Wirtschaft

"Ewiger Problemfall" war einmal Bangladesch, der neue Star in Südasien

Frauen wie Scheich Hasani, Premierministerin von Bangladesch, haben großen Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg des Landes.

Frauen wie Scheich Hasani, Premierministerin von Bangladesch, haben großen Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg des Landes.

(Foto: picture alliance / NurPhoto)

Günstige Kleidung - in Deutschland ist Bangladesch vor allem für seine Sweatshops bekannt. Aber die schweißtreibende und gefährliche Arbeit ist nicht nur Quälerei, sondern auch Wirtschaftsmotor. Denn das südasiatische Land hat seine großen Nachbarn wirtschaftlich abgehängt.

Bangladesch hat eine ungewöhnliche Geschichte. Das Land liegt in Südasien und grenzt im Südosten an Myanmar, ansonsten aber nur an Indien. Im Westen, Norden und Osten wacht der große Nachbar. Trotzdem hieß Bangladesch früher Ostpakistan - obwohl der Namensgeber noch heute gut 2200 Kilometer oder drei Flugstunden entfernt liegt.

Deshalb ist Bangladesch auch gleich zweimal unabhängig geworden. Einmal 1947 als Teil des neuen Pakistans. Damals hatte die Besatzungsmacht, das Vereinigte Königreich, den Südkontinent verlassen. Und dann noch einmal 1971, als die Bangladescher in einem Unabhängigkeitskrieg deutlich machen, dass sie nicht Ostpakistan sein wollen.

Aber der Pfad des jungen Landes war schon immer vorgezeichnet: "In den 70er-Jahren haben viele Beobachter gesagt, dass das Land ein permanentes Problem bleiben wird. Bangladesch ist zu arm und wird sich nie entwickeln", fasst Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik die damalige Meinung zusammen. "Es gab auch eine sehr abfällige Bemerkung von Herrn Kissinger über die zukünftige Entwicklung des Landes, die nicht sehr positiv war."

Abgestempelt von Kissinger

Herr Kissinger meint den früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Der hat Bangladesch 1971 kurz nach der Unabhängigkeit des Landes mit anderen US-Diplomaten als "basket case" abgestempelt. Als "ewiger Problemfall", der es nie schaffen wird, seine Finanzen zu ordnen; dem man immer wird helfen müssen, seine Bevölkerung zu ernähren. Aber Kissinger und seine Experten haben sich geirrt. Das junge Land hat die Globalisierung genutzt, um sich aus der Armut zu befreien. Unter anderem das Finanzportal "Bloomberg" hält die junge 160-Millionen-Einwohner-Nation für den neuen Star in Südasien. Eine Beschreibung, die auch Südasien-Experte Wagner zutreffend findet.

Im Mai hat die Regierung von Bangladesch die neuesten Wirtschaftszahlen vorgestellt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist vergangenes Jahr trotz Corona-Krise um neun Prozent gewachsen, pro Kopf liegt es damit bei 2227 Dollar. Sehr, sehr wenig, wenn man die Summe mit Deutschland vergleicht. Das deutsche BIP lag vor der Pandemie bei knapp 46.500 Dollar pro Kopf.

Aber wenn man Bangladesch mit den anderen Staaten aus der Region gegenüberstellt, sieht das Bild gleich ganz anders aus. Pakistans BIP beträgt pro Kopf nur gut 1500 Dollar - obwohl das Land 1971 nach der Spaltung noch 70 Prozent reicher war als Bangladesch, obwohl Pakistan viel Geld aus dem Ausland erhalten hat. Allein seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben die USA bis heute mehr als 33 Milliarden Dollar als Militär- und als Entwicklungshilfe an Islamabad überwiesen. Trotzdem ist das frühere Ostpakistan inzwischen laut "Bloomberg" 45 Prozent wohlhabender als der Bruder im Westen. Das pakistanische Militär hat die Entwicklung behindert.

Militär stoppt Pakistan

"Es gibt viele Menschen in Pakistan, die sagen: Bangladesch ist genau das Beispiel für wirtschaftliche Entwicklung, das wir in Pakistan sein wollten", erklärt SWP-Forscher Wagner den Rollentausch. Aber das Militär mit seiner dominierenden Rolle habe einen beträchtlichen Teil des Staatshaushaltes für sich beansprucht, deshalb seien viele Reformen ausgeblieben.

Auch in Bangladesch gab und gibt es Phasen militärischer Diktatur, auch das politische System des "ewigen Problemfalls" weist autokratische Züge auf. Das Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild wird von zwei Parteien dominiert. Das ist zum einen die Awami-Liga, die Partei des Staatsgründers Scheich Mujibur Rahman, der 1971 die Unabhängigkeit errungen hat. Und das ist die Bangladesh National Party. Die beiden Parteien können sich nicht besonders gut leiden. Je nachdem, welche von ihnen gerade regiert, geht die andere in Fundamentalopposition, wirft der Regierung Wahlbetrug und Korruption vor. Straßenunruhen und Generalstreiks, die das Land destabilisieren, gibt es häufiger.

Trotzdem ist die Wirtschaft von Bangladesch in den letzten Jahren konstant um mehr als sechs Prozent im Jahr gewachsen. Denn die Regierung habe sich eigentlich nie einmischt, sagt Christian Wagner. Dadurch hätten die Unternehmen so arbeiten können, wie sie es für richtig hielten.

Ein lukrativer Höllenjob

In Deutschland sind aus Bangladesch vor allem die sogenannten Sweatshops bekannt. Ausbeutungsbetriebe, in denen vor allem Frauen rund um die Uhr und schlecht bezahlt Kleidung für den westlichen Markt produzieren. Fabriken, die gerne mal explodieren. Ein Höllenjob. "Aber natürlich auch ein großer Devisenbringer", erklärt Südasien-Experte Wagner den gefährlichen Wirtschaftsmotor. "Der zweite große ist der Export von Arbeitskräften. Es gibt aus Bangladesch heraus eine große Arbeitsmigration in die Golfstaaten, aber auch nach Südostasien. Das heißt, die Rücküberweisungen sind ein zweites wichtiges Standbein."

Zwischen 2011 und 2019 ist die Zahl der Exporte von Bangladesch jedes Jahr um 8,6 Prozent gestiegen. Der weltweite Schnitt lag im gleichen Zeitraum bei 0,4 Prozent. Dafür sind dank der Sweatshops mittlerweile sehr viele Frauen verantwortlich. Vor gut 20 Jahren ist etwa ein Viertel der weiblichen Bevölkerung arbeiten gegangen, heute ist es mehr als ein Drittel. Anders als in Indien und Pakistan, wo der Anteil der weiblichen Bevölkerung am Arbeitsmarkt seit Jahren stetig zurückgeht.

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"Die Textilproduktion ist ein großes Reservoir für die Beschäftigung von Frauen. Das ruft natürlich auch immer Probleme mit den Arbeitsbedingungen und den Löhnen hervor. Aber man muss auch quasi positiv konstatieren: Das sind Arbeitsmöglichkeiten, die sie in anderen Ländern nicht haben", sagt Wagner. "Das hat dazu beigetragen, dass der Anteil der Frauen am Arbeitsprozess deutlich höher ist als in den Nachbarstaaten. Und es hat über die Jahre auch dazu geführt, dass sich die Situation der Frauen im Vergleich zu den Nachbarstaaten doch deutlich verbessert hat."

Die besondere Rolle der Frau zeigt sich in Bangladesch auch in der Politik. Beide großen Parteien werden von Frauen angeführt. Die eine, Scheich Hasina, ist derzeit Premierministerin, die andere, Khaleda Zia, war auch schon zweimal Regierungschefin. Im Parlament sind 50 von insgesamt 350 Sitzen für Frauen reserviert.

Was kommt nach den Sweatshops?

Aber natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt. Ja, Bangladesch hat mittlerweile auch Indien beim BIP pro Kopf überholt. Vergangenes Jahr hat der riesige Nachbar 1947 Dollar und damit fast 300 Dollar weniger als der "ewige Problemfall" erwirtschaftet. Aber Indiens Wirtschaft ist deutlich diverser. Es gibt riesige Industriekonzerne; Amazon, Facebook und Google stecken Milliarden in die größte Internetwette der Welt. Apple baut einen Teil seiner iPhones ebenfalls im Subkontinent zusammen.

Und Bangladesch? Hat Textilien, billige Arbeitskräfte und Dienstleistungen. Als Exportnation für Muskelkraft fürchtet das junge Land Korruption, steigende Zölle und geschlossene Grenzen. Und, dass die verfeindeten Parteien die eigene Bevölkerung immer mehr radikalisieren.

Mittelfristig muss sich Bangladesch breiter aufstellen, damit der neue Stern von Südasien nicht wie eine Sternschnuppe verglüht. Digitalisierung und IT, das sind die Zukunftssektoren, sagt Christian Wagner. Wie überall. Finanziert mit milliardenschweren Investitionen aus China. Das Ziel? Weiter wachsen. Oder wie es ein pakistanischer Ökonom im Artikel von "Bloomberg" erklärt: "Es besteht die Möglichkeit, dass wir 2030 Wirtschaftshilfen aus Bangladesch erhalten."

Quelle: ntv.de

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