Tierschutz versus Wissenschaft Sind Tierversuche noch zeitgemäß?
25.11.2023, 11:59 Uhr Artikel anhören
Eine Laborantin hält eine Labor-Maus.
(Foto: picture alliance / Friso Gentsch/dpa)
Versuche mit Tieren sind in der Wissenschaft "Gold-Standard", jedoch ethisch unvertretbar, argumentieren Tierschützer. Der emotional aufgeladenen Frage, die allein in Deutschland jährlich Millionen Tieren das Leben kostet, kann nur mit einem differenzierten Blick begegnet werden.
Bis heute sind Tierversuche in der Wissenschaft weit verbreitet. Ihre wichtige bisherige Rolle für die Medizin zweifelt kaum jemand an - ihre Bedeutung in Gegenwart und Zukunft hingegen schon. Was sagen Tierschützer und Wissenschaftler dazu?
Mehr als fünf Millionen Tiere wurden in Deutschland allein im Jahr 2021 als Versuchstiere verwendet - knapp 3,2 Millionen davon wurden getötet. Das geht aus Zahlen des Deutschen Zentrums zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) hervor, das zum Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gehört.
Schmerzen, Leiden, Schäden
Laut deutschem Tierschutzgesetz sind Tierversuche "Eingriffe oder Behandlungen an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden und Schäden verbunden sein können". Diese Definition umfasst laut der Forschungsorganisation Max-Planck-Gesellschaft (MPG) alle Tierarten. Versuche an Wirbeltieren sind demnach genehmigungspflichtig, wenn sie das Wohlbefinden des Tiers beeinträchtigen können. Den größten Teil der betroffenen Tiere machen mit über 70 Prozent Mäuse aus, gefolgt von Fischen, Ratten, Kaninchen sowie Vögeln, aber auch Hunde, Katzen und Affen sind darunter.
"Tierversuche sind bis heute essenziell für den wissenschaftlichen Fortschritt, da viele wichtige Fragestellungen bis heute mangels gleichwertiger Alternativmethoden ohne den Einsatz von Versuchstieren nicht hinreichend erforscht werden können", sagt Andreas Lengeling, Beauftragter für Tierversuche in der Grundlagenforschung beim MPG. Beispielsweise hätten viele Diabetes-Patienten ohne Tierversuche eine deutliche geringere Lebenserwartung, da sie auf Insulin angewiesen sind, was es ohne Tierversuche nicht geben würde.
Laut Bf3R macht Grundlagenforschung über die Hälfte aller Tierversuche aus. Diese Forschung sei essenziell, da ohne sie gar keine Medikamente entwickelt werden könnten, "weil dafür schlicht das notwendige Wissen fehlen würde", sagt Lengeling. Lea Schmitz, Sprecherin des Deutschen Tierschutzbundes, sieht das anders: "In der Grundlagenforschung werden Tiere oftmals eingesetzt, um alle nur erdenklichen Fragestellungen zu beantworten, ohne dass ein erkennbarer Zusammenhang mit dem Wohl des Menschen besteht."
Widersprüchliche Angabe zu getöteten Tieren
Von den mehr als drei Millionen getöteten Tieren wurden nur etwa 644.000 zu wissenschaftlichen Zwecken getötet. Der Rest sollte zwar ebenfalls für solche genutzt werden, wurde es laut Bf3R letztlich aber nicht. Laut Lea Schmitz wurden sie als überflüssig betrachtet und vermutlich aus ökonomischen Gründen umgebracht.
Lengeling widerspricht. Die 644.000 Tiere seien getötet worden, um Tests mit ihren Organen und Geweben durchzuführen. Bei vielen der übrigen 2,5 Millionen Tiere sei nach der Narkose keine "Wiederherstellung der Lebensfunktion" mehr möglich gewesen. Andere hätten nur noch mit Schmerzen weiterleben können und wurden daher aus Tierschutzgründen eingeschläfert.
Lengeling erklärt aber auch: "Überzählige Versuchstiere lassen sich auch bei bester Versuchsplanung und sorgfältigstem Zuchtmanagement leider nicht gänzlich vermeiden, da bei der Zucht von Versuchstieren regelmäßig Tiere entstehen, die aufgrund verschiedenster Kriterien im geplanten Tierversuch nicht eingesetzt werden können."
Versuchstiere auch für Sicherheit und Qualität
Neben der Grundlagenforschung wurden weitere 17 Prozent der Versuchstiere laut Bf3R bei der Herstellung oder Qualitätskontrolle von medizinischen Produkten oder für toxikologische Sicherheitsprüfungen verwendet, wie sie etwa für Chemikalien oder Schädlingsbekämpfungsmittel vorgeschrieben sind. 14 Prozent kamen für die Erforschung von Erkrankungen bei Mensch und Tier zum Einsatz.
In dieser angewandten Forschung werden Tiere laut Schmitz infiziert, um an ihnen als Modell Krankheiten des Menschen zu untersuchen. "Dabei lassen sich die Ergebnisse aus Tierversuchen nur schwer auf den Menschen übertragen und bringen nicht den erhofften Durchbruch hinsichtlich dringend benötigter Therapien für Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Parkinson." Schließlich unterschieden sich die Tiere von uns Menschen in ihrer Lebensweise und Lebensdauer, im Körperbau, Stoffwechsel und Erbgut.
Das Problem sei, dass bei "gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen die Gesetzestexte nur sehr schleppend an den neuesten Stand der Wissenschaft angepasst werden und die Firmen sich rechtlich gegen Schadensersatzklagen absichern wollen", analysiert Schmitz.
Zwar hätten Tierversuche in der Vergangenheit zu Fortschritten in Medizin und Biologie beigetragen, heute gebe es aber "aussagekräftigere tierversuchsfreie Methoden, mit denen sich Verbraucher- und Umweltschutz sicherstellen lässt" und Tierleid vermieden wird, sagt Schmitz, wie beispielsweise im Labor nachgezüchtete Organe oder klinische Studien an Freiwilligen.
Zahlreiche Alternativen zu Versuchstieren
Auch MPG-Experte Lengeling sagt: "Viele komplexe, zelluläre Prozesse lassen sich heute schon gut in Zellkulturen und sogenannten Organoid-Systemen erarbeiten." Nur eines von vielen Beispielen: In Niedersachsen entwickeln Wissenschaftler unter Federführung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Testsysteme auf Basis von Zellkulturen und künstlichen Geweben als Ersatzmethoden. Speziell in der Grundlagenforschung zum Darm und zu Atemwegen soll die Notwendigkeit von Tierversuchen verringert werden.
"Neben den ethischen Vorbehalten, mit denen Tierversuche verbunden sind, zeigen diese auch Nachteile bei der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Situation beim Menschen", erklärt Stephan Reichl vom Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie an der Technischen Universität Braunschweig. Manche Substanzen würden bei Tieren anders wirken als beim Menschen. Zellkulturen und nachgebildete Gewebe, die auf humanen Zellen basieren, seien daher "nützliche Alternativen, die nicht nur ethische Bedenken ausräumen, sondern manchmal auch bessere qualitative und quantitative Informationen liefern als Studien mit Versuchstieren".
Gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche
MPG-Fachmann Lengeling betont jedoch: "Sobald aber mehrere Organsysteme miteinander wechselwirken und kommunizieren, ist man noch auf Versuche an lebenden Tieren angewiesen." Man könne aktuell noch nicht auf sie verzichten, denn jedes Medikament müsse aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche auf seine Wirkung überprüft werden. Das sei eine Voraussetzung für die Medikamentenzulassung.
"Würde man auf Tierversuche ganz verzichten, wären viele noch bestehende Probleme der Medizin nicht lösbar", sagt Lengeling. Zudem dürften Tierversuche laut Deutschem Tierschutzgesetz nur dann durchgeführt werden, wenn sie unerlässlich sind. "Das heißt, es darf keine alternativen Methoden geben, die im Einzelfall den geplanten Tierversuch ersetzen könnten", erklärt der Grundlagenforscher.
Tierschützer kritisieren aktuelle Verfahrensweise
Hier kritisiert der Tierschutzbund, dass die zuständigen Behörden im jeweiligen Kreis, Bezirk oder Bundesland die Anträge nur sehr eingeschränkt prüfen dürften. "Ist ein Antrag formal richtig gestellt, muss dieser von der Behörde genehmigt werden", sagt Schmitz. Ob es keine andere Methode als den Tierversuch gibt und ob die Schaden-Nutzen-Relation nach der EU-Tierversuchsrichtlinie passt, dürfe die Behörde nicht eigenständig und unabhängig von den Angaben und Bewertungen des antragstellenden Wissenschaftlers prüfen. "Tierversuche zur Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen in Deutschland noch nicht einmal - wie eigentlich von der EU vorgesehen - genehmigt, sondern den Behörden nur angezeigt werden", merkt Schmitz an.
Wie so ein Tierversuch im Detail abläuft, ist sehr unterschiedlich. So werden laut Schmitz beispielsweise die Risiken von Chemikalien an Tieren getestet, in dem sie ihnen - teils über längere Zeiträume - verabreicht werden. Versuche aus diesen Bereichen seien mit die grausamsten, da die Tiere hier gezielt Stoffen ausgesetzt werden, die gefährlich oder giftig sein können. Dabei könne es zu Verätzungen, Atemnot, Lähmungserscheinungen, Organversagen oder Blutungen kommen.
Bei sogenannten Krankheitsmodellen werden Tiere laut der Tierschutzbund-Sprecherin künstlich infiziert oder verletzt, um bei ihnen Symptome zu erzeugen, die denen der Erkrankung des Menschen ähneln. "Für die Schlaganfallforschung werden beispielsweise Blutgefäße abgebunden. Um Knochenbrüche und deren Therapie zu erforschen, werden Schafen gezielt Knochenbrüche zugefügt", berichtet Schmitz. Zudem implantiere man Affen Elektroden ins Gehirn, um Aufschluss über die Funktionsweise des menschlichen Hirns zu erhalten. Für die Aus- und Weiterbildung von Chirurgen übe man Operationstechniken an Schweinen. Zudem litten die Tiere durch Zucht, Transport und Haltung.
Versuchstiere sind verschiedenen Belastungsstufen ausgesetzt
Lengeling betont, dass nicht alle Tests an Tieren so ablaufen: "Im Jahr 2021 waren 63 Prozent aller Versuchstiere einer geringen, 24 Prozent einer mittleren und 6 Prozent einer schweren Belastung ausgesetzt." Laut der Universität Münster sind aber auch schon mittelstarke Verfahren welche, "bei denen die Tiere kurzzeitig mittelstarken Schmerzen, mittelschweren Leiden oder Ängsten oder lang anhaltenden geringen Schmerzen ausgesetzt waren". Hinzu kommen Verfahren, "bei denen Belastungen aufgetreten sind, die eine mittelschwere Beeinträchtigung des Wohlergehens oder des Allgemeinzustands der Tiere verursacht haben". Zudem starben die Tiere in 6,4 Prozent der Fälle.
Dass Tiere im Anschluss getötet werden, schließt das jedoch nicht aus. "Durch ein enges gesundheitliches Monitoring der Versuchstiere wird auch bei einer schweren Belastung sichergestellt, dass durch den Tierversuchsantrag festgelegte Höchstgrenzen nicht überschritten werden", so der MPG-Forscher. Dadurch sorge man dafür, dass die im Experiment befindlichen Tiere keine Qualen erleiden. Werden diese Höchstgrenzen im Versuch erreicht, erfolge eine schmerzlose Tötung.
Doch wäre es heute bereits möglich, gänzlich ohne Tierversuche auszukommen? "Der Fortschritt würde ohne Tierversuche nicht plötzlich aufhören. Auch jetzt arbeiten viele Wissenschaftler schon ohne Tierversuche und liefern wichtige Erkenntnisse", meint Schmitz vom Tierschutzbund. Zwar müssten sich Forscher, die bislang im Tiermodell geforscht haben, umorientieren. "Aber mit ausreichender Förderung und Schulung lassen sich Wege finden oder entwickeln, mit denen ihre Fragestellungen ohne Tierversuche weiterbearbeitet werden können." Dafür sei allerdings ein Umdenken in der Gesellschaft sowie in Politik und Wissenschaft nötig.
Moderne Medizin basiert auf Tierversuchen
Lengeling unterstreicht, dass es ohne Tierversuche keine moderne Medizin gäbe, wie sie heute existiert. "Die Lebensqualität und Lebenserwartung von Menschen wäre ohne Tierversuche erheblich niedriger." Schmitz vom Tierschutzbund leugnet das nicht, hält die Praxis aber für überholt: "Ethisch ist es nicht zu rechtfertigen, einem Lebewesen, das in vergleichbarer Weise wie der Mensch schmerzempfindlich und leidensfähig ist, so etwas anzutun."
Daher fordere der Tierschutzbund von der Bundesregierung, "dass sie ihre Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlöst". Darin steht: "Wir legen eine Reduktionsstrategie zu Tierversuchen vor. Wir verstärken die Forschung zu Alternativen, ihre Umsetzung in die Praxis und etablieren ein ressortübergreifendes Kompetenznetzwerk."
Quelle: ntv.de, Marco Rauch, dpa