Fußball

Die WM-Peinlichkeit von Palermo Der herzzerreißende Untergang Italiens

Incredibile!

Incredibile!

(Foto: IMAGO/LaPresse)

Im Jahr 2006 gewinnt Italien die Fußball-WM. Es ist tatsächlich das bisher letzte K.-o.-Rundenspiel der Azzurri bei der interkontinentalen Meisterschaft - und dabei bleibt es. Gegen Nordmazedonien verspielt der Europameister sein Ticket für die WM in Katar.

Nordmazedonien. NORDMAZEDONIEN. NORDMAZEDONIEN! Das Land, das sich mit Vorliebe darum kümmert, Legende des Fußballs zu stürzen, hat wieder zugeschlagen. An diesem Donnerstagabend. In der 92. Minute. In Palermo. Ein Schuss aus 20 Metern bricht Italien das Herz. Aleksandar Trajkovski, der zu allem Überfluss einst in Palermo unter Vertrag stand, hatte das Tor erzielt, das sein Land in den Playoffs um ein WM-Ticket für Katar hält und das Italien in die nächste schwere Fußball-Depression stürzt. 256 Tage nach dem sensationellen EM-Triumph in London schlagen die Azzurri nach monatelangem Schwächeln knallhart auf. Zum zweiten Mal nacheinander wird eine Weltmeisterschaft ohne Italien stattfinden. Eine fußballerische Apokalypse.

Und wohl keine Mannschaft auf der Welt zelebriert seinen sportlichen Untergang so herzzerreißend wie das Team von Nationaltrainer Roberto Mancini. Mit jedem Angriff, mit dem Schuss in diesem völlig einseitigen Spiel wurde die Verzweiflung der Italiener größer. Wie die Wahnsinnigen rannten sie die Gäste an, 32-mal versuchten sie sich am Torschuss (Nordmazedonien probierte es viermal), 16 (zu null) Ecken segelten in den Strafraum. Der Ertrag: null. "Incredibile" (unglaublich), fand der "Corriere dello Sport" und wütete: "Die Nationalmannschaft nicht bei der Weltmeisterschaft, der italienische Fußball erreicht sein niedrigstes Niveau aller Zeiten."

"Incredibile", ein Wort als Gefühl einer ganzen Nation. Der Traum von Katar (wenn die Teilnahme an der WM in Katar ein Traum sein kann) geplatzt. Gegen einen Zwerg! Zumindest muss sich Nordmazedonien so anfühlen. Für Italien, für diese Fußball-Nation, die in der kollektiven Wahrnehmung entweder vor Stolz kaum laufen kann oder hemmungslos leidet. Die "Gazzetta dello Sport" jammerte: "Lebewohl WM, Lebewohl EM, Lebewohl Alles."

"So wie die EM die schönste Erfahrung meines Lebens war, war dies die größte Enttäuschung", stotterte Mancini. "Wir können nichts sagen, das ist der Fußball. Manchmal passieren unglaubliche Dinge und es ist passiert." Ein womöglich kleiner Trost: Auch Deutschland, der ewige europäische Rivale, war von Nordmazedonien einst böse erwischt worden. Auf der Zielgeraden seiner Bundestrainer-Karriere kassierte Joachim Löw Ende März mit dem DFB-Team in Duisburg eine peinliche 1:2-Blamage. Der Unterschied (I): sportlich hatte das Debakel keine Folgen. Die Qualifikation für Katar gelang ohne Umwege (indes erst unter Löws Nachfolger Hansi Flick). Der Unterschied (II): Deutschland spielte damals richtig schlecht, Italien nun nicht.

Keine Tore, keine Träume

Aber die bittere Wahrheit im Fußball lautet eben: Keine Tore, keine Träume. Wie dramatisch es um die Versuche der Italiener stand, die an diesem Abend im 60. Heimspiel einer WM-Qualifikation ihre erste Niederlage (!) kassierten, lässt sich in eine Szene verdichten. Als Nordmazedoniens Torwart Stole Dimitrievski einen Ball nach 30 Minuten direkt in die Füße von Domenico Berardi spielt, muss der Stürmer den Ball eigentlich nur noch ins leere Tor schieben, doch sein Schuss ist so erbärmlich, dass Dimitrievski zurück in den Kasten eilen und den Rückstand verhindern kann. "Incredibile". Immer wieder. Mindestens. "Wir sind enttäuscht, gebrochen, am Boden zerstört", sagte Routinier Giorgio Chiellini, der bei Trajkovskis historischem Schuss seltsam unentschlossen wirkte.

Wo waren sie in den vergangenen Monaten nur, diese Italiener, die bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr so erstaunlich, beeindruckend, manchmal magisch aufgespielt hatten? Die dem Catenaccio, dem nationalen Heiligtum, abgeschworen, sich von der hohen und reinen Defensivkunst abgewendet und spektakulären Fußball gespielt hatten. Schnell, kreativ, meistens schnörkellos und extrem effizient. Tja, diese Frage muss nun vor allem Mancini beantworten, dessen Zukunft als Nationaltrainer alles andere als sicher scheint. Ein so peinliches Aus schreit gewöhnlich nach gravierenden Konsequenzen. Mancini wollte kurz nach dem Spiel nicht über einen möglichen Abschied sprechen. "Wir werden sehen - die Enttäuschung ist zu groß, um über die Zukunft zu sprechen. Es ist schwer, an solche Dinge zu denken. Es wird nicht einfach in den nächsten Tagen."

Mancini besitzt noch einen Vertrag bis 2026. Verbandschef Gabriele Gravina sprach sich noch in der Nacht der Blamage für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit aus: "Ich wünsche mir, dass er bei uns bleibt. Wir haben uns für ein Projekt verpflichtet." Auch Kapitän Chiellini sagte: "Wir müssen uns jetzt aufrichten und ich hoffe, dass Mancini bleibt." Wie es um seine eigene Zukunft steht, das ließ er im Unklaren.

Mancini, der angeschlagene Held

Mancini, ausgerechnet er, der doch die zentrale Figur der wundersamen Auferstehung gewesen war. Nach einem Mega-Experiment mit über 70 Spielern hatte er aus dem Land der Leidenden ein Kollektiv aus Abwehrgiganten um die unzerstörbaren Legenden Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini, kluge Strategen und schnellen, trickreichen Offensivkräften geformt. Und was trug diese Mannschaft für einen begeisternden und mitreißenden Geist in sich! Immer nah am Rande der emotionalen Eskalation. Bei der Hymne, bei der Grätsche, beim Dribbling, beim Tor.

Und im Endspiel gegen England hatte ein "Weltidee" des Trainers die Lage zum Guten gewendet. Erst als Lorenzo Insigne, der 163 Zentimeter kleine, schnelle und unberechenbare Dribbler, von Mancini ins Sturmzentrum geschickt worden war, um dort die Abwehrhünen Harry Maguire und John Stones aufzumischen, betraten die Italiener den Pfad zum Miracle. Auf so einen Trichter muss man erstmal kommen. Die Azzurri waren gefährlich, England eingeschüchtert, eingeschnürt und in Wembley im Elfmeterschießen ins ultimative Drama gestürzt.

Die höchste Form des Leidens darf der Europameister nun 256 Tage später für sich Anspruch nehmen. EM-Held Jorginho, der in der Gruppenphase bei den beiden Unentschieden gegen die Schweiz jeweils einen Elfmeter verschossen und dadurch den Gang in die Playoffs mit verursacht hatte, bekannte nun: "Es tut weh, wenn ich daran denke. Es wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Zweimal anzutreten und seinem Team und seinem Land nicht helfen zu können, ist etwas, das ich für immer mit mir tragen werde." Während Italien, das mit dem Finaltriumph 2006 gegen Frankreich in Deutschland tatsächlich sein letztes K.-o.-Spiel bei einer WM bestritten hat, durch die Leere des Leidens taumelt, geht es für Nordmazedonien weiter nach Portugal. Dort kämpft der Außenseiter am Dienstag gegen Cristiano Ronaldo und Co. um das WM-Ticket. Bereit, die nächste Legende des Fußballs zu stürzen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen