DFB-Lehren aus Wackel-QualiNagelsmann macht eine schmerzhafte Erfahrung
Erst ein Hängen und Würgen, dann ein Knall: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat sich für die Mammut-Weltmeisterschaft in Nordamerika qualifiziert. Nicht nur Bundestrainer Julian Nagelsmann lernt etwas über sein Team.
Nagelsmann muss sich selbst ausbremsen
Vielleicht muss man sich Julian Nagelsmann als Fußballprofessor vorstellen, der sich immerzu selbst auf die Finger klopfen muss. Wie gerne würde er all seine Ideen aus der Klubtrainer-Zeit auch bei der Nationalelf ausprobieren: hier eine asymmetrische Jokerrolle, da ein fluides Sechser-Rechtsverteidiger-Konstrukt. Doch Nagelsmann ist (leider) Bundestrainer einer komplett ungefestigten DFB-Elf, das ist eine Erkenntnis der wackeligen WM-Qualifikation.
Schon der zarte Versuch, DFB-Kapitän Joshua Kimmich wieder zurück auf die Sechser-Position zu führen, ist komplett danebengegangen. Beim Auftakt in der Slowakei passte dann gar nichts mehr. Weil es nicht nur im Mittelfeldzentrum eine Änderung gab, sondern auch auf der nun verwaisten Rechtsverteidigerposition. Kimmich war in der Folge überall und nirgendwo. Die DFB-Elf verlor jede Struktur und am Ende auch das Spiel in Bratislava. Stattdessen lief es dann am besten, wenn Änderungen nur stückweise eingeführt wurden. Die Startaufstellung veränderte sich innerhalb der Länderspielphasen zuletzt kaum noch.
Für die Heim-Europameisterschaft hatte das Nagelsmannsche Trainerteam fest definierte Rollenprofile für ihre Protagonisten ausgearbeitet. Das ist zwar für Klubtrainer nicht so spannend, hilft aber im Nationalelf-Kosmos extrem weiter. Denn dort bleibt nicht viel Zeit, komplizierte neue Muster einzutrainieren. Gerade, wenn eine Mannschaft in der Entwicklung noch nicht so weit ist. Und so, wie der Bundestrainer es nach dem rauschenden Quali-Abschluss ankündigte, wird er das auch für die Weltmeisterschaft in Nordamerika wieder machen. Nur sind die Rollen hoffentlich wieder nicht allzu experimentell.
Stichwort Ausbremsen: Demut!
"Vöööllig losgelöst" dröhnt aus den Leipziger Stadionboxen, TV-Grafiken zu den nächsten Schritten des DFB-Teams weisen schon auf das WM-Finale in New York hin. Und während Aleksandar Pavlovic und Nico Schlotterbeck schon vom WM-Titel sprechen, singt vor allem einer nicht mit, der das Lied ursprünglich angestimmt hatte: Bundestrainer Nagelsmann. Am 5. Juli 2024, nach dem EM-Aus gegen Spanien, kündigte er an, Weltmeister werden zu wollen. In Leipzig war davon keine Rede mehr.
Denn Bundestrainer Nagelsmann machte nun schon mehrfach die schmerzhafte Erfahrung, was es bedeutet, öffentlich zu forsch zu sein. Die WM-Titelansage wurde ihm nach dem ruckeligen Auftakt in die Qualifikation um die Ohren gehauen. Genauso wie er still und heimlich seinen Anspruch für die Partien herunterschrauben musste: Aus dem Wunsch nach purer Dominanz wurde plötzlich "einfach nur durchkommen".
Deshalb tritt Nagelsmann mittlerweile etwas demütiger auf. Als er nach dem Slowakei-Spiel gefragt wurde, wo der Bundestrainer die DFB-Elf im Vergleich zu Argentinien, Spanien, Frankreich und Co. sehe, bremste er sich selbst und sagte, dass die Nationalelf in den nächsten Monaten besser erst einmal auf sich schaue. Es ist ein neuer Ton.
Die Nationalelf hat noch ein zentrales Problem
Die Auswahl ist groß: Angelo Stiller, Joshua Kimmich, Pascal Groß, Leon Goretzka, Aleksandar Pavlović, Felix Nmecha. Besonders auf den zwei Positionen im zentralen Mittelfeld betrieb Bundestrainer Nagelsmann ein eifriges Casting. Robert Andrich fehlte dieses Mal zwar, doch inklusive des Bayer-Profis durften gleich sieben Kandidaten vorspielen. Das Mittelfeldzentrum ist sieben Monate vor dem WM-Beginn noch eine große Planstelle. Noch hat sich keine klare Paarung herauskristallisiert. Dabei steht und fällt eine Turniermannschaft auch mit dem Herz im Mittelfeld.
Die jüngere Erfahrung lehrt, dass es eine spezielle Mischung braucht. Wie etwa bei der Heim-EM: Toni Kroos kam dafür extra aus dem DFB-Ruhestand, Robert Andrich bestritt für ihn die Zweikämpfe. Die Duos zuvor waren zu träge oder nicht stabil genug, da passte die Mischung nicht: In Katar waren es Kimmich und İlkay Gündoğan, bei der Kontinental-EM 2021 Kroos und Gündoğan.
Und 2026? Klar, es ist noch Zeit. Aber eine Richtung könnte es schon langsam geben. In den November-Qualispielen teilten sich Pavlović und Goretzka die Doppelsechs, wobei das eine Mogelpackung war. Schließlich rückte Kimmich immer wieder von seiner Rechtsverteidiger-Position ins Zentrum. Und der bei der EM noch aussortierte Goretzka tauchte als freies Radikal praktisch überall auf.
Die Frage ist nun, wie das Zentrum beim kommenden Turnier wird. Noch zu Beginn des Jahres deutete vieles auf das Duo Stiller/Pavlović hin, doch mit der Nicht-Nominierung des Stuttgarters ist die Wahrscheinlichkeit deutlich gesunken.
Pavlović dagegen sollte seinen Platz sicher haben, sofern die Gesundheit mitspielt. Sein Vortrag gegen die Slowakei ist beeindruckend: Er lenkt das deutsche Spiel mit vielen klugen und vor allem schnellen Bällen. Dagegen dürften Wetten darauf, dass das beeindruckende Comeback Goretzka bis in die WM-Startelf trägt, schlechte Quoten haben. Bei den Bayern spielt er zwar regelmäßig, aber wenn es darauf ankommt, ist er auch in München selten erste Wahl.
Jamal Musiala ist systemrelevant (und auch Florian Wirtz)
Manchmal weiß man erst, was man hatte, wenn es nicht mehr da ist. Dass dieser Teenager-Whatsapp-Status auch für das DFB-Team gilt, ist ebenso wenig überraschend wie folgende Erkenntnis: Wunderdribbler Jamal Musiala ist fußballerisch überlebenswichtig für die deutsche Nationalelf. Der FC Bayern hat es geschafft, den Ausfall des 22-Jährigen zu kompensieren, der Nagelsmannschaft fehlen dafür aber die personellen Mittel.
Musialas Gedankenblitze und Dribblings werden an jeder Ecke vermisst. Er war die Lösung für das jahrelange DFB-Problem mit tief stehenden Gegnern. Das ohne ihn wieder aufgetaucht ist. Wenn dann auch noch Florian Wirtz in eine akute Formkrise fällt, steht es schlecht um die deutsche Torgefährlichkeit.
Dreier- oder Viererkette? Egal, Hauptsache mit Schlotterbeck
Es ist nicht bekannt, wie viel Gewicht die Schultern von Nico Schlotterbeck tragen können. Vielleicht sollte das einmal untersucht werden, denn: Der 25-Jährige trägt nicht nur Borussia Dortmund, sondern auch die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Und das Bemerkenswerte ist, dass Schlotterbeck einer der wenigen Spieler ist, der seinen Wert während seiner Fehlzeit noch steigern konnte. Schließlich vermisste Nagelsmann den verletzten Innenverteidiger zuletzt überraschend öffentlich.
Seit Schlotterbecks Rückkehr ist auch klar, warum. Da sind nicht nur die Emotionalität und die abgestellten Schusselfehler: Schlotterbeck hat den anderen Innenverteidigern mit DFB-Berechtigung etwas voraus: eine gute Spieleröffnung und punktgenaue Seitenverlagerungen. Der Dortmunder scherzte vor dem Spiel in Nordirland, dass er das Ganze mit dem Ball kann und Kollege Jonathan Tah der bessere Zweikämpfer ist. Die Frage ist, ob Schlotterbeck nicht beides derzeit sogar besser kann.
Das DFB-Team hat kein Torwart-Problem
Die Torwartfrage ist die vermutlich überflüssigste Debatte, die das DFB-Team in diesen Tagen umgibt. Kommt Manuel Neuer zurück, obwohl er auf Nachfrage betonte, seine Nationalmannschaftskarriere sei endgültig vorbei? Findet Marc-André ter Stegen nach seiner Ausbootung in Barcelona zu alter Fitness, einem neuem Klub und Spielpraxis? Oder wird Oliver Baumann doch mehr als nur eine Übergangslösung?
Auch bei der Frage, wer in Nordamerika zwischen den Pfosten steht, herrscht noch keine Klarheit. Aber im Gegensatz zu anderen Positionen ist das kein Problem. Denn Baumann hat nicht nur die Erfahrung aus 499 Bundesliga-Spielen, sondern auch nachhaltig unter Beweis gestellt, dass er auch als Nummer eins taugen würde. Zudem konnte der 35-Jährige im Hexenkessel von Nordirland bestehen, genauso wie beim Arbeitsmangel gegen die Slowakei, als er dann plötzlich doch einen Ball aufs Tor bekommen hat. Deshalb: Keine Sorge, das DFB-Team hat kein Torwartproblem.
