Nagelsmann, Mut, Sommermärchen Geht der riskante Titelplan mit dieser "fragilen" DFB-Elf auf?
16.05.2024, 17:53 Uhr
Julian Nagelsmann will die Heim-EM mit der DFB-Elf gewinnen.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Der Kader für die Heim-EM steht, aber Julian Nagelsmann muss noch an einigen Baustellen basteln. Der Bundestrainer hat einen speziellen Plan, doch erkennt eine "fragile" Nationalelf. Dabei könnte der Druck nicht größer sein, denn nicht nur ein Sommermärchen, sondern auch der Titel sollen her.
"Super Truppe", schmunzelt Julian Nagelsmann bei der Bekanntgabe seines Kaders für die Heim-Europameisterschaft seinen ersten und wohl vorbereiteten Satz in die Mikrofone und Kameras. "Könnte von mir sein, ist aber unser Kader." Der Bundestrainer stellt in Berlin 27 Spieler vor (einen muss er noch streichen), mit denen er eine erfolgreiche EURO 2024 absolvieren will - und stellt direkt klar, wie diese EM gelingen soll. Gemeinsam mit dem Land, den Fans. Als Sommermärchen.
Nur ein PR-Satz? Marketing, das können sie ja mittlerweile beim DFB. Nach der medialen Schnitzeljagd mit vorab nominierten DFB-Profis, für Nagelsmann eine "geniale Idee", betont der 36-Jährige immer wieder glaubwürdig, wie wichtig ihm eine Hochstimmung im Land und Nahbarkeit sind: "Jeder soll sich im Land damit identifizieren, dass das unsere Mannschaft ist, die begeistern soll und kann". Eine kollektive Euphorie soll die DFB-Elf tragen wie 2006 bei der WM. Aber kann das in so kurzer Zeit gelingen? Nagelsmann hat einen mutigen Plan, doch es lauern mehrere Gefahren.
Vor seinem ersten Turnier als Coach der deutschen Nationalmannschaft steht Nagelsmann durchaus unter Druck: Die letzten positiven Ergebnisse gegen Frankreich und die Niederlande haben Erwartungen im Land geweckt, nachdem die maue Hansi-Flick-Zeit beendet und begraben wurde. Nagelsmanns Kader soll nicht nur erfolgreich spielen, sondern begeistern, berauschen und mitreißen. Vom Hocker hauen und endlich mal wieder weit kommen bei einem großen Turnier. Sommermärchen 2.0 eben.
Kein "böses Gespräch" mit Hummels
Euphorie überall? Kein einfaches Unterfangen. "Euphorie schließt Konzentration nicht aus", sagt Nagelsmann und erläutert, dass man sich durchaus in öffentlichen Einheiten den Fans zeigen und sich "nicht verstecken" werde, aber wenn man konzentriert an etwas arbeite, dann brauche ein Team auch den "nötigen Raum". Der Bundestrainer freut sich, "dass wir jetzt viel positiver sind als Land" und auch er selbst wolle "unterhalten werden von meiner Mannschaft". Der Titel steht natürlich an erster Stelle, aber es wäre für Nagelsmann auch "eine gute EM, wenn wir in der K.-o-Phase ausscheiden und es trotzdem mitreißend war".
Wie der Gewinn der Europameisterschaft, den er erst auf Nachfrage fordert, gelingen soll, weiß der Bundestrainer auch schon. Es braucht mehr als fußballerisches Können. Neben der Hochstimmung im Land kommt es Nagelsmann auf die richtige charakterliche und spielerische Mischung und auf die gute Bewässerung eines noch "fragilen" und "zärtlichen Pflänzchens" an. Dazu gibt es einige Schlüsselspieler, die er heraushebt.
"Jeder Spieler hat seinen Charakter, seine Wesenszüge", erklärt Nagelsmann. Es gehe darum, "passende Charaktere zusammenzufügen, sodass eine gute Mannschaft entsteht". Gleich um "1000 Komponenten" gehe es da. Die Mischung macht's und "nicht immer die besten Spieler". Sätze, die dem Coach bei einer verpatzten EM auf die Füße fallen könnten. Als größte Herausforderung für das Turnier stellt er dementsprechend auch das Hochhalten des Energielevels und das Vermeiden des Lagerkollers heraus.
Zwar erwähnt der Bundestrainer an dieser Stelle nicht Mats Hummels und Leon Goretzka, aber möglicherweise fahren die beiden auch deshalb nicht mit zur Heim-EM, weil sie sich nicht davor scheuen, sich in den Medien lautstark zu äußern und auch schon mal Mitspieler oder Trainer zu hinterfragen. Sie hätten von der Öffentlichkeit auch gefordert werden können, wenn es mal schlecht läuft, und so unabsichtlich für Unruhe sorgen können. Beide hätten "extrem enttäuscht" reagiert auf die Nicht-Nominierung, verrät er, aber es sei "kein böses Gespräch" gewesen. Ob sich diese Entscheidung rächt, wird das Turnier zeigen.
Kroos aus "Stahl", Andrich mit "Drecksackmentalität"
Einen guten Mix will Nagelsmann auch auf dem Platz sehen. Er setzt auf die Kombination von älter und erfahren mit jung und hungrig. Da ist zum einen die Achse: Manuel Neuer, Antonio Rüdiger, Toni Kroos, İlkay Gündoğan. Vor den Länderspielen im März habe der Bundestrainer vor einem "Gamble" gestanden, also zocken müssen. "Wir wussten, wir müssen etwas verändern, ein 'weiter so' kann es nicht geben", erklärt er und sagt, dass Rüdiger der erste Name war, der auf dem weißen Blatt Papier erschien. Der erfahrene Abwehrmann von Real Madrid bildet mit Jonathan Tah von Meister Bayer Leverkusen die Innenverteidigung vor Neuer.
Als Relais fungiert davor Toni Kroos, den Nagelsmann auf dem Lehrgang im März genau beobachtet habe und gleich mehrfach auf der Pressekonferenz lobpreist. Abgehoben, weil schon alles gewonnen? "Der ist total normal, ganz bodenständig und Teil der Gruppe gewesen." Zu alt, weil er bei Real nur wenige Spiele durchspielt? "Wenn man Kroos umarmt, der ist wie Stahl", erzählt der Bundestrainer. "Unfassbarer Körper, unglaublich fit." Der 34-Jährige sei in der besten Verfassung seit Jahren. Ferner unterstütze er alle Mitspieler auf dem Feld durch seine Ruhe am Ball. Jeder wisse, so Nagelsmann: "Ich kann ihn immer anspielen, der verliert normalerweise keinen Ball." Dass Kroos und Rüdiger sich aus Madrid kennen, schadet nicht, aber Kroos war auch bei der WM 2018 ein Profi von Weltklasse und schmierte in Russland wie alle seine Nebenmänner ab.
Um diese Achse wirbeln dann die jungen Wilden, Jamal Musiala und Florian Wirtz, und die unerfahrene aber hoffentlich unüberwindbare "Berliner Mauer" (Zitat Nagelsmann): Maximilian Mittelstädt, der wie Rüdiger aus der Hauptstadt kommt, und Robert Andrich, der in Potsdam geboren wurde und bei Hertha BSC und Union Berlin gespielt hat. "Maxi spielt eine unglaubliche Saison" und sei "defensiv gereift", schwärmt Nagelsmann und "Rob hat sich sehr gut durchgebissen und tut uns mit seiner Körperlichkeit und seiner Drecksackmentalität gut". Das Gerüst bleibt ein Experiment, das sich erst noch über einen längeren Zeitraum beweisen muss.
Müller kann auch mit "Rappern"
Aber weil eben nicht nur das Sportliche zählt, stellt Nagelsmann Thomas Müller heraus. Dieser werde nicht viel von Anfang an spielen, aber sei "gut von der Bank und hat immer Bock auf Fußball" und würde mit seinem Gespür nicht ohne Grund für seine typischen "Müller-Tore" sorgen. Allerdings schätzt der Bundestrainer den Ur-Bayer wohl vor allem aus anderen Gründen: "Er ist ein Connecter, er kann Gruppen verbinden", sagt der Bundestrainer und verbildlicht: "Er kann mit den Rappern in der Mannschaft und mit denen, die jodeln." Müller sei zwar kein schlichter "Gute-Laune-Onkel", aber er trage eine für jede Mannschaft enorm wichtige Kommunikation und einen Blick mit Fingerspitzengefühl für das große Ganze in das Gefüge. Darüber hinaus sorge einer wie Müller gerne für die Funken (neben den Toren), die solch ein gewünschtes Sommermärchen auslösen könnten. "Er ist auch ein Connector zu Fans und Medien", erklärt Nagelsmann, "ein Schmiermittel und Bindeglied".
Natürlich ist dieser Kader auch ein mögliches Pulverfass: Hat der Sturm genug Durchschlagskraft, wenn Niclas Füllkrug mal ausfällt oder einen schlechten Tag hat? Können der unerfahrene Deniz Undav und der angeschlagene Leroy Sané ihr Potenzial abrufen? Fehlt ab einem möglichen Viertelfinale nicht doch die Coolness von Hummels, der in dieser Saison in den größten Spielen zur besten Form auflief? Und kann diese Mannschaft, die erst zwei Spiele zusammen absolviert hat, als eingeschworene und eingespielte Einheit auftreten, wie es etwa das Basketball-Nationalteam beim WM-Titel als eingeölte Gewinnermaschine tat?
Auf so viel Beständigkeit wie die Basketballer kann Nagelsmann nicht setzen, aber er hat bei den Länderspielen gegen Frankreich und die Niederlande seine Startelf (fast) komplett gefunden. Doch auch hier lauert eine Gefahr: "Im März ist eine Struktur gewachsen, aber die ist immer noch fragil", erklärt der Bundestrainer. Auch deshalb habe er nicht zu viele neue Spieler gewollt, denn "dann stürzt das Haus zusammen". Nun müssen man dem "zart wachsenden Pflänzchen eine Stabilität geben", sie mit "Trainingseinheiten füttern".
Julian Nagelsmann bleibt mit seinem Kader für die EM mutig. Sein Plan könnte aufgehen. Aber die Uhr tickt: "Fragil" sei die Mannschaft, weil man im März nur zehn Tage zusammen hatte - reicht nun eine kurze Vorbereitung, zu der die Spieler aus Dortmund und Madrid wegen des Finals der Champions League später stoßen, um das Pflänzchen in einen stabilen Mammutbaum zu gärtnern? Ein Stolperstart würde der Euphorie im Land einen empfindlichen Dämpfer verpassen.
Der Druck ist riesig. PR spielt auf dem Rasen keine Rolle mehr. Ein Sommermärchen und ein Titel sollen her. Obwohl die deutsche Nationalmannschaft alle Turniere seit 2016 in den Sand gesetzt hat. Dort gedeihen Pflanzen bekanntlich nur sehr schwerlich.
Quelle: ntv.de