Kindheit, Jugend, Abhängigkeit Ditlevsens schmerzlich-schöne Erinnerungen
21.02.2021, 10:37 Uhr
Tove Ditlevsen wollte schon als Kind nichts als schreiben. Auf diesem Bild ist die Dichterin 34 Jahre alt.
(Foto: picture alliance / JARNER PALLE)
Eine lieblose Kindheit, unglückliche Ehen, Abtreibungen, Medikamentensucht - und der unbedingte Wille, Dichterin zu werden. Davon erzählt die 1917 geborene Tove Ditlevsen in ihrer Kopenhagen-Trilogie. In diesem Frühjahr ein absolutes Muss.
Oft gibt es sie nicht, diese Bücher, bei denen man schon nach wenigen Sätzen weiß, dass man ihnen verfallen wird. Und dass einem ein Dilemma bevorsteht: Schnell lesen, weil es so mitreißend geschrieben ist? Oder langsam, um jeden Satz auskosten zu können? Zu diesen Büchern gehört die sogenannte "Kopenhagen-Trilogie" von Tove Ditlevsen.

Ihre Bücher und Gedichtbände haben Tove Ditlevsen in Dänemark berühmt gemacht.
(Foto: picture alliance / WILLY HENRIKSEN)
Erschienen sind die drei schmalen Bände der dänischen Dichterin und Schriftstellerin schon zwischen 1967 und 1971. In ihrem Heimatland wird das Werk von Ditlevsen bis heute geschätzt und als Schullektüre empfohlen. Der deutschsprachigen Leserschaft war sie hingegen eher weniger bekannt. Das kann sich nun ändern: Nachdem bisher nur der letzte Band der Trilogie in einer Übersetzung vorlag, hat Ursel Allenstein nun alle drei Bücher für den Aufbau-Verlag ins Deutsche übertragen.
Dass die Bücher gerade jetzt auf große Resonanz stoßen, kommt nicht von ungefähr. Sie passen in eine Zeit, in der sich die sogenannte "Autofiktion" großer Beliebtheit erfreut und Autorinnen und Autoren wie Annie Ernaux oder Karl Ove Knausgård große literarische Erfolge feiern. Nur dass sich die 1917 geborene Ditlevsen dieses Genres schon sehr viel früher bedient hat. In "Kindheit", "Jugend" und "Abhängigkeit" schreibt sie ganz nah an ihrer eigenen Biografie entlang. Dass sie Fiktion und Realität mischt, markiert sie unter anderem dadurch, dass die Ich-Erzählerin zwar ebenfalls Tove Ditlevsen heißt, aber ein Jahr später auf die Welt gekommen ist als die Autorin selbst. Die Themen, die sie in den drei schmalen Bänden verhandelt, sind alles andere als leichte Kost: eine lieblose Kindheit, unglückliche Ehen, Affären, mehrere Abtreibungen, Medikamentensucht und den "Vorhang, der stets zwischen mir und der Wirklichkeit schwebt". Vor allem aber erzählt Ditlevsen von ihrem Weg zum Schreiben, gegen alle Widerstände.
"Bilde dir bloß nichts ein"
Schon als kleines Mädchen ist Tove anders, "seltsam", wie sie selbst es formuliert: "Weil ich wie mein Vater Bücher lese, und weil ich nicht verstehe, wie man spielt." Sie wächst im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro auf, wo sie zusammen mit ihren Eltern und dem älteren Bruder in beengten Verhältnissen wohnt. Die Mutter ist "fremd und geheimnisvoll", wird von unberechenbaren Launen getrieben und schlägt die kleine Tove. Ihr dauermüder Vater ist Sozialist und Heizer. Wenn er wieder einmal arbeitslos ist, lebt die Familie "von Stütze". Im Umgang mit der Tochter ist er eher unbeholfen. So sehr sie es versucht, ein inniges Verhältnis kann Tove weder zum Vater noch zur Mutter aufbauen.
Schon früh findet sie Zuflucht in Worten. Sie schreibt heimlich kleine Verse in ihr Poesiealbum und kann sich bald nichts anderes mehr für ihre Zukunft vorstellen, als Dichterin zu werden. Für den Vater ein völlig abwegiger Berufswunsch: "Bilde dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichterin werden." Er pocht auf eine feste Stelle mit Anspruch auf Rente. Die Mutter findet, Tove solle einen Handwerker heiraten, der regelmäßig Lohn nach Hause bringt und nicht trinkt. Was von Mädchen zu der Zeit halt so erwartet wird.
Aber Tove lässt sich nicht vom Schreiben abbringen. Da für die Eltern trotz Empfehlung der Lehrerin ein höherer Bildungsweg der Tochter nicht infrage kommt, verlässt sie mit 14 Jahren die Schule und arbeitet in verschiedenen Büros als Aushilfe, fühlt sich aber überall fehl am Platz. Als sie volljährig ist, zieht sie zu Hause aus, mietet ein Zimmer, kauft sich eine Schreibmaschine, kann endlich in Ruhe schreiben und veröffentlicht ein erstes Gedicht.
Verliebt in Pethidin-Spritzen
Langsam und beharrlich knüpft sie zarte Kontakte in die Literaturszene. Um dem Einfluss der Mutter endgültig zu entkommen, stürzt sich Tove in die Ehe mit einem 30 Jahre älteren Journalisten und Autoren. Der unterstützt sie dabei, einen Verlag für ihren Debüt-Gedichtband zu finden und Tove geht ihren ersten Schritt Richtung finanzielle Unabhängigkeit. Die Ehe ist nur von kurzer Dauer, insgesamt heiratet sie viermal. Beim dritten Mal verliebt sie sich nicht in den Mann, sondern in dessen Pethidin-Spritzen. Die gemeinsamen Jahre werden zu einem Horrortrip und enden in einer Entzugsklinik.
Zu schreiben bedeutet für Ditlevsen immer auch, einen Anker zu haben. Nicht nur, dass sie "zu nichts anderem tauge und von nichts anderem leidenschaftlich erfüllt werde, als Worte aneinanderzureihen". Wenn sie in klaren Momenten inmitten des Drogennebels nach einem Ausweg sucht, dann tut sie das nicht nur wegen ihrer Kinder, "sondern auch der Bücher wegen, die ich noch nicht geschrieben hatte." Von der Sucht kommt die Dichterin nie wieder richtig los. Mit 58 Jahren beendet sie selbst ihr Leben.
"Lang und schmal wie ein Sarg"
Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie vereint gleichermaßen Schönheit und Schmerzlichkeit in sich, die sich von der Kindheit (die "lang und schmal wie ein Sarg" sei, "aus dem man sich nicht allein befreien kann") bis in die Erwachsenenjahre ziehen. Sie schreibt sachlich, lakonisch, wählt oft eindrückliche, poetische Bilder und verzichtet nicht auf Humor. Dabei bleibt sie ganz bei sich beziehungsweise ihrer Ich-Erzählerin, politischen Einordnungen gibt sie nur nebenbei etwas Raum, zum Beispiel als ihre Zimmerwirtin laut Hitler-Reden hört oder ihr zweiter Mann darüber nachdenkt, sich den Partisanen anzuschließen.
Auch Ursel Allenstein, die die Texte hervorragend ins Deutsche übertragen hat, ist es zu verdanken, dass diese Bücher über den Willen einer Frau in einem rollengeprägten Milieu und ihr Scheitern so berühren. Es sind Bücher, denen man nicht nur während der Lektüre verfällt, sondern die einen auch danach gedanklich noch eine Zeit lang begleiten.
Quelle: ntv.de