
Vor dem Spiel gegen Real Madrid - und dem in Wolfsburg - setzte es für Union Berlin die erste Niederlage nach 24 ungeschlagenen Ligaheimspielen.
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Der Aufstieg von Union Berlin ist rasant. Der Klub aus Berlin-Köpenick schreibt an einer der großen Erzählungen der Bundesliga. Aber am Vorabend ihres bislang größten Spiels geraten die "Eisernen" auf ihrem Weg vom Vorstadt-Verein zum internationalen Straßenfeger kurz aus der Spur.
Vor dem Anpfiff gab es nur ein Thema. Wer kommt wie zum Spiel bei Real Madrid? Wenig später standen aufgebrachte Menschen im Fußball-Stadion. "Auf die Fresse, auf die Fresse", schallte es am Sonntag aus tausenden Kehlen in der Alten Försterei in Berlin-Köpenick. Die Zuschauer waren außer sich. Nach einem Foul von Kevin Volland am Leipziger Verteidiger Mohamed Simakan zog Schiedsrichter Daniel Schlager inmitten einer veritablen Rudelbildung die Rote Karte gegen den ehemaligen Nationalspieler. Der wusste, dass die Strafe berechtigt war. Den Fans war es egal. Jede Entscheidung gegen die eigene Mannschaft ist immer falsch. Das Spiel im Stadion ist wenig rational. Besonders in der Alten Försterei.
64 Minuten waren in der Alten Försterei gespielt, der Gegner aus Leipzig lag mit 1:0 in Führung. In den folgenden drei Minuten eskalierten die aufgebrachten Menschen im Fußball-Stadion. Die Wut richtete sich gegen alles und jeden, der nicht die Farben der Heimmannschaft trug. Besonders natürlich gegen Simakan, der vorerst weitermachte. Ohrenbetäubende Pfiffe, eine feindliche Stimmung. Die aufgebrachten Menschen waren durch nichts zu stoppen. Dann stellte Leipzig-Trainer Marco Rose die aufgebrachten Menschen auf stumm. Er nahm Simakan vom Feld. Aus einem tosenden Orkan wurde betretenes Schweigen, Gewissheit, dass es jetzt vorbei ist. "Das war schon ein kleiner, positiver Nebeneffekt für uns: Wir konnten das Stadion auch wieder ein bisschen beruhigen", sagte Rose beiläufig auf der Pressekonferenz nach dem Spiel.

Schiedsrichter Daniel Schlager schickt Kevin Volland (2.v.r.) vom Platz.
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Es war wohl mehr als nur ein kleiner Nebeneffekt, Rose hatte Union Berlin mit diesem Kniff final besiegt. Seine Mannschaft hatte die bemerkenswerte Heimserie der Köpenicker beendet. In 24 Bundesliga-Spielen waren sie seit einem 0:3 gegen Borussia Dortmund im Februar 2022 ohne Niederlage geblieben. Trainer damals natürlich Rose, der trotzdem am Saisonende das Westfalenstadion verlassen musste und schon bald in seiner Heimatstadt den Trainerposten vom unglücklichen Domenico Tedesco übernahm.
Ein Duell mit Klappmessern
Die Sieger aus Leipzig sprachen hernach von einem "erwachsenen", von einem "mannhaften" Auftritt der nach millionenschweren Abgängen im Sommer neu zusammengestellten Mannschaft. Torschütze Xavi Simons, ein 20-Jähriger, direkt aus der Pubertät kommender Niederländer, äußerte sich mit schulterzuckender Bewunderung über die Atmosphäre in der Alten Försterei. Die Leipziger waren das, was Union-Trainer Urs Fischer von seinem eigenen Team gefordert hatte - sie waren eklig, bekämpften sie mit "Klappmessern", wie die "Süddeutsche Zeitung" befand und damit mit Sicherheit nicht daneben lag. Erst dann rasierten sie Union mit zwei wunderbaren Treffern von Benjamin Sesko. Als das Stadion beruhigt war, als Union ein normales Bundesliga-Team in Unterzahl war, offenbarte sich ein Klassenunterschied. Das kann passieren. Und doch kam es überraschend, waren die Gastgeber doch durch die ersten Spieltage gerauscht.

Benjamin Sesko überlupft Union-Keeper Frederik Rönnow mit dem Kopf.
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Das Spiel der beiden Ost-Vereine war in der vergangenen Dekade schon immer ein Realitätscheck für die in inniger Abneigung verbundenen Klubs. Die Duelle skizzieren den ungebremsten Aufstieg dieser beiden so gegensätzlichen Protagonisten zu Schwergewichten im deutschen Fußball. Vereint werden sie durch ihren Standort im ehemaligen Osten Deutschlands. Während die Berliner ihre Kraft aus sich ziehen, versorgen sich die Leipziger mit Energie aus Fuschl am See, einer Gemeinde im Salzburger Flachgau.
In Leipzig, sagen die Berliner, sterbe der Fußball und deswegen müsse man schweigen. Sie machen das seither bei jedem Spiel. Die ersten 15 Minuten bleiben sie ruhig und brechen danach in Lärm aus. Manchmal, wie beim ersten Spiel in der Bundesliga im August 2019, kassieren sie in den Ausbruch einen Treffer, manchmal, wie im Februar 2020 beim Auswärtsspiel, müssen sie in die Stille hinein jubeln. Dann haben sie getroffen. Und manchmal passiert nichts. Doch das donnernde Schweigen ist nicht verhandelbar, auch wenn es im Spätsommer 2023 unter ganz anderen Voraussetzungen passiert.
Union Berlin verlässt die Alte Försterei
Die Neuzugänge Lenoardo Bonucci, Robin Gosens und Kevin Volland stehen dabei exemplarisch für den Wandel. Sportdirektor Oliver Ruhnert greift jetzt in andere Regale. Konstant bleibt nur die hohe Personalfluktuation, die unzählige Fußballgötter geboren hat. Fußballgott, so werden die Spieler genannt, die irgendwann einmal das Union-Trikot getragen haben. Längst hat sich Union Berlin in der Bundesliga etabliert. Hohes Risiko neben dem Platz und, unter der Regie von Trainer Fischer, klarer leidenschaftlicher Fußball auf dem Platz. Es ist eine Version des Fußballs, bei dem alles aufeinander abgestimmt sein muss. In der jeder Defensivmoment perfekt sein muss und in dem in der Offensive in beunruhigender Regelmäßigkeit die Gesetzmäßigkeiten des Spiels außer Kraft gesetzt werden. In Köpenick reagieren sie auf die Fehler der Gegner, sie setzen auf die Wucht ihrer Stürmer und lösen neuerdings die Probleme eines Fußballspiels auch spielerisch. Der nächste Schritt.
Es ist ein Transformationsprozess, der sich nicht nur auf dem Platz offenbart. Für die Champions League wird der Verein die Alte Försterei, die Trutzburg, in der die Zuschauer dem Gegner Angst einjagen können, in das unwirtliche, aber wesentlich größere Olympiastadion im Berliner Westend ausweichen. Zwangsläufig wird sich der Fußball, wird sich die Atmosphäre verändern. Magische Europapokalnächte werden sich anders anfühlen, werden für eine andere Art der Unterstützung sorgen und Union in das internationale Rampenlicht katapultieren. Auf die Verwirbelungen dort kann sich niemand einstellen. Entweder man bleibt in der Umlaufbahn oder stürzt in die Versenkung. Weil das Wachstum zu schnell, zu ungesund war. Noch liegt alles in der Zukunft. Noch ist alles bloß ein Versprechen - und eine Drohung.
Was ist, wenn Volland weiter wirr, wenn Mittelfeldspieler Aissa Laidouni unbeständig, Verteidiger Diogo Leite weiter unkonzentriert spielt und Stürmer Kevin Behrens aus seinem Toretraum erwacht? Was ist, wenn das Verletzungspech, das aktuell eine Mittelfeldreihe und Stürmer Sheraldo Becker zum Zuschauen verdammt, den Köpenickern treu bleibt? Was ist, wenn Bonuccis Name nicht nur wohlklingend, sondern eben auch einer aus der Vergangenheit ist? Was ist, wenn zu den bereits zwei kassierten Elfmetern und zwei Platzverweisen weitere Undiszipliniertheiten kommen? Was ist also, wenn das hart erarbeitete Glück den Verein verlässt? Fragen, die sich aufdrängen, weil jeder rasante Aufstieg einmal endet. Weil jede Heldengeschichte irgendwann auserzählt ist. Bis dahin aber ist noch Zeit.
Warum Union Berlin international ein Blockbuster ist
"Real Madrid. Ich habe die Auslosung geschaut und fand das saugeil, als der erste Gruppengegner kam. Das ist was Besonderes, was ihr euch mehr als verdient habt. Da darf man sich drauf freuen", sagte Leipzigs Trainer Rose nach dem Spiel. Real Madrid, der größte Name im Weltfußball, ist der erste Gegner für Union Berlin in der Champions League. Der bisherige Höhepunkt dieses surrealen Höhenflugs. Und wenig später gestand Fischer seine Machtlosigkeit. Er müsse die Presse in den Griff bekommen, sagte er: "Aber das ist ja nicht möglich." Er habe nicht das Gefühl, dass es die Mannschaft beeinflusst habe und Profis müssten das ohnehin "aushalten". Doch der Mythos Real Madrid hing tonnenschwer über dem Stadion. Das Los hatte auch die internationale Aufmerksamkeit erneut auf diesen beschaulichen Ort im tiefen Osten der Hauptstadt gelenkt.
Am Sonntag, dem letzten Heimspiel vor der Reise ins Bernabeu, war wieder einmal die internationale Presse da. Unter ihnen auch Seb Stafford-Bloor, der seit einiger Zeit für "The Athletic" ein Auge auf die Bundesliga wirft. "Alles, was ich bei meinem ersten Besuch in der Alten Försterei vorgefunden habe, erinnerte mich an den englischen Fußball vor dem großen Ausverkauf", sagt Stafford-Bloor, der sich nach seinem ersten Besuch im September 2022 ausgiebig mit der Geschichte des Vereins beschäftigt: "Sie erzählen so eine wunderbare Geschichte. Eine, die so im englischen Fußball kaum noch erzählt wird."
Ein Blick auf die Liste der Trikotsponsoren lohnt. Als Union 2014 in der zweiten Liga gegen Leipzig gewinnen konnte, es war die erste RB-Niederlage im Profisystem, trugen die "Eisernen" kfzteile24 auf der Brust, daraus wurde erst Layenberger, dann Aroundtown und später wefox. Immer größere Unternehmen wollten ihren Namen auf der Brust der Berliner sehen. In diesem Sommer dann stieg der Streamingdienst Paramount+ ein. Blockbuster Entertainment aus New York City. Dazu passend steht nunmehr eben auch der legendäre, aber auch sehr alte Bonucci in Köpenick unter Vertrag. Noch einmal wird in den kommenden Wochen die Geschichte von Union erzählt werden. Diesmal weltweit. Erfolge in der Bundesliga sind eine Sache, ein Champions-League-Auftritt eine ganz andere. Es ist die Königsklasse.
Aus den aufgebrachten Menschen im Stadion waren an diesem Sonntag nach Abpfiff enttäuschte, trotzige und stolze Menschen geworden. Sie sangen noch lange an diesem letzten Tag als Versprechen. Wenn sie noch singen, falls der internationale Zirkus einmal weiterzieht, wenn Union Berlin auch dann noch Union Berlin bleibt, dann haben sie ihren größten Kampf gewonnen.
Quelle: ntv.de