"Ich hab meinen Scheißsattel verloren" Vogel erlebt goldenen Bahnrad-Wahnsinn

Überglücklich spaziert Kristina Vogel nach dem Gewinn ihrer Goldmedaille durch das Olympische Velodrom.

Überglücklich spaziert Kristina Vogel nach dem Gewinn ihrer Goldmedaille durch das Olympische Velodrom.

(Foto: dpa)

Im Finale des Bahnrad-Sprints erfährt Kristina Vogel eine goldene Erlösung - obwohl sie ein entscheidendes Teil ihres Rads verliert. Die surreale britische Gold-Dominanz ist damit gebrochen. Über eine Lex Britannia wird trotzdem diskutiert.

Mitten im Rennen wäre noch verrückter gewesen. Aber auch so raubte Kristina Vogel dem Olympischen Velodrom kurz die Fassung. Sich selbst ja auch. Das Publikum grübelte noch, was genau da direkt nach dem Zieleinlauf gerade zu Boden gefallen war, die 25-Jährige wusste es sofort: "Ich hab einfach meinen Scheißsattel verloren." Ein Sattelverlust gehört ja generell zu den unerfreulicheren Dingen, die einem auf dem Fahrrad passieren können. Vogel unterlief das Missgeschick im zweiten Sprintfinale gegen die Britin Rebecca James. In voller Fahrt. Beim Versuch, mit einem vehementen Zielwurf gleich ihren ersten Matchball zu Olympiagold zu verwandeln.

Schaffte es nicht mit ins Ziel: Kristina Vogels "Scheißsattel".

Schaffte es nicht mit ins Ziel: Kristina Vogels "Scheißsattel".

(Foto: imago/Moritz Müller)

"Es war so ein Scheißgefühl. Du machst den und merkst, du hast keinen Gegenhalt mehr", beschrieb sie die Szene: "Ich dachte, ok, das wars. Entscheidungslauf. Und ich hab geguckt, dass ich mich irgendwie auf meinem Fahrrad halte und nicht auf die Fresse falle. In der Frequenz stehend zu fahren geht halt nicht."

Erst nach einer Runde Bahnradbalance durchs Olympia-Oval, beim Jubel von Bundestrainer Detlef Uibel, da sei ihr klar geworden: "Oh verdammt, ich hab gewonnen." Anschließend stieg sie nicht vom Rad, sie fiel einfach auf die Holzbahn. Schon wieder fassungslos, dafür als "erster Olympiasieger ohne Sattel." Und mit den "olympischen Siegern als Mechaniker an meiner Seite". Die hatten die nach dem Keirin plötzlich aufgetretenen Sattelprobleme zumindest so gut hinbekommen, dass es für den goldenen Zielwurf reichte. Und Überschwang: "Fabian Hambüchen hat gesagt, er will das deutsche Haus abfackeln. Da soll er was übriglassen, ich würde gern mitmachen."

Partycrasher beim britischen Bahnrad-Festival

Vogels Fotofinish ohne Sattel.

Vogels Fotofinish ohne Sattel.

(Foto: imago/Eibner)

Nur 4/1000 Sekunden lag Vogel im zweiten Sprintfinale vor James, eine Winzigkeit, selbst auf dem Zielfoto. Im Halbfinale hatte sie schon die Britin Katy Marchant souverän ausgeschaltet. Nun wurde sie endgültig zum Partycrasher beim surrealen britischen Bahnrad-Festival in Rio de Janeiro. Allein dreimal Gold gewann Jason Kenny, er siegte auch im abschließenden Keirin-Wettbewerb. Der deutsche Weltmeister Joachim Eilers wurde Vierter - und monierte anschließend wie Bundestrainer Uibel eine Sonderbehandlung für die Briten.

Grund war ein Regelverstoß von Kenny und des malaysischen Bronze-Gewinners Azizulhasni Awang, die beide das Derny deutlich zu früh überholt hatten. "Eigentlich eine Disqualifikation", sagte Eilers. Doch eine Strafe blieb wie schon im Omnium am Montag gegen den Briten Mark Cavendish aus. Insgesamt holte Großbritannien in Rio sechs von zehn Bahnrad-Titel und ein Drittel aller möglichen Medaillen.

Mit Malerei zum Olympiasieg

Der Olympiasieg im Damensprint ging nach Thüringen. Nach Bronze im Teamsprint mit ihrer Partnerin Miriam Welte war es für Vogel die zweite Medaille in Rio, nach Team-Gold 2012 in London der zweite Olympiasieg. "Es ist halt ein anderer Olympiasieg, es ist ja im Einzel jetzt. Man kann das schwierig miteinander vergleichen, weil im Team zu gewinnen auch geil ist", sagte Vogel. Aber: "Der Sprint ist die Königsdisziplin auf der Bahn. Ich bin umso stolzer, dass ich genau diese Disziplin gewonnen habe." Dann präzisierte sie nochmal: "Es macht mich so, so, so, so stolz."

Es war auch ein Triumph über den "Matsch in der Birne". Der Druck an den fünf Wettkampftagen sei "unheimlich hoch" gewesen, vor allem nach "dem Drama im Keirin", so empfand Vogel Platz 6. Ihr Rezept für Frustbewältigung und runterkommen: Mandalas ausmalen, diese indischen Figuren, "so mit Sprüchen drauf". Gestern habe sie "Carpe diem" angefangen, genieße den Tag, "passt auch ganz gut, denke ich".

Die Idee zur Maltherapie war von Sprint-Partnerin Miriam Welte gekommen, sie gab Vogel die Mandalas. Wer Vogel in Rio darüber reden hörte, konnte fast glauben, sie hätte sich eigentlich zum Olympiasieg gemalt. Das Malen "hat mir so geholfen", erzählte Vogel gelöst, "dass ich mich vor allem nach dem Keirin echt mal runterfahren konnte und wieder auf das Klassische konzentrieren konnte: einfach mal Sprint fahren und gucken was dabei rauskommt." Es wurde ein denkwürdiger Zielwurf. Am Ende ohne Sattel. Aber mit Gold.

Quelle: ntv.de

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