Was für ein genialer Trainer Mancinis Sensationsidee rettet Italien
12.07.2021, 07:48 UhrItalien ist Fußball-Europameister. Zur Pause des Endspiels gegen England mag daran allerdings noch niemand glauben. Denn die Mannschaft von Roberto Mancini ist phasenweise völlig überfordert. Doch dann trifft der Trainer eine überraschende Entscheidung.
Roberto Mancini redete und redete. Er schrie quer über das Spielfeld und wann immer möglich, zitierte er einen Spieler zu sich an die Seitenlinie. Immer neue Anweisungen. Immer neue Pläne. Das kannte man so bislang nicht vom Trainer der italienischen Nationalmannschaft. Bislang hatte der 56-Jährige sein Team ja stets mit einem Plan ausgestattet, der funktionierte. Nicht immer perfekt, aber meistens doch gut bis sehr gut. Gegen England aber, im Finale am Sonntagabend, da funktionierte (zunächst) nichts. Sein Gegenüber Gareth Southgate hatte Mancini böse überrascht. Mit einer Systemumstellung und mit Kieran Trippier, der gemeinsam mit Luke Shaw einen sehr hoch stehenden Außenverteidiger gab. Italien war überfordert. Und das massiv. Kannte man so bislang nicht.
Bereits nach zwei Minuten lag die Squadra Azzurra zurück. Trippier hatte an der Strafraumkante unglaublich viel Platz und keinen Gegenspieler, er flankte an den langen Pfosten, wo Shaw unglaublich viel Platz hatte und keinen Gegenspieler. Dropkick, Tor. Wembley eskalierte. Und die Italiener um ihre Abwehrlegenden Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini schauten sich verwundert an. Wenn etwas gegen die konterstarken Engländer besser nicht passiert wäre, dann ein frühes Gegentor. Einen spektakuläreren Auftakt hätte es für dieses Endspiel nicht geben können. Wobei ja manche meinten, dass die Show der Superlative, die sich die UEFA vor dem Anpfiff ausgedacht hatte, schon nicht mehr zu toppen sei. Ja, die UEFA, die hatte sich für diesen Abend noch viele Überraschungen aufgehoben. Tänzer mit Maske! Und Diversitätsreklamen neben Werbeangeboten von Qatar Airways. Plötzlich waren Dinge möglich, die vorher nicht möglich waren. Man muss das nicht verstehen.
Verzweifeltes Ringen um Kontrolle
Nicht verstanden hatten die Italiener nach dem 0:1 dann auch, was der Trainer von ihnen wollte. Mindestens 20 Minuten rannten Mancinis Fußballer hilflos über den Platz, waren bemüht, irgendwie die ständige Überzahl der Engländer im Zentrum und auf den Außenbahnen auszugleichen. Es gelang ihnen nicht. Diese beste Nachricht für die Azzurri: So drückend überlegen die Engländer waren, sie waren nur in Ansätzen richtig gefährlich. Ein zweites Gegentor wirkte zwar immer im Bereich des Denkbaren, aber nie im Bereich des Wahrscheinlichen. Italien mühte sich nach Kräften, irgendwie in dieses Spiel hineinzufinden. Irgendwie Sicherheit zu bekommen. Irgendeine Form von Kontrolle. Bis zur Pause gelang es zumindest, so etwas wie Stabilität aufzubauen.
Und dann kippte das Spiel. Mancini hatte kluge Ideen. Man hätte sich solche klugen Ideen auch von anderen Trainern im Turnier gewünscht. Von einem Joachim Löw etwa. Mancini besetzte das offensive Zentrum mit mehr Leuten. Der zuvor arg alleingelassene Ciro Immobile hatte plötzlich Spielpartner. Mal Lorenzo Insigne. Mal Federico Chiesa. Die Abwehr verteidigte höher und mutiger. Aber den perfekten Plan hatte der Trainer erst gefunden, als er Immobile nach 55 Minuten von seinem Leiden im Zentrum befreite. Der Stürmer erwischte einmal mehr einen fürchterlichen Abend. Es war nicht sein Turnier. Mancini schickte fortan Insigne in die Mitte. Der 1,63 Meter kleine, schnelle und unberechenbare Dribbler sollte es richten. Gegen die Hünen Harry Maguire und John Stones. Darauf muss man erst mal kommen. Aber es war tatsächlich eine Sensationsidee. Denn das Spiel der Italiener war nun kombinationsstark, flexibel und schaffte Räume. Italien war gefährlich, England eingeschüchtert. Und eingeschnürt.
Italien ist plötzlich wieder Italien
Italien war plötzlich wieder das Italien, das bei dieser EM so begeistert hat. Das so eine spektakuläre Geschichte zu erzählen hat. Vor drei Jahren hatte die Mannschaft die Weltmeisterschaft in Russland verpasst. Das Land war am Boden, der Stolz des Teams gebrochen. Mancini übernahm. Er hatte einen Plan. Er testete etwa 70 Spieler, er passte das System auf seine Fußballer an. Er stellte sie auf die Positionen, auf denen sie am besten funktionieren. Man hätte sich solche klugen Ideen auch von anderen Trainern im Turnier gewünscht. Von einem Joachim Löw etwa. Mancini brach mit der italienischen Idee, unbedingt ein Gegentor zu verhindern. Er ließ seine Mannschaft nach vorne spielen, er ließ sie Fußballspielen. Schnell und schnörkellos. Aber er ließ ihr auch ihre Stärke. Er ließ ihr die Leidenschaft am Verteidigen. Was für ein Kollektiv ist daraus entstanden! Immer am Rande der totalen emotionalen Eskalation. Bei der Hymne, bei der Grätsche, beim Dribbling, beim Tor.
Dass der Ausgleich nun nach einer Ecke fiel, dass ihn ein Verteidiger erzielte, es passte zwar irgendwie nicht ins Bild, aber egal. Verdient war das Arbeitstor von Bonucci allemal. Wieder einmal hatte der Gladiator zugeschlagen. So forsch und mutig dieses Italien bei der Fußball-EM war, so wichtig waren noch immer die alten Männer in der Abwehr. Bonucci als Organisator, Aufbauspieler und Torschütze (auch beim Elfmeterschießen). Und Chiellini als Antreiber, als Mann für die gute Laune, für die emotionalen Momente. Italien blieb nach dem Ausgleich im Entscheidungsmodus. England wankte gewaltig, hielt dem Druck aber stand. Bis zum Elfmeterschießen, dort zerbrach die Mannschaft. Drei junge Talente vergaben ihre Chancen. Southgate musste sich für die Wahl seiner Schützen reichlich Kritik anhören. Mancini dagegen setzte auf Bewährtes. Was gegen Spanien im Halbfinale gut war, das sollte auch noch gut sein. Bis auf den ersten Schützen, dieses Mal schoss Domenico Berardi statt Manuel Locatelli, blieb die Reihenfolge exakt die Gleiche. Mit dem wieder guten Ende. Mancini redete nicht mehr. Er genoss. Italien ist Europameister.
Quelle: ntv.de