Kritiker "waren im Unrecht" Transgender-Läuferin Petrillo rennt gegen den Unmut
07.09.2024, 18:18 Uhr
Valentina Petrillo war im Para-Sprint chancenlos.
(Foto: REUTERS)
Ihr Start bei den Paralympics sorgt für Aufregung. Weil Valentina Petrillo lange als Mann gelebt hat, ist ihre Teilnahme beim Sprint umstritten. Auch eine deutsche Konkurrentin hat Zweifel - ist dann aber deutlich schneller. Die Italienerin bleibt ohne Medaille, ist aber trotzdem stolz, wie sie im ntv-Interview sagt.
Valentina Petrillo ist auch ohne Medaille glücklich. Sie hat sich ihren großen Traum mit der Teilnahme an den Paralympics in Paris erfüllt. "Es war ein Anfang - mit den 80.000 Menschen hier im Stadion und allen, die es gesehen haben. Hier werden Barrieren überwunden. Hier werden Träume wahr", sagte sie ntv/RTL im Interview.
Dabei sein ist alles, das olympische Motto gilt auch für die 51-jährige Italienerin - denn Petrillos Qualifikation für die 200 Meter und die 400 Meter war umstritten. Sie hat lange als Mann gelebt und als dieser auch über viele Jahre unzählige Wettkämpfe bestritten, ehe sie ihre Transition vollzogen hat.
Ab Januar 2019 unterzog sich Petrillo einer Hormon-Therapie. Ihr Testosteronwert liegt nun beständig unter einem erforderlichen Wert, deswegen darf sie nach den Regeln des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) bei den Paralympics antreten. Anders wäre es beim Leichtathletik-Weltverband der Nicht-Behinderten. Ein Durcheinander, das nicht gerade förderlich ist. Auch der Präsident des IPC, Andrew Parsons, verwies darauf, dass die Regeln "für den Moment" gelten würden. Er wünsche sich eine "einheitliche" Lösung, erklärte der Funktionär in einem "BBC"-Interview und fügte an, dass Petrillo in Paris willkommen sei. Schließlich seien die Paralympics ein Botschafter für Inklusion.
Deutsche sieht Petrillos Start kritisch
Die Aufregung vor Petrillos Teilnahme am Sprint aber war groß. Der Deutsche Behindertensportverband hielt sich dazu erst einmal bedeckt, wartete ein internes Treffen ab, um sich dann zu positionieren. Delegationsleiter Karl Quade erklärte: "Wir respektieren jetzt erst einmal die Entscheidung der internationalen Verbände, fordern für die Zukunft aber klare Regeln - World Athletic hat diese Regeln, Para-Athletic nicht." Der ARD-"Sportschau" zufolge erklärte der Deutsche Behindertensportverband, er habe "große Expertise im Umgang mit Minderheiten". Außerdem setze man sich "tagtäglich für die Verwirklichung ihrer Rechte ein. Dazu gehört die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenso wie die Selbstverwirklichung eines jeden Menschen - auch hinsichtlich der sexuellen Identität." Aber: "Die Freiheit Einzelner darf nicht zu einer Benachteiligung anderer führen."
Denn es ist nun einmal so: Weil Petrillo sich qualifizierte, musste eine andere Italienerin zuschauen. Und auch für die ausländische Konkurrenz bedeutet es viel Unklarheit. "Grundsätzlich soll im Alltag jeder so leben, wie er sich wohlfühlt. Im Leistungssport finde ich es aber schwierig", sagte Katrin Müller-Rottgardt der "Bild". Die Deutsche war in derselben Startklasse T12 der Sehbeeinträchtigten am Start. Petrillo habe "lange als Mann gelebt und trainiert, da steht im Raum, dass da körperliche Voraussetzungen anders sind als bei jemandem, der als Frau zur Welt kam. Sie könnte somit Vorteile haben."
Inzwischen ist klar: Petrillo ist nicht zu einer Medaille gesprintet, weder über 400, noch über 200 Meter. Im Halbfinale über die kürzere Strecke stand sie sogar im selben Lauf wie Müller-Rottgart, die Deutsche war 0,77 Sekunden schneller als Petrillo. Die Italienerin sagte daher ntv/RTL im Interview: "Ich bin italienischen Rekord gelaufen. Mein Halbfinal-Aus über 200 Meter zeigt aber auch, dass die Leute, die mir einen Vorteil unterstellt haben, weil ich mal ein Mann war, im Unrecht waren."
Sohn Lorenzo in Paris dabei
Als sie 14 Jahre alt war, wurde bei Petrillo die Netzhautkrankheit Morbus Stargardt diagnostiziert, die mit einer fortschreitenden Einschränkung des Sehvermögens einhergeht. Sie betonte gegenüber ntv/RTL: "Ich persönlich erlebe zwei Arten der Diskriminierung: als Mensch mit Behinderung und als Transgender-Frau. Jetzt war ich so wie ich immer sein wollte." Deswegen haben die Spiele in Paris eine so große Bedeutung für sie. "Ich hatte den Ehrgeiz, das Vorbild zu sein, das mir als Transgender-Person gefehlt hat. Und ich glaube, das habe ich geschafft. Meine Botschaft ist: Lass dich nicht unterkriegen, was auch immer passiert. Gib nicht auf, glaub daran, dass das Leben dir immer eine zweite Chance gibt. Ich hatte auch meine Schwierigkeiten, ich hatte auch Angst. Aber jetzt wissen alle, dass es jemanden gibt, der es geschafft hat, der vorangeht."
2016 trat in Rio de Janeiro mit der Niederländerin Ingrid van Kranen eine transsexuelle Athletin im Para-Diskuswurf an. Bei den Olympischen Spielen zuletzt in Paris standen die Kämpfe der Boxerinnen Imane Khelif aus Algerien und Lin Yi-ting aus Taiwan im Blickpunkt. Die Diskussionen gingen weit über die Frage des sportlich fairen Wettkampfs hinaus und erfassten auch höchste politische Kreise. In der gesellschaftspolitisch aufgeheizten Stimmung erfuhren beide Athletinnen im Internet viele Anfeindungen. Das Internationale Olympische Komitee bezeichnete vorgenommene, aber nicht näher erklärte angebliche Geschlechter-Tests der International Boxing Association als eine "willkürliche Entscheidung ohne ordnungsgemäßes Verfahren" und ließ Khelif und Lin teilnehmen.
Bei Petrillo ist die rechtliche Lage eindeutig. "Ich bin ein Transgender-Vater und habe mir immer die Schuld dafür gegeben, dass ich so bin, wie ich bin. Das tue ich immer noch. Aber Sport hilft mir, das zu überwinden", sagte sie ntv/RTL. Und die Unterstützung von Sohn Lorenzo ist ihr in Paris sicher: "Mein Sohn und auch meine Ex-Frau sind hier. Ja, es ist leider so, wir haben uns scheiden lassen. Aber sie ist hier. Und ich hoffe, dass ich meinen Sohn stolz machen konnte, das ist das Wichtigste."
Quelle: ntv.de, ara/dpa