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Ein Träumer im Schützengraben Wie J.R.R. Tolkien Mittelerde erfand

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Die Kämpfer von Gondor und Rohan ziehen in die Schlacht, so wie die Soldaten des Ersten Weltkrieges.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Spätestens seit den aufwendigen "Der Herr der Ringe"-Verfilmungen ist J.R.R. Tolkien in der Popkultur angekommen. Die meisten verbinden ihn mit liebevollen, detailreichen Geschichten über Elfen und Zwerge. Dabei sind Tolkiens Bücher das Werk eines Sprachwissenschaftlers und eines Perfektionisten, das seine Wurzel offenbar in den Schrecken des Ersten Weltkrieges hat.

John Ronald Reuel Tolkien gilt zu Recht als Begründer der Fantasy-Literatur. Doch Fantasie allein reichte für die Erfindung seiner legendären Mittelerde-Welten ebenso wenig wie Genie. Der Hintergrund für Tolkiens Romane ist so komplex, dass über die Jahre ganze Reihen an Sekundärliteratur erschienen sind. Darunter sind natürlich zahlreiche Biografien, aber auch Atlanten von Mittelerde, Elbisch-Wörterbücher und interpretierende Werke. Sie tragen Titel wie "Tolkiens Weltbilder", "Tolkien und Romantik" und "Gewalt und Konflikt bei Tolkien". Die meisten vertreten die Ansicht, dass Tolkien maßgeblich durch die Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs beeinflusst seine Geschichten vom ewigen Kampf Gut gegen Böse zu Papier brachte.

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Tolkien im Jahr 1916.

(Foto: Wikipedia)

Der Engländer John Garth hat ein Buch geschrieben, das diese Sichtweise ändern könnte. Zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen sind die höchst spannenden Erkenntnisse des Journalisten und Tolkien-Forschers aus Oxford nun auch auf Deutsch zu lesen. In "Tolkien und der Erste Weltkrieg - das Tor zu Mittelerde" legt Garth dar, dass Tolkiens Mythologie schon in dessen Jugend entstand und bereits im Ersten Weltkrieg zu epischer Größe heranreifte.

Dafür geht Garth zuerst einmal biografisch vor, erzählt von der vom Verlust der Mutter geprägten Kindheit und der von Freiheit und Freundschaft bestimmten Schulzeit. Dort traf Tolkien drei andere junge Männer, die ihm Freunde, Kritiker, Publikum und Quelle der Inspiration sein sollten. Dass zwei von ihnen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges starben, blieb für ihn zeitlebens ein Trauma. Ausführlich, aber nie langatmig, beschreibt der Autor, wie Tolkien, der Träumer, der Waisenjunge, die Welt der vergessenen und fast ausgestorbenen Sprachen und ihrer urzeitlichen Mythologien entdeckt. Walisisch, Isländisch und Finnisch werden die treuen Begleiter seiner Jugendzeit und aus ihren Sagen, dem Mabinogion, der Edda und der Kulevala beginnen sich langsam und zart eigenständige Geschichten in Tolkiens Kopf zu entwickeln.

Sprachbegabt und schreibverrückt

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Das Buch ist bei Klett-Cotta erschienen und kostet 22,95 Euro.

Zum ersten Mal sind einige der ersten literarischen Versuche Tolkiens abgedruckt und werden von Garth behutsam auf Bezüge zum späteren Werk untersucht. Auch von den Anfängen einer Sprache, die der hochbegabte Tolkien mittels Lautverschiebungen aus dem Gotischen, Altisländischen und Finno-Ugrischen erfindet, berichtet Garth.

Doch die Zeit, in der Tolkien lebt, ist keine friedliche und so kann er sich nicht einfach der akademischen Karriere, die er anstrebt, widmen, sondern muss in den Krieg ziehen. Glückliche Zufälle, Krankheiten und gute Entscheidungen hindern ihn daran, allzu lange und allzu heftig am Geschehen teilzunehmen. Das soll sich noch als Segen für die Weltliteratur erweisen. Er dient erst ab 1915 als Offizier an der Somme. John Garth lässt keine Zweifel aufkommen, dass der Krieg tiefe Spuren in Tolkiens Werk hinterlassen hat. So vergleicht er beispielsweise den Schlamm und die Ödnis der Schützengräben mit Mordor aus dem "Herr der Ringe". Aber auch Kameradschaft, Angst, Heimweh und selbst Kriegstraumata sind Themen, die sich auch in der Gefühlswelt seiner Protagonisten widerspiegeln.

Garth' Buch ist einerseits Biografie, aber auch Literaturanalyse und Geschichtsbuch. Vor allem aber ist es die wahre Geschichte eines Mannes, der das persönliche und gesellschaftliche Elend um ihn herum schwer ertragen konnte und deshalb in eine Fantasiewelt abglitt. Anders als viele andere konnte er daraus wieder auftauchen, machte sie zu seinem Beruf und trug seine Märchen in die Welt.

Enthusiastische Liebe zum Autor

Das Buch ist auch ein Statement für die Willkürlichkeit des Krieges. An vielen Stellen wird deutlich, dass Tolkien nur durch Glück überlebt hat. Anderen, wie Alan Alexander Milne, dem Schöpfer von Winnie the Pooh, ging es ähnlich, aber viele sind namenlos in den Schützengräber geblieben, ohne ihre Ideen je publik gemacht zu haben. Es ist absurd, sich vorzustellen, dass möglicherweise eine von Tausenden Truppenbewegungen darüber entschieden hat, dass aus Tolkien einer der größten Autoren des 20. Jahrhunderts werden konnte, während einer seiner ebenfalls begabten Kameraden starb.

Es fällt schwer, den Enthusiasmus des Autors für sein Thema nicht zu teilen. Garth beschreibt Tolkiens Leben so facettenreich und liebevoll, dass es eine Freude ist. Seine Argumentation für eine Uminterpretation von Tolkiens Werken ist jedoch eher diskret. Er überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen, reicht ihm nur Bruchstücke von Argumenten, die jeder selbst zusammensetzen kann. Je nach Kenntnisstand von Tolkiens Werk offenbaren sich so mehr oder weniger Querverweise.

Wer also mit Tolkien eigentlich nicht so viel am Hut hat, kann sich getrost zurücklehnen und einfach ein sehr gutes Buch über den Ersten Weltkrieg, einen begabten jungen Mann und die englische Sprache genießen. Und endgültig klären, auf welchen Krieg Tolkien sich primär bezog, wird man wohl nie können, denn "Tolkien schrieb eine Mythologie, keine Kriegserinnerungen".

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Quelle: ntv.de

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