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26.000 Gefallene identifiziert Wer sind Russlands Kriegstote in der Ukraine?

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Beerdigung von Angehörigen der russischen Streitkräfte auf einem Friedhof im russisch besetzten Luhansk.

Beerdigung von Angehörigen der russischen Streitkräfte auf einem Friedhof im russisch besetzten Luhansk.

(Foto: REUTERS)

Unter 40, nicht aus der Großstadt, oft Häftling: So lässt sich der durchschnittliche russische gefallene Soldat im Ukraine-Krieg am besten beschreiben. Das Nachrichtenportal Mediazona stellt seit Kriegsbeginn Daten zu den getöteten Russen zusammen.

16 Monate nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine, ist die genaue Zahl der gefallenen Soldaten auf beiden Seiten unklar. Von etwa 40.000 russischen Kriegstoten sprachen im März die Amerikaner. Schätzungen der BBC und des russischen unabhängigen Nachrichtendienstes Mediazona zufolge waren es zu dem Zeitpunkt mindestens 35.000 Gefallene. Wie viele Tote seitdem dazugekommen sind, ist unklar. Mediazona-Daten dürften den tatsächlichen Zahlen aber auch deshalb besonders nahe kommen, weil das Portal die russischen Kriegstoten seit Februar 2022 akribisch ermittelt.

Nach jetzigem Stand konnten knapp 26.400 gefallene russische Soldaten zweifelsfrei identifiziert werden. Die Datenbank zeigt Alter, Herkunft und die Stellung der Toten innerhalb des russischen Kriegsapparats.

Exakt 1000 der zweifelsfrei identifizierbaren Kriegstoten stammen demnach aus der Oblast Swerdlowsk. Es ist die am stärksten besiedelte Region im asiatischen Teil Russlands. Vor gut einem Jahr war der Anteil der Gefallenen aus Swerdlowsk an der Gesamtzahl der russischen Kriegstoten nur halb so hoch. In dem Gebiet am Ural hat das russische Militär also offensichtlich massiv rekrutiert.

Ukraine-KriegRusslands Kriegstote

Das trifft auch auf die angrenzende Region Tscheljabinsk zu. 848 Gefallene stammen aus der südwestlich angrenzenden Region. Im Gesamtranking von Mediazona weist Tscheljabinsk insgesamt die dritthöchste Zahl gefallener Soldaten auf.

Die zweitmeisten Kriegstoten hat die Region Krasnodar zu beklagen. Das Gebiet im äußersten Westen Russlands grenzt ans Schwarze Meer und ist über die Kertsch-Brücke direkt mit der illegal annektierten Krim verbunden. Dass so viele Gefallene von hier stammen, liegt aber nicht an der räumlichen Nähe zur Ukraine, schreibt Mediazona: "Die ungewöhnlich hohe Zahl von Meldungen über Gefallene aus der Region Krasnodar ist darauf zurückzuführen, dass Freiwillige vor Ort häufig die Friedhöfe besuchen, um neue Gräber zu fotografieren, sodass eine größere Zahl von Gefallenen öffentlich bekannt wird."

Mediazona kommt auf seine Zahlen, indem es Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammenträgt. Die Journalisten überprüfen Social-Media-Posts von Angehörigen, Berichte in lokalen Medien und Erklärungen der lokalen Behörden. Erst, wenn ein gefallener Soldat zweifelsfrei identifiziert werden kann, geht er in die Statistik ein. Die Zahlen können die tatsächlichen Todeszahlen nicht darstellen, bieten jedoch aufschlussreiche Anhaltspunkte.

"Jugend aus Moskau lässt man nicht sterben"

843 der russischen Kriegstoten, die vierthöchste Zahl, stammen demzufolge aus der autonomen Republik Baschkortostan im östlichen europäischen Teil Russlands. Hier machen die Volksgruppen der Baschkiren und der Tataren einen Großteil der Bevölkerung aus. Auch die Volksgruppe der Burjaten hat besonders viele Kriegsopfer zu beklagen. 784 Gefallene können zweifelsfrei der abgelegenen Region in Sibirien, nördlich der Mongolei, zugeordnet werden.

In den ersten Kriegsmonaten waren sogar die zweitmeisten gefallenen russischen Soldaten aus Burjatien, nur aus Dagestan im Kaukasus kamen damals noch mehr Tote. Die muslimisch-geprägte Republik ist verarmt, Russen machen hier gerade mal drei Prozent der drei Millionen Einwohner aus.

"Die Jugend der wohlhabenden und mit dem Staat verbandelten Eliten aus Moskau und Sankt Petersburg lässt man nicht sterben auf den Schlachtfeldern", hatte Joachim Weber, Sicherheits- und Russland-Experte von der Universität Bonn, schon im vergangenen Sommer im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" analysiert. "Man holt sich die, die aus russischer Sicht im Grunde Hilfsvölker sind."

Militär lockt Freiwillige aus der Armut

"Die demografische Lage, die ausgeprägte Einstellung zum Militärdienst, die große Anzahl von Militäreinheiten in diesen Regionen, die niedrigen Löhne und die hohe Arbeitslosenquote tragen dazu bei, dass die Armee vor allem für junge Männer attraktiv ist", analysiert Mediazona.

Das Militär lockt mit einem vergleichsweise hohen Gehalt viele Freiwillige aus den ärmsten Regionen Russlands an. In manchen Fällen würden sogar Eltern regelrecht geködert und übten dann Druck auf ihre Kinder aus, hat Experte Weber berichtet. "Dann wird gesagt: Komm, du gehst freiwillig. So funktioniert dieses System. Und im Ergebnis kriegen die Baschkiren die Särge zu Hunderten zurück."

Der Sold beim Militär zieht aber auch abseits der Freiwilligenkorps naturgemäß vor allem Menschen aus ärmeren Bevölkerungsgruppen an - das ist nicht nur zwischen Kaliningrad und Wladiwostok so.

Russen verdienen beim Militär laut "Washington Post" umgerechnet etwa 1100 Euro pro Monat - ein Vielfaches des von Region zu Region unterschiedlichen Mindestlohns, der sich teils bei unter 200 Euro bewegt. Als junger Mann aus den Großstädten Moskau oder Sankt Petersburg zum Militär zu gehen, lohnt sich daher nicht. Das durchschnittliche Einkommen in der russischen Hauptstadt liegt bei etwa 1000 Euro pro Monat.

Der Anteil der Gefallenen aus den beiden größten russischen Städten ist zwar minimal gestiegen, liegt aber immer noch unter zwei Prozent. In Relation zur Einwohnerzahl ein verschwindend geringer Wert, schließen leben in Moskau und Sankt Petersburg zusammengerechnet etwa 16,5 Millionen Menschen, das entspricht mehr als elf Prozent der russischen Bevölkerung.

Jeder Fünfte Gefallene kommt aus dem Gefängnis

Die Daten von "Mediazona" zeigen aber nicht nur die Herkunft der russischen Kriegstoten. Von 21.600 Gefallenen konnten die Reporter auch das Alter erfassen. Demzufolge sind die meisten toten Soldaten zwischen 33 und 35 Jahre alt. Etwa zwei Drittel der Gefallen sind demnach jünger als 40.

Im Verlauf des Krieges in der Ukraine ist der durchschnittliche getötete Russe aber immer älter geworden. Etwa ein halbes Jahr nach der Invasion im Nachbarland waren mehr als die Hälfte der Gefallenen unter 30. "In den ersten sechs Monaten, als hauptsächlich reguläre Militäreinheiten kämpften, gab es die meisten Toten in der Altersgruppe der 21- bis 23-Jährigen. Freiwillige und mobilisierte Kämpfer sind wesentlich älter", erklärt Mediazona.

Bemerkenswert ist auch, dass die Zahl der Gefängnisinsassen, die in den Krieg zogen und getötet wurden, fast ein Fünftel aller Gefallenen ausmacht. Sie starben vor allem in der monatelangen Schlacht um Bachmut, wo viele Häftlinge von den Wagner-Söldnern als Kanonenfutter eingesetzt wurden. "Wir bekommen immer noch viele Berichte über die Rekrutierung von Gefangenen und Nachrufe auf diejenigen, die bei den Kämpfen um die Stadt gestorben sind", berichten die Reporter von Mediazona.

Darüber hinaus zeigen die Daten, dass etwa jeder zehnte russische Gefallene zumindest mehr oder weniger freiwillig in den Krieg gezogen ist. "Seit dem ersten Kriegssommer haben die Freiwilligeneinheiten die schwersten Verluste zu beklagen", hat Mediazona ermittelt. In den ersten Kriegswochen voriges Jahr hatten dagegen die Luftlandetruppen und motorisierten Schützeneinheiten die meisten Toten auf ihrer Seite. Im Winter stieg dann vor allem die Gefallenenzahl bei den von Wagner rekrutieren Häftlingen, als diese beim Angriff auf Bachmut verheizt wurden. Das macht die Gefangenen nun zur am stärksten betroffenen Gruppe unter den ermittelten russischen Kriegstoten, wenngleich eine noch größere Zahl der Gefallenen von Mediazona keiner Gruppe zugerechnet werden kann.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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