Der eine grätschte, der andere dirigierte mit den Füßen.

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Erst vor wenigen Wochen, fast hätte man es vergessen, gewann Kroos mit den Madrilenen zum letzten Mal die Königsklasse. "Das ist toll und schade zugleich", sagte er vor der Heim-EM schon in Herzogenaurach. Den Triumph konnte er nur kurz genießen, wenige Tage später musste er zur Nationalelf, die EM vorbereiten. Das war ihm vorher bewusst. Er wäre nicht zurückgekommen, wenn er nicht an den Titel geglaubt hätte, das hat er mehrfach klargestellt. Für die großen Spiele war er zurückgekehrt, gegen Spanien war es das. Die Katastrophe hätten sie schon vermieden, sagte Kroos. Ob es ohne ihn auch geklappt hätte, niemand wird es je wissen.

Kroos sagte lange vor dem Spiel, dass er nicht nostalgisch sei. Weil eben er das Ende seiner Karriere aussucht. Nicht sein Körper zwingt ihn dazu, der Kopf entscheidet das. Das stimmt nicht ganz. Am Ende waren es die Spanier, die mit ihren zwei Toren die Karriere von Toni Kroos beendeten.

Quelle: ntv.de

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