Brennstäbe aus dem Möbellager Frankreich lädt Putins Atomkonzern ins Emsland ein


Die Anwohner von Lingen haben kein Interesse an der französisch-russischen Zusammenarbeit in ihrer Stadt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Für Emmanuel Macron ist Wladimir Putin der letzte "Imperialist” Europas. Doch wenn es um das Wohl der französischen Atomwirtschaft geht, drückt er ein Auge zu: Der französische Atomkonzern Framatome möchte mit den Kriegsverbrechern von Rosatom Brennelemente herstellen - im Emsland.
Emmanuel Macron kann Wladimir Putin nicht ausstehen. So klingt es zumindest, wenn der französische Präsident den russischen Staatschef als "gefräßiges Raubtier" bezeichnet oder als letzten "Imperialisten" Europas, der eine "dauerhaft destabilisierende Macht" und eine "Bedrohung für Frankreich und Europa" ist.
Doch wenn es um das Wohl der französischen Atomwirtschaft geht, sieht der französische Präsident über die Differenzen hinweg: Die beiden staatlichen Atomkonzerne Framatome und Rosatom arbeiten seit Jahren erfolgreich zusammen, daran hat der russische Angriff auf die Ukraine nichts geändert. In Zukunft möchten die Unternehmen ihre Zusammenarbeit verstärken und gemeinsam Brennelemente für alte sowjetische Reaktoren in Europa herstellen - und zwar in Deutschland: Framatome und Rosatom haben sich die Brennelementefertigung im niedersächsischen Lingen für ihr Projekt ausgeguckt.
Fertigung ohne Kunden
In der Stadt im Emsland werden bereits seit 1979 Brennelemente hergestellt. Betreiber der Fertigung ist Advanced Nuclear Fuels GmbH (ANF), die Brennstoffsparte von Framatome. Framatome verdient sein Geld mit dem Bau und der Instandhaltung von Atomkraftwerken, etwa Reaktoren und Turbinen. Beide Unternehmen gehören zum staatlichen französischen Stromkonzern EDF.
Wichtigster Kunde der Fertigung in Lingen waren bis zur Atomkatastrophe von Fukushima die deutschen Atomkraftwerke. Nach dem deutschen Atomausstieg nahm man das Ausland als Ersatz in den Blick: Die meisten Brennstäbe verkauft ANF inzwischen nach Belgien, Schweden und Finnland. Auch Atomkraftwerke der französischen Flotte gehören zu den Kunden.
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Finanziell ist die Situation jedoch angespannt: Laut den Grünen können die neuen Märkte die deutschen Atomkraftwerke nicht ersetzen. Der Partei zufolge ist die Fertigung in Lingen nur zu 23 Prozent ausgelastet. Auch bei der ANF-Mutter Framatome sind die Kassen klamm: Beim Bau des finnischen Superreaktors Olkiluoto gab es so viele Probleme, dass der französische Staat das Unternehmen vor wenigen Jahren mit 4,5 Milliarden Euro Steuergeldern vor dem Kollaps retten musste.
Russische Brennstäbe "Made in Germany"
ANF benötigt also dringend neue Kundschaft, um die Fertigung in Lingen auszulasten und Geld zu verdienen: 19 alte sowjetische Atomreaktoren in Bulgarien, Finnland, Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Diese wurden in der Vergangenheit vorwiegend von der Rosatom-Tochter TVEL beliefert: "Die Brennelemente für alte sowjetische Reaktoren haben eine besondere Form und besondere Eigenschaften", sagt Industrieexperte Sebastian Stier im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Sebastian Stier ist Physiker, promovierter Informatiker und hat viele Jahre für Siemens gearbeitet. Später wechselte er die Seiten und vertrat als Patentanwalt einer Münchner Kanzlei viele Jahre lang Erfinder und Unternehmen vor dem europäischen Patentamt. Im aktuellen Weltnuklearbericht (WNISR 2025) zeigt Stier in diesem Jahr erneut die Verflechtungen von Framatome und Rosatom in Lingen auf.
Das Problem ist: Die osteuropäischen Länder und Finnland versuchen seit Jahren, sich aus der Abhängigkeit von TVEL zu lösen. Speziell seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sie wenig Interesse an russischen Brennstäben. Doch ANF kann die Brennstäbe nicht allein fertigen, das Unternehmen strebt in Lingen eine Kooperation an: Niemand Geringeres als TVEL persönlich soll das nötige Know-how bereitstellen. Wer bei ANF kauft, erhält also weiterhin Brennstäbe aus russischer Produktion, dann allerdings "Made in Germany".
Eine Alternative haben die europäischen Kunden vermutlich nicht, die Konkurrenz auf dem Markt ist überschaubar: "Der einzige Mitbewerber ist Westinghouse", sagt Stier. "Aber Framatome sieht in dem nordamerikanischen Unternehmen anscheinend einen Konkurrenten und versucht mithilfe von Rosatom und TVEL in den Markt einzudringen."
Atomkraftwerke und Atomwaffen
Rosatom ist ein beunruhigender Gigant. Der Staatskonzern kontrolliert 450 Produktions- und Forschungsstätten in Russland und hat mehr als 350.000 Mitarbeiter. Er steuert sowohl die zivile als auch die militärische Atomindustrie des Landes und stellt neben Atombrennstoffen auch Atomwaffen her. Das Tochterunternehmen Atomflot baut derzeit eine atomgetriebene Flotte für das russische Regime. Und wie das Beispiel des Atomkraftwerks Saporischschja zeigt: Rosatom beteiligt sich auf Befehl der russischen Führung aktiv am Krieg gegen die Ukraine.
Trotzdem ist Rosatom anders als die russische Öl- oder Gasindustrie nicht mit EU-Sanktionen belegt, denn die genannten EU-Staaten sind abhängig vom russischen Staatskonzern. Sie benötigen die Brennstäbe von TVEL für ihre sowjetischen Reaktoren. Ungarn hat Rosatom gar mit dem Bau von neuen Reaktorblöcken beauftragt.
Es ist also nachvollziehbar und wünschenswert, dass sich Finnland, Bulgarien und Co. nach alternativen Brennstofflieferanten wie Westinghouse umschauen. Das amerikanisch-kanadische Unternehmen liefert gern. Noch reichen die Kapazitäten aber nicht aus, um den gesamten Bedarf in Europa zu bedienen. "Das ist keine Frage des Geldes", sagt Industrieexperte Stier. "Diese Brennstoffkreisläufe sind langfristig. Die Prozesse müssen qualifiziert werden, weil es in den einzelnen Ländern strenge Vorschriften gibt. Das geht alles nicht von heute auf morgen."
Framatome ist überfordert
Um sich aus der russischen Abhängigkeit zu befreien, haben Unternehmen wie der staatliche tschechische Energieversorger ČEZ deshalb schon vor Jahren bei Framatome angeklopft. Erfolgreich: Die Franzosen arbeiten seit 2018 an einem eigenen Design, das mit sowjetischen Reaktoren kompatibel ist. In Lingen soll eine Produktionslinie nur dafür entstehen.
Doch Framatome und ANF hinken bei der Entwicklung dem Zeitplan hinterher. Eigentlich hätten sie schon vergangenes Jahr die ersten Brennstäbe sowjetischer Bauart an Tschechien liefern müssen und Ende dieses Jahres an Bulgarien. Die Slowakei und Ungarn haben Lieferverträge für die Zeit ab 2027.
Mutmaßlich um diese vertraglichen Verpflichtungen erfüllen zu können, plant Framatome seit Ende 2019 eine Kooperation mit TVEL. Das geht aus dem aktuellen Weltnuklearbericht WNISR 2025 hervor. Im Februar 2021 haben sie zusammen bei den deutschen Behörden eine Genehmigung für ein Joint Venture in Lingen beantragt. Im März 2022 reichte ANF einen neuen Antrag ein: Wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nahm ANF Abstand vom Joint Venture mit TVEL. Stattdessen beantragte das Unternehmen eine "Erweiterung der bestehenden Anlagen", um die sowjetischen Brennelemente "unter Lizenz" herzustellen, wie es heißt: ANF möchte sie in Lingen mit den Anlagen von TVEL fertigen, aber ohne deren Mitarbeiter.
Über diesen Antrag ist bis heute nicht entschieden. Er liegt beim niedersächsischen Umweltminister Christian Meyer von den Grünen. Er ist wie viele andere Menschen im Emsland gegen diesen Plan. Einerseits, weil man nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mit Russland zusammenarbeiten möchte. Andererseits, weil Rosatom-Mitarbeiter in einer Brennelementefabrik mitten in Deutschland ein Sicherheitsrisiko wären. Es geht um Spionage und auch Sabotage.
Brennstäbe aus dem Möbellager
Das niedersächsische Umweltministerium darf den Antrag von ANF aber nur auf Grundlage des Atomgesetzes bewerten, sprich: Ein Veto ist nur möglich, wenn in Lingen gegen Sicherheitsbestimmungen wie die Strahlenanforderung verstoßen wird. Das ist jedoch unwahrscheinlich, da die Produktion von Brennelementen bereits ohne besondere Vorkommnisse läuft.
Aus Gründen der nationalen Sicherheit kann nur die Bundesregierung ein Veto einlegen. Doch zumindest Olaf Scholz wollte offenbar keinen Streit mit der französischen Regierung riskieren. Im Weltnuklearbericht 2024 hieß es unter Berufung auf gut informierte Quellen: "Das Kanzleramt möchte in einem Bereich von geringer strategischer Bedeutung nichts unternehmen, was Frankreich als Stolperstein betrachten könnte."
Industrieexperte Stier glaubt daher, dass das niedersächsische Umweltministerium auf Zeit spielt und die Genehmigung des ANF-Antrags mit immer neuen Gutachten hinauszögert. Die Franzosen lassen sich davon jedoch nicht stoppen, sie haben die Fertigungsanlagen in Lingen trotz der fehlenden Genehmigung bereits gemeinsam mit Mitarbeitern von TVEL aufgebaut: in einem alten Möbellager.
"Damit haben sie wahrscheinlich gegen kein Gesetz verstoßen", sagt Stier. "Aber diese Anlagen müssen für die Fertigung in der Brennelementefabrik zum Laufen gebracht werden. Jetzt ist die Frage: Wie soll das möglich sein, ohne dass TVEL-Mitarbeiter die Fabrik betreten? Wie alle anderen industriellen Anlagen muss auch Lingen Qualitätsanforderungen erfüllen. Im Atombereich gibt es besonders strenge Auflagen. ANF sagt, das geht ohne TVEL-Mitarbeiter. Das müssen sie genauer erklären. Was passiert denn, wenn in der Anlage Probleme auftreten? Die Mitarbeiter von ANF haben doch keinerlei Erfahrung mit der Herstellung sowjetischer Brennelemente."
Franzosen an der russisch-ukrainischen Grenze
Die souveräne Lösung ist Stier zufolge offensichtlich: Framatome und ANF sollten nicht mit Rosatom und TVEL zusammenarbeiten, sondern mit Westinghouse. Dann könnten die osteuropäischen Länder und Finnland französisch-nordamerikanische Brennelemente beziehen. Doch die Atomriesen von Macron und Putin sind seit Jahren so eng miteinander verflochten, dass Framatome deutsche Wut in Kauf nimmt, um das Projekt Lingen umzusetzen, und Rosatom einem Konkurrenten dabei hilft, in einen Markt einzudringen, den es bisher kontrolliert.
Tatsächlich sind Framatome und Rosatom nicht nur miteinander verflochten, sondern abhängig voneinander: Der französische Kraftwerkskonzern stellt neben Brennelementen auch Dampfturbinen her. Diese wandeln in einem Atomkraftwerk Wärme, die bei der Kernspaltung erzeugt wird, in Strom um. Der einzige Markt für diese Turbinen sind derzeit chinesische und russische Atomkraftwerke, denn sonst baut niemand welche. Sie werden auch in den Reaktoren eingesetzt, die Rosatom im Westen hochzieht: Paks in Ungarn, El-Babaa in Ägypten und Akkuyu in der Türkei. Rosatom benötigt diese Turbinen, bei der Leittechnik für Reaktorsysteme sieht es ähnlich aus.
"Framatome ist Lieferant für die Leittechnik von Kursk 2", sagt Stier. "Das wird derzeit in Russland gebaut, nicht unweit der ukrainischen Grenze. Es war mal geplant, dass Framatome das Leitsystem bis 2025 liefert, aber davon hört man nichts mehr, weil Herr Macron das natürlich nicht in der Zeitung lesen will. Es ist aber stark zu vermuten, dass die französischen Techniker das Leitsystem in den vergangenen Jahren trotzdem eingebaut haben."
Französische Fertigung? Bitte nicht
Der Sachverhalt scheint klar: Wenn die europäische Energieversorgung wirklich unabhängig sein soll, muss die Bundesregierung die Zusammenarbeit von Framatome und Rosatom in Lingen verbieten. Sonst kaufen osteuropäische Kunden und Finnland weiterhin russische Brennelemente, nur mit deutschem Etikett: Die Grünen beschreiben die Fertigung in Lingen als "Schattenflotte der russischen Atomindustrie". Sie haben im Bundestag einen Antrag gestellt, um Framatome die Fertigung der russischen Brennelemente in Lingen zu verbieten. Ausgang? Offen.
Sebastian Stier befürchtet allerdings, dass die Bundesregierung das Geschäft genehmigen wird, um Frankreich nicht vor den Kopf zu stoßen. Das scheint die französische Regierung umgekehrt nicht zu interessieren: Framatome betreibt auch in der französischen Heimat eine Fertigung für Brennelemente. Dort könnte das Unternehmen ebenfalls mit Rosatom zusammenarbeiten und eine Produktionslinie für sowjetische Reaktoren aufbauen. Ein Framatome-Verantwortlicher habe bereits erklärt, dass das problemlos gehen würde, sagt Stier.
Aber dann müsste Emmanuel Macron vermutlich der französischen Öffentlichkeit erklären, warum er mit dem letzten "Imperialisten" Europas Geschäfte macht. In Deutschland muss er das nicht.
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Quelle: ntv.de