
Robin Gosens ist einer der wenigen Unioner, die die Champions League schon kannten.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Das war aller Ehren wert. Mit viel Leidenschaft verteidigt Union Berlin bei seiner Königsklassen-Premiere gegen das große Real Madrid. Die faustdicke Königsklassen-Überraschung verdirbt ein ehemaliger Dortmunder. Die Eisernen sind dennoch stolz und ärgern sich.
Union Berlin ist in einer neuen Welt angekommen - als nun schon 15. deutsche Mannschaft. Doch der Erstkontakt endet schmerzhaft. Bei Real Madrid läuft es bis weit in die Nachspielzeit hinein sehr ordentlich, der erste Punkt in der Champions League winkt. Doch dann münzen die Gastgeber ihre zunehmende Überlegenheit noch in einen Sieg um. Jude Bellingham, der wieder vorzüglich aufspielende Ex-Dortmunder, drückt den Ball in der 94. Minute aus dem Gewühl heraus zum 1:0 über die Linie. Die Königlichen jubeln, Union leidet. Ohne Ertrag.
Was hatten sie dem Superstar-Ensemble für einen leidenschaftlichen Kampf geboten, wie waren sie gerannt, wie hatten sie gegrätscht und sich gegen die Wucht in Weiß gewehrt. Sie waren nicht in Furcht von den Giganten in Weiß erstarrt. Sie waren nicht schüchtern, sondern griffig, giftig. Sie waren taktisch perfekt eingestellt und setzen den Plan fast perfekt um, mit Pfostenglück freilich und einem starken Torwart. Sie hatten vergessen lassen, was ihnen in der Bundesliga zuletzt widerfahren war. Zwei Niederlagen nämlich. Und hernach hatten sie sich gewarnt, dass man wieder die Sinne schärfen müsse. Nur zur Erinnerung: Union spielt gerade einmal seine fünfte Saison in der Bundesliga. Es ist die vielleicht rasanteste Aufstiegsgeschichte im deutschen Fußball und darüber hinaus. Die Stufen Klassenerhalt und Ankommen haben die Berliner überflogen - wie Graugänse auf ihrem langen Weg ins Winterlager flogen sie immer weiter, bis in die Königsklasse.
Kampf und Widerstand, das waren die Stichworte
Und bis kurz vor Anpfiff hatten sie noch immer nicht begriffen, was ihnen da gelungen war. Dass sie in wenigen Stunden im legendären Estadio Santiago Bernabeu spielen würden. Dass ihnen zu Ehren die Hymne von Tony Britten gespielt werden würde. Pünktlich zu diesem historischen Ereignis durften die Eisernen auch ihre neuerworbene Legende zum ersten Mal auf dem Rasen begrüßen. Leonardo Bonucci war fit und gab den Souverän in einer auf diesem Niveau äußerst unerfahrenen Mannschaft. Kampf und Widerstand, das waren die Stichworte für diesen Abend. Und kaum jemand in Europa stand in den vergangenen beiden Dekaden so sehr dafür wie der Italiener.
So lief es dann auch. Real machte das Spiel, drückte erst vorsichtig, dann immer wütender. Union verteidigte, wollte sich befreien. Das gelang manchmal, aber ohne Ertrag. Nur einmal gab's ein Raunen, kurz nach der Pause knallte Nationalspieler Robin Gosens den Ball ans Außennetz. Näher an einem Tor waren die Berliner an diesem Abend nicht. Von einem 1:0 waren und blieben sie weit entfernt, nicht aber vom 0:0. Doch eine kleine Unaufmerksamkeit ließ alle Träume platzen. Den Applaus der Fans, die im Stadion waren, gab es trotzdem. Es waren nicht alle gewesen, einige hatten aus Frust über Polizei-Schikanen auf den Besuch verzichtet.
32 Mal hatten die Madrilenen auf das Tor der Unioner geschossen, nur vier Versuche sind für die Gäste notiert. Die Königlichen spielten 813 Pässe, die Berliner nur 263. Über drei Viertel der Spielzeit hatten die Spanier den Ball an ihren Füßen, sie gewannen 56 Prozent aller Zweikämpfe. Mehr Zahlen der Dominanz gibt es kaum. Aber all das war erwartbar. Reals Kader ist fast eine Milliarde schwer, Unions Aufgebot steuert auf einen Marktwert von 200 Millionen Euro zu. Real schmückte sich im Sommer mit 100-Millionen-Euro-Sensation Bellingham. Union überwies mit 13 Millionen Euro für Nationalspieler Gosens so viel Geld wie nie zuvor an Inter Mailand.
Zahlen der absurden Dominanz
Große Zahlen, niedlich im Vergleich zu den Königlichen. Gigantisch dafür, dass es vor sechs Jahren noch gegen Arminia Bielefeld gegangen war, als es am sechsten Spieltag ein mühsames 1:1 gab. Von den Helden von einst ist nur noch Christopher Trimmel dabei. Kleine Randnotiz: Damals stand ein Kroos auf dem Feld, Felix sein Name, mittlerweile vornehmlich Podcaster. Gemeinsam mit seinem Bruder Toni. Und damit zurück ins Jetzt. Zurück in die Champions League. Der Kroostoni kam erst spät, in der 65. Minute. Und sorgte für mehr Wucht, für noch mehr Dominanz. Aber Unions Widerstand blieb eisern. Und sonst war da ja immer noch Torwart Frederik Rönnow, der ein ganz starkes Spiel zeigte. Der befand: "Das ist natürlich ganz bitter. Es war eine sehr gute Leistung von der ganzen Mannschaft. Natürlich sind wir traurig, aber da ist auch ein bisschen Stolz."
Aber natürlich haderten sie mit dem Fußball-Gott, der es doch so gut mit ihnen gemeint hatte. Der sich wie schon in der Bundesliga so lange auf ihre Seite geschlagen und im Bernabeu die Expected Goals, diesen Indikator für Überlegenheit, wieder auf den Kopf gestellt hatte. Am Ende stand dort bei Real Madrid ein Wert von 3,57 und bei Union einer von 0,23. Die letzten Nachkommastellen aufseiten der Königlichen hatten alles verändert. "Am Schluss ist Fußball immer gerecht, aber wenn du kurz davor bist, einen Punkt mitzunehmen, dann tut es auch weh, weil es die Mannschaft defensiv sehr gut gemacht hat", trauerte Trainer Urs Fischer. Und Rekordneuzugang Gosens brachte es auf den Punkt. "Man hat heute das schönste und das hässlichste Gesicht des Fußballs für uns gleichzeitig gesehen", sagte er: "Es ist unfassbar brutal, wenn du so kurz vor Schluss ein Tor bekommst. Am Ende ist es scheiße, sagen wir es so, wie es ist."
Drei Niederlagen infolge stehen nun zu Buche. RB Leipzig, VfL Wolfsburg und nun Real Madrid. Letztmals passierte das mitten in der Pandemie. Die Zeiten waren zu rasant, um zu verlieren. Doch mit den Siegen steigen die Ansprüche. Am Wochenende müssen sie zurück in den Alltag, dann schaut Hoffenheim in Köpenick vorbei. Ein Spiel, das vielleicht der noch größere Test sein wird. Denn dort geht es um den Alltag nach der großen "Scheiße" von Bernabeu.
Dass es nicht gut wurde, dafür zeichnete der ehemalige Bundesliga-Superstar Bellingham verantwortlich. Sein zielstrebiger Lauf hinein in den Strafraum, als der Rest nur auf Fede Valverdes Schuss starrte und der Engländer sich als einziger in den gefährlichen Raum bewegte, hatte die Köpenicker aus dem Traum bitter erwachen lassen. Der 20-jährige Strafraumschleicher war später voll des Lobes über den Gegner aus der deutschen Hauptstadt.
"Union war brillant. Ihre Organisation war großartig. Ich habe drei Jahre lang mit Dortmund gegen Union gespielt und es war immer sehr schwer. Das haben sie heute fortgeführt", sagte Bellingham bei DAZN: "Ich habe großen Respekt vor diesem Team und mag ihren Trainer sehr." Er, der in Dortmund häufig von der Mentalität der Mannschaft auf den Boden der Tatsachen gedrückt wurde, lobte jedoch auch den Willen der Königlichen. "Wir waren geduldig. Wir wussten, dass wir bis zum Ende Chancen haben würden", sagte der Siegtorschütze, der für sein perfektes Timing geadelt wurde. "Bellingham bringt in letzter Minute die Mauer zum Einsturz", schrieb Spaniens Zeitung "Sport". Für Bellingham "ist es nie zu spät" urteilte die "As". Und deswegen sorgte er für Unions brutalen Aufschlag in der neuen Glitzerwelt.
Quelle: ntv.de