Fußball

Pleitenserie, Stadionwechsel "Surrealer" Rausch versetzt Union Berlin brutale Schläge

Auch nach sechs Niederlagen in Folge ist das Band zwischen Fans und Spielern noch stark.

Auch nach sechs Niederlagen in Folge ist das Band zwischen Fans und Spielern noch stark.

(Foto: picture alliance/dpa)

Alles an Union Berlin ist in den vergangenen Jahren nicht von dieser Welt. Aus dem Nichts schießen die Köpenicker nach ganz oben. Anstatt nach Sandhausen geht es für sie jetzt zu Real Madrid. Im eigentlich schönsten Halbjahr des Klubs ereilt sie jedoch ein Fluch. Alles, wirklich alles läuft schief.

Einen letzten Angriff musste Union Berlin vor mehr als 73.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion noch überstehen. Dann wäre zumindest der erste Punkt in der Champions League gewonnen, dann wäre die Niederlagenserie beendet und irgendwie alles wieder halbwegs normal. Es wurde dramatisch und die letzte Pointe gefiel niemandem, der es mit den Eisernen hielt. Bragas André Castro traf in der 94. Minute aus der Distanz und ein ganzes Stadion verfiel für einen kurzen Moment in eine Schockstarre. Dann rafften sie sich wieder auf und sangen, weil sie immer singen. Ganz egal, ob Union Berlin gewinnt oder verliert. Das passiert dieser Tage recht häufig.

Das 2:3 (2:1) gegen Braga war die insgesamt sechste Pflichtspielniederlage in Folge und dazu war schon im Vorfeld ein leichtes Murren zu vernehmen. Der Grund? Der Umzug in das ungeliebte Olympiastadion. Nicht alle alten Fans der Eisernen waren damit einverstanden. Nicht nur das. Es herrschte auch Uneinigkeit darüber, wer Union Berlin überhaupt in diese Lage gebracht hatte - die UEFA oder vielleicht sogar der eigene Verein?

Die UEFA hatte Union in diesem Sommer nämlich in eine missliche Lage gebracht. Von 1998 bis 2022 hatte die UEFA Stehplätze in den europäischen Wettbewerben verboten. Dann die Wende als Modellversuch. Das Dortmunder Westfalenstadion war in all seiner beeindruckenden Schönheit mit voller Südtribüne zu bewundern und auch an der Alten Försterei in Köpenick frohlockten sie: Die Saison in der Europa League war gerettet.

Warum Union Berlin in den Westen rübermachen musste

In diesem Sommer passierten dann zwei Dinge: Union Berlin stürmte vollkommen überraschend in die Champions League und die UEFA verlängerte den Testlauf für die Klubwettbewerbe. Damit stürzten sie die Eisernen in ein Dilemma. Würden sie allen Mitgliedern - und es waren viele geworden in den Jahren des Aufschwungs - die vielleicht einmalige Chance einräumen, ein Spiel des eigenen Vereins in der Königsklasse zu sehen, oder auf die brachiale Wucht des eigenen Stadions setzen? Das aber wäre nur möglich gewesen, wenn sie im Stadion an der Alten Försterei zahlreiche Veränderungen vorgenommen hätten.

Die Banner im Stadion waren lang und sie waren zahlreich.

Die Banner im Stadion waren lang und sie waren zahlreich.

(Foto: picture alliance/dpa)

Wahrscheinlich wäre ein klares Votum der Europäischen Fußball-Union gegen die Fortführung des Stehplatzprogramms für den Klub sinnvoller gewesen, doch diesen Gefallen wollte ihnen niemand tun. Und im tiefsten Herzen des Vereins war das auch gut so: Denn Union zählt zu den stärksten Befürwortern des Tests. Allein der sportliche Erfolg in der Bundesliga hatte sie zumindest in dieser Hinsicht überrumpelt. Die Mannschaft auf dem Platz war viel zu schnell viel zu erfolgreich gewesen. Der Klub konnte nicht mitwachsen, auch weil sich der geplante Ausbau des eigenen Stadions aufgrund der traditionellen Behäbigkeit der Berliner Behörden immer mehr verzögerte.

Nach langen Überlegungen also stand der Umzug in den Westen, in das Heimatstadion des Lokalrivalen Hertha BSC, fest. Die sind zwar auch nur Mieter im Olympiastadion und wollen seit Jahren raus, doch sind sie seit einem halben Jahrhundert dort. Union nicht. Trotzdem machten sie rüber. Es sei ihm wichtig, "Union für Menschen erlebbar zu machen", teilte Präsident Dirk Zingler den Mitgliedern in einem Schreiben mit: "Lasst uns den bisherigen Höhepunkt in unserer Klubgeschichte mit so vielen Unionern wie möglich gemeinsam verbringen." Finanziell bringt der Wechsel in den Westen auch etwas. Aber nicht so viel. Mehreinnahmen im einstelligen Millionenbereich werden erwartet.

Umbruch auf allen Ebenen

Es ist eine Situation, die geeignet erscheint, einen Verein in eine größere Sinnkrise zu stürzen. "Wir verpassen die Chance, der Welt unser wahres Gesicht zu zeigen, und laufen Gefahr, austauschbarer Teil eines Events zu werden", verkündete die Ultra-Gruppierung HammerHearts in einem langen Text über den Umzug. Am Spieltag gegen Braga erklärten Flyer der Fanszene lang und ausführlich, warum es zum Umzug gekommen war. Auch sie verwiesen auf die UEFA-Regularien. "Wir möchten heute aufzeigen, wie absurd diese Anforderungen sind", hieß es da und: "Wir möchten der Welt zeigen, dass der Maschinerie UEFA der Fußball egal ist. Ihnen ist das Geschäft wichtiger." Vor der Gegentribüne erinnerte ein Spruchband an die Alte Försterei, die die Fans brauchen "wie die Luft zum Atmen." Doch sie waren im Westen, ausgerechnet auch noch am 3. Oktober. Was für ein Datum, was für ein Ort für das erste Spiel in der Königsklasse.

Dunkle Wolken über dem Olympiastadion.

Dunkle Wolken über dem Olympiastadion.

(Foto: picture alliance/dpa)

Und so präsentierten sie ihre Banner gegen die UEFA, auf denen all das stand, was sich in den UEFA-Büchern wiedergefunden hatte, und natürlich stimmte das alles. Doch wirkte es fremd, denn nicht die UEFA hatte den Verein letztendlich allein schuldig in die Lage gebracht, sondern kurioserweise auch der Erfolg. Aber der will sich ohnehin nicht mehr einstellen. Nach zwei Siegen zum Start der Bundesliga-Saison geht für Union alles schief, was schiefgehen kann. Zwei späte Niederlagen in der Champions League und gleich vier Pleiten hintereinander in der Liga.

Weil auch auf dem Platz etwas aus den Fugen geraten ist. Weil das Stoppschild Rani Khedira verletzt ausfällt, weil mit Robin Knoche der zentrale Mann in der Abwehr fehlt, weil Kevin Behrens nicht in jedem Spiel drei Tore erzielen kann, weil die Räume nicht mehr richtig besetzt sind, weil es - kurz gesagt - zu viele Veränderungen gegeben hat. Die gab es bei Union immer. Doch Manager Oliver Ruhnert hatte immer eine Lösung. In diesem Sommer verzögerte sich alles. Mit dem italienischen Europameister Leonardo Bonucci, mit Ex-Nationalspieler Kevin Volland und DFB-Star Robin Gosens kamen sehr spät drei sehr wichtige und vor allem namhafte Neuzugänge. Mit Lucas Tousart und Alex Kral wurden zwei Mittelfeldspieler von Bundesliga-Absteigern verpflichtet, mit Brenden Aaronson ein schwer beladener Absteiger aus der Premier League.

Ritter Keule allein auf dem Platz

Anders als in den Jahren zuvor steht dieser Tage noch keine Einheit auf dem Platz. Zu spät stand der Kader, zu viele Lücken klafften im Defensivverbund auf, zu rapide rauschte auf der anderen Seite die Effizienz im Abschluss in den Keller und in der Mitte fehlte Khedira. Überhaupt haben sich die Positionierungen auf dem Feld verändert, überhaupt hat Union jetzt meist mehr Ballbesitz. Es ist ein anderes Spiel im jetzt strahlenden Scheinwerferlicht der europäischen Öffentlichkeit.

Robin Gosens ist ganz schön bedient.

Robin Gosens ist ganz schön bedient.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die am Dienstag erst zwei vollkommen verdienten Tore durch Sheraldo Becker sah und dann Zeuge eines kolossalen Einbruchs wurde. Mit dem absoluten Tiefpunkt in der 94. Minute. "Haben wir irgendwie was falsch gemacht? Haben wir den Fußball-Gott irgendwie beleidigt, dass wir aktuell so behandelt werden?", fragte Neuzugang Gosens, der sich früh als neues Gesicht des Klubs inszeniert hat.

"Man fragt sich schon: Wie viele Schläge kann man einstecken?", fragte Fischer nach dem Spiel. Vorher hatten ihn die Kameras in ungewohnter Pose eingefangen. Tief versunken und noch tiefer enttäuscht saß er auf der Trainerbank. Auf dem Platz versuchte das Maskottchen Ritter Keule alles, um die Fans aufzuheitern. Es schien ihm nicht so recht zu gelingen. Da war Trotz und doch zu viel Schmerz. Das Grauen war kaum zu ertragen. Die nächste Niederlage.

Union kassiert Prügel vom Fußball-Gott

Zu viele Fragen bleiben nach diesem Spiel offen. Hat Union Berlin das Geld über den sportlichen Erfolg gestellt? Haben die Köpenicker mit ihrem Umzug in den ungeliebten Westen ihre Identität ein Stück weit hergeschenkt? Und waren die so hochgelobten Neuzugänge in dieser Saison vielleicht doch nur welche, die die Statik des einst so stabilen Spiels bedenklich ins Wanken brachten?

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Immer wieder prügelt der Fußball-Gott dieser Tage auf die seit ihrem Aufstieg in die Bundesliga gesegneten Eisernen ein. Union Berlin ist in der bitteren Realität des Fußballs angekommen. Auch sie können die Gesetze des Spiels nicht verschieben. Auch wenn es sich in den rauschhaften Jahren so angefühlt hatte. Auch wenn sie da dem Alltag auf einem ewigen Rausch entflohen waren. Nicht umsonst erinnerte Trainer Fischer in nahezu allen Wortmeldungen daran. "Surreal" war seine Standarderklärung für das, was mit dem Klub passierte.

Jetzt der Absturz. Der eigene Erfolg frisst den Klub auf. Sie müssen das Monster stoppen. Der Umgang damit wird stilbildend für die Zukunft des Vereins sein. Direkt nach der Pleite fiel den Verantwortlichen noch wenig ein. "Es gilt wieder aufzustehen, nach vorne zu blicken und zu versuchen, in Dortmund etwas mitzunehmen", erging sich Trainer Fischer in Allgemeinplätzen des Niedergangs vor dem richtungsweisenden Spiel im Westfalenstadion (Samstag, 15.30 Uhr/Sky und im ntv.de-Liveticker). Niemand mag sich ausdenken, was passiert, wenn der Fußball-Gott es noch einmal übel mit ihnen meint. Der Kater nach dem unendlichen Fest wäre kaum noch auszuhalten.

Quelle: ntv.de

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