"Unmöglicher Abschied" Auf toten Gesichtern schmilzt kein Schnee


"Ein dunkelblauer Schein, kaum von der Finsternis zu unterscheiden, liegt über dem Schnee, der sich neben meinem Gesicht anhäuft. Dämmert es schon? Oder träume ich noch?"
(Foto: picture alliance/dpa)
Han Kangs jüngster Roman widmet sich einem dunklen Kapitel koreanischer Vergangenheit: dem Massaker von Jeju. Zwischen Schmerz und rührseligem Idyll schafft die Literaturnobelpreisträgerin ein eisiges Stück Erinnerungskultur - mit der Tendenz zum Wintermärchen.
Der Fall einer Schneeflocke dauert maximal eine Stunde. Wassermoleküle klammern sich in einer Wolke aneinander, in ihrer Mitte Partikel aus Ruß oder Schmutz, bevor sie als Kristall zur Erde sinken. Die kleinen Leerräume zwischen den verästelten Strukturen lassen die Flocke schweben - und alle Geräusche um sie herum verschlucken. Inmitten dieser eisigen Stille beginnt Han Kangs jüngster Roman: "Unmöglicher Abschied".
Auf einem weißen Acker steht Gyeongha, eine Schriftstellerin aus Seoul, und beobachtet das Schneetreiben. Was so friedlich scheint, entpuppt sich als Albtraum: Zu Tausenden spült die plötzliche Flut Gebeine von toten Kindern, Männern und Frauen aus ihren Gräbern - der erste Erinnerungsfetzen an ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel koreanischer Geschichte.
Nach "Menschenwerk" widmet sich die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin auch in dieser Erzählung der gewaltsamen Vergangenheit ihres Landes. "Unmöglicher Abschied" erzählt von der sonderbaren Freundschaft zweier Frauen, über der der Schatten eines mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden Massakers hängt. 1948 waren südkoreanische Regierungstruppen und rechte Milizen brutal gegen Aufständische und Zivilisten des eigenen Landes vorgegangen, hatten Familien und ganze Dörfer ausgelöscht. Allein auf der Insel Jeju starben rund 30.000 Menschen.
Reise nach Jeju
Immer wieder wird Han Kangs Protagonistin Gyeongha von der Erinnerung an diese Verbrechen heimgesucht. Sie lebt zurückgezogen und fristet ein trostloses, von suizidalen Gedanken durchzogenes Dasein, bevor sie eines Tages von ihrer Freundin Inseon ins Krankenhaus gerufen wird. Inseon hat sich mit einer Kreissäge zwei Fingerglieder abgetrennt und kann das Krankenbett nicht verlassen. Sie bittet Gyeongha nach ihrem Vogel zu sehen, den sie nach dem Unfall ohne Futter in ihrem Haus auf Jeju zurückgelassen hat.
Für Gyeongha beginnt eine sonderbare und beschwerliche Mission: Sie fliegt nach Jeju, erwischt mit Mühe den letzten Zubringerbus und kämpft sich zu Fuß zu dem abgelegenen Haus ihrer Freundin. Während der Schneesturm stärker wird, verdichtet sich auch Han Kangs Erzählfluss: Realität und Traumfragmente verschmelzen ins Ununterscheidbare, ebenso wie Figuren und Zeiträume, in denen Gyeonghas individueller Schmerz zum Spiegel ganzer Generationen wird.
Der Kontrast zwischen verschneitem Idyll und brachialem Trauma zeigt sich auch in der Sprache der Autorin. Schmucklos, beinahe ungelenk beschreibt Han Kang Szenerien und innere Monologe, zwischen denen manch wiederkehrende Schneemetapher umso theatralischer wirkt. So wird die Poesie, um die sich die Autorin müht, regelrecht vom Schnee erstickt.
Zwischen Traum und Realität
Als Gyeongha schließlich das Haus erreicht, erscheint Inseon, oder vielleicht ihr Geist, und gewährt ihrer Freundin Einblick in die gewaltsame Vergangenheit. Seite um Seite werden brutale Einzelheiten des Massakers von Jeju sichtbar, dessen Aufarbeitung erst Ende der 1980er-Jahre begann und nie ganz beendet wurde. In Inseons Haus stapeln sich Kisten mit Briefen, Fotografien und alten Zeitungsartikeln, die von ihrer Mutter mühsam zusammengetragen wurden und ihre Finderin mit eindringlichen Bildern konfrontiert: vergessene Massengräber, Hinrichtungen und auf Schulhöfen verstreute Kinderleichen, denen das Blut im Gesicht gefriert.
Unterbrochen werden die brutalen Sequenzen vom immer gleichen Schneetreiben und dem Schatten einer langsam erlöschenden Kerze. "Mit jeder Seite, die ich raschelnd umdrehe, tauchen Knochen im Kerzenlicht auf." Die Last der Erinnerung eint die beiden Frauen, während das Schwanken zwischen Vergangenheit, Halluzination und Realität für die Lesenden mehr und mehr zum Fiebertraum wird. Zeitgleich verkommt die Sensibilität der Protagonistin, die sich, gequält von Erinnerung, Kälte und zunehmendem Kopfschmerz durch die Zimmer des Hauses schleppt, trotz oder gerade wegen ihrer ausschweifenden Betonung zu gekünstelter Rührseligkeit.
"Unmöglicher Abschied" ist eine Erinnerung an das Vergessen. Bis zuletzt bleibt neben einem nie verarbeiteten Trauma das weiße Treiben vor den Fenstern zentrales Element dieser sonderbaren Geschichte. Und so endet Han Kangs literarisch ambivalente Erzählung, ebenso wie sie begonnen hat. Im Schnee.
Quelle: ntv.de