Fußball

"Rekordinsolvenzmeister" SSV Ulm Ex-Bayern-Trainer führt die Erben Rangnicks zurück in 2. Liga

Große Freude beim sonst so krisengebeutelten SSV Ulm.

Große Freude beim sonst so krisengebeutelten SSV Ulm.

(Foto: IMAGO/Langer)

Die Spatzen fliegen wieder: Dem SSV Ulm gelingt ein sensationeller Durchmarsch und nach 23 Jahren die Rückkehr in die 2. Bundesliga. Die Euphorie in der schwäbischen Stadt ist riesig und weckt Erinnerungen an kultige Zeiten.

Mitunter ist es hilfreich, Klischees zu durchbrechen. Also räumen wir gleich zu Beginn eines zur Seite: Nicht alle Schwaben können besonders gut mit Geld haushalten. Ein Beispiel dafür ist der SSV Ulm, der in den vergangenen Jahrzehnten dem Abgrund wegen Finanzproblemen gefährlich nahe kam.

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Umso erstaunlicher ist das, was in der schwäbischen Provinz gerade passiert. Es ist nicht weniger als eine Auferstehung, die auf viel Gegenliebe stößt. In der Stadt, in der Albert Einstein geboren wurde, die Donau fließt und der welthöchste Kirchturm steht, ist für viele dennoch klar: Größter Stolz und Ausrufezeichen ist und bleibt der Schwimm- und Sportverein Ulm 1846.

Leicht gemacht hat es der traditionsreiche Fußballklub der Stadt und den Fans gewiss nicht immer. Verdichtet lässt sich in der Geschichte des Klubs das notorische Auf und Ab, die Tränen der Freude und der Trauer erzählen, wie es so viele Traditionsvereine kennen. Der SSV Ulm ist einer, der oft gestürzt und dann noch immer wieder einmal mehr aufgestanden ist.

Die Riege der schlafenden Riesen

Die Schwarz-Weißen stehen in der Reihe dieser immer wieder taumelnden Klubs. Und nun, im Jahr 2024, hat sich der SSV mächtig berappelt. Wie auch Alemannia Aachen oder Rot-Weiss Essen, die ja auch den Weg in den Profifußball zurückgefunden haben. Allesamt schlafende Riesen, die erwachen. So sieht sich auch der SSV Ulm und so sehen es vor allem auch die Fans, die nun wieder alle zwei Wochen die Kultstätte Donaustadion bevölkern. Und damit dient er als Hoffnungsschimmer für all die anderen, die es nicht geschafft haben. Projektionsfläche der Fußball-Sehnsucht.

Nun also schreiben die "Spatzen" das neueste Kapitel. Durch den 2:0 (0:0)-Heimsieg gegen Viktoria Köln ist der überraschende Aufstieg in die 2. Bundesliga fix. Das Wunder von der Donau perfekt. Der SSV Ulm bringt nostalgische 90er und 2000er Vibes zurück in die Gegenwart, trifft damit ein Nerv vieler Fußball-Romantiker, die allein schon beim Namen Donaustadion Gänsehaut kriegen. Der SSV Ulm hat das Potenzial zum Kult-Klub.

In Ulm und um Ulm herum herrscht wieder große Fußball-Euphorie. In dieser Saison war das Donaustadion erstmals wieder seit dem Millennium ausverkauft. Auch wenn Klub und Fans kurzzeitig nach Aalen ausweichen musste, weil das Donaustadion keine Rasenheizung hat. Erst am 29. Spieltag kehrten die Spatzen zurück ins heimische Nest.

Vor 23 Jahren zuletzt im Bundesliga-Unterhaus

Das alte SSV-Gefühl ist zurück. Die gute Nachricht: Die Lizenz für die 2. Liga hat Ulm bekommen - wenn auch mit einigen Hausaufgaben. Das altehrwürdige Donaustadion muss für die kommende Saison modernisiert werden. In den vergangen beiden Spielzeiten übertraf das Team alle Erwartungen und stürmte zunächst durch die Regionalliga und nun auch als Sensations-Tabellenführer durch die 3. Liga.

Keine Übertreibung: Damit war nicht zu rechnen. Schon die Rückkehr in den Profifußball vor einem Jahr wurde als großer Coup gefeiert. Der minimalistische Ansatz für die Saison 2023/24 lautete daher: Klassenerhalt. Dieser wurde spektakulär verfehlt, denn in der kommenden Saison treten die Spatzen wieder in der 2. Bundesliga an. Endlich wieder 2. Bundesliga.

Das letzte Mal, dass die Ulmer in der zweiten Fußball-Etage angriffen, ist schon 23 Jahre her. Gegner damals unter anderem: Nürnberg, Gladbach, Mainz und die Stuttgarter Kickers. Und manchmal wiederholt sich Geschichte nun doch: Es ist nicht das erste Mal, dass Ulm sich auf einem Durchmarsch befindet. Alles begann mit Ralf Rangnick.

Revolutionär Ralf Rangnick

Anfang 1997 wechselte er vom Erzrivalen SSV Reutlingen (noch so ein gestürzter Traditionsklub aus dem Schwabenland, der wie Pattex in der Oberliga festhängt) an die Donau und ließ fortan neumodischen Fußball à la Rangnick spielen. Viererkette, ballorientiertes Pressing. All das, was heute bekanntes Vokabular ist, war damals der neueste Trend. Geradezu revolutionär. Und dann fruchtete das auch noch!

Ulm stürmte als Meister der Regionalliga Süd (damals die dritthöchste Spielklasse) in die 2. Bundesliga und führte auch dort plötzlich ungeschlagen die Tabelle an. Tabula Rasa auf Schwäbisch. Das "ZDF Sportstudio" lud den Bessermacher Rangnick folgerichtig ins TV-Studio ein und ließ den Trainer ganz Libero-Deutschland seine Viererketten-Vision an einer legendären Magnettafel erklären. Fortan begleitete der nicht immer als Kompliment gemeinte Beiname "Fußball-Professor" den Coach aus Backnang.

Weil alles mit allem zusammenhängt: In Ulm trainierte der 2024 beim Bayern gehandelte Rangnick damals den Noch-Bayern-Trainer Thomas Tuchel, der sich gerade im öffentlichen Zwist mit Bayern-Patron Uli Hoeneß befindet, dem mit Einstein wohl größten Sohn der Stadt.

Der Fluch des Erfolgs

Kurios: Der Erfolg wurde Ulm damals fast zum Verhängnis. In der Winterpause thronte der SSV an der Spitze der 2. Liga - und der "große" VfB Stuttgart schnappte dem Nachbarn kurzerhand den Cheftrainer weg und verkündete den Wechsel von Rangnick in die Landeshauptstadt.

Ulm verhedderte sich daraufhin in einer Sieglos-Serie und trennten sich vorzeitig von Rangnick, der Ende der Saison zum VfB ging (mit überschaubarem Erfolg und inklusive einer Fehde mit Krassimir Balakov). Ulm holte Martin Andermatt als Ersatz und rettete den Aufstieg auf Rang drei ins Ziel. So oder so: eine Sensation. Das kleine Ulm spielte nun in der Bundesliga gegen Bayern, Dortmund und den HSV.

Lange sah es so aus, als mische der Klub auch die Bundesliga weiter auf, zwischendurch war man Europa näher als den Abstiegsrängen. Doch am Ende ging dem Team (auch nach einem 1:9 gegen Leverkusen) die Puste aus, musste als 16. wieder runter.

Abstieg, Insolvenzen, Logo-Streit

Ganz ohne Skandale ging es ohnehin nicht. Der SSV Ulm war im September 1999 Teil einer der denkwürdigsten Bundesliga-Spiele überhaupt. Beim 1:2 gegen Hansa Rostock flogen gleich vier Ulmer Spieler vom Platz. Erst kurz vor Abpfiff kassierte Ulm den entscheidenden Gegentreffer.

Die Gäste tobten, Verteidiger Janusz Gora verdichtete all das Geschehene in Mimik, Gestik und dem legendären Ausruf: SKANDAL, was schnell zum geflügelten Wort wurde. Rostock rettete sich mit drei Punkten mehr als die Ulmer vorerst in der Liga. Und die Spatzen rauschten ebenso steil ab wie sie zuvor emporgeschossen waren. Die nächste Runde rückwärts. Aus der Bundesliga bis in die Regionalliga. Katerstimmung. Aber Ulm wäre nicht Ulm, wenn es dann noch dramatischer gekommen wäre.

Der Klub hatte kein Geld mehr, musste Insolvenz anmelden. Der Fall ging also noch tiefer - bis in die Verbandsliga (!). Anschließend drehte sich dieses große Schicksals-Rad in Ulm bis in die Gegenwart wild weiter. Der SSV stieg auf, bleib in der Oberliga stecken, kehrte in die Regionalliga zurück. Es folgten Skandale um Sozialversicherungsbetrug einiger Spieler und Verstrickungen in einen Wettbetrug. Ruhe stellte sich selten ein. Der Fußballverein spaltete sich vom Mutterverein ab, garniert mit einem Logo-Streit. Es folgen zweite weitere Insolvenzen, zurück auf Los. Was in diesem Fall Oberliga bedeutet. Seit 2016/17 stabilisierte sich der schwäbische Patient dann wieder in Regionalliga.

Von der Welttrainer-Wahl zum SSV Ulm

In die stabile Seitenlage gebracht und wieder aufgerichtet hat ihn dann endgültig Thomas Wörle. Der 42-Jährige ist nicht unbedingt ein neuer Rangnick (In Ulm spielt man jetzt Dreierkette), hatte sich zuvor als Trainer der Frauenmannschaft des FC Bayern einen Namen gemacht, wurde zwei Mal Meister und war sogar als Welttrainer des Jahres nominiert.

2021 übernahm er aus der Arbeitslosigkeit die Ulmer, wurde in der ersten Saison Vizemeister der Regionalliga und erreichte sogleich das Landespokalfinale. Im Jahr darauf gelang der Sprung zurück in den Profifußball, nun der Durchmarsch in Liga zwei. Wörle konnte in Ruhe arbeiten und den schlafenden Riesen wachküssen. "Von Tag eins an habe ich gespürt: Die Menschen hier lechzen nach Profifußball", sagte Wörle dem SWR. Mit einem erneuten Aufstieg sei aber nicht zu rechnen gewesen. "Daran war ja überhaupt gar nicht zu denken. Das ist unglaublich. Und deswegen genießen wir diese Wochen so sehr, dass wir kurz vor Schluss dabei sind, um etwas spielen dürfen", sagte er schon vor der Aufstiegs-Entscheidung.

Was macht sein Team aus? "Unsere Mannschaft spürt das Selbstvertrauen aus sehr vielen starken Spielen in dieser Saison. Das ist das eine. Das andere ist, dass wir diese Bereitschaft haben in der Mannschaft, miteinander und auch füreinander zu kämpfen", so Wörle. "Das sieht man in den meisten Spielen bei uns. Und wir sind bereit, immer wieder aufs Neue zu verstehen, dass das letzte Spiel nichts damit zu tun hat, was im nächsten Spiel passiert. Du musst da immer wieder alles neu erarbeiten. Das ist das Auffällige bei uns."

Das Heidenheim der 3. Liga

Wörle hat ein Team aufgebaut, das als Kollektiv funktioniert. Ulm zaubert sich nicht durch die Liga, sondern besticht durch defensive Stabilität, Standards und Kaltschnäuzigkeit. Die Last verteilt sich auf mehrere Schultern. Einer der auffälligsten ist der Ex-Schalker Leonardo Scienza, der in dieser Saison mit neun Toren und 15 Vorlagen einer der beste Scorer der gesamten Liga ist. Während sich der Brasilianer auf Schalke und in Magdeburg nicht im Profibereich durchsetzen konnte, gelang ihm in Ulm der Durchbruch. Samba im Schwabenland.

In der kommenden Saison wird er nach Informationen von Sky sogar zum Erstliga-Profi. Der 1. FC Heidenheim soll sich die Dienste des Flügelstürmers sichern. Irgendwie passt es auch: Ulm könnte man als das Heidenheim der 3. Liga beschreiben. Auch die Offensivkräfte Dennis Chessa und Felix Higl erzielten acht und sechs Tore, der "Sechser" Philipp Maier steuerte ebenfalls sechs Tore bei, das Innenverteidiger-Duo kommt zusammen auf sechs Treffer.

In der Defensive hielt Keeper Christian Ortag seinen Kasten 16-Mal sauber, Liga-Bestwert. Mit 35 Gegentoren stellt Ulm ohnehin die beste Defensive der Liga. Die viel gelobte Abwehr hält Johannes Reichert zusammen. Der 32-Jährige ist nicht nur Kapitän, sondern auch Ur-Ulmer. Hier geboren, selbst Fan und eben auch Spieler. Also in etwa der Kevin Großkreutz von Ulm.

"Es wird kein Halten mehr geben"

Es seien gerade überragende Zeiten. "Vor allem nach den schwierigen Zeiten in der Vergangenheit ist das, was wir gerade erleben, umso schöner", sagte er dem SWR. "Ich habe noch nicht daran gedacht, was passieren würde, wenn wir das schaffen würden - was natürlich ein absolutes Wunder wäre." So hat sich Ulm in der Rückrunde in einen Rausch gespielt, ist seit nunmehr 17 Spielen ungeschlagen. Die letzte Niederlage stammt von kurz vor Weihnachten.

Mit Blick auf die Aufstiegsfeier kündigte Reichert an: "Es wird kein Halten mehr geben. Und ich würde mich freuen, diesen Moment erleben zu dürfen." Jetzt ist es so weit: Der SSV ist wieder da in Liga zwei. Das Ulmer Wunder wahr. Vielleicht wird es also bald Zeit für ein neues Banner oder neuen Song.

Die Ulmer Fans nahmen die ewigen Finanzprobleme zu Anlass, ein Banner mit der Aufschrift "Rekordinsolvenzmeister" im D-Block aufzuhängen, wo die treusten Fans stehen und sogar ein eigenes Lied über die dreimalige Insolvenz zu dichten. "Chronisch kein Erfolg, vom Glück niemals verfolgt, doch ich weiß genau, du bist mein SSV!" heißt es am Ende. Vor zu viel Hoch- oder Übermut muss man die Ulmer jedenfalls nicht warnen. Dafür reicht ein Blick in die jüngere Geschichte.

Quelle: ntv.de

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