Fuck. Marry. Kill. "Dunkelkaltes Schweigen" zieht in den Abgrund


Die Leiche wird an einem Pier gefunden.
(Foto: imago stock&people)
Eine junge Liebe an einem romantischen Ort an Schwedens Ostseeküste: Was wie der Beginn einer Romance-Schmonzette klingt, entpuppt sich als aufwühlender, fesselnder und unter die Haut gehender Bestseller. Das beste Hörbuch des bisherigen Jahres!
Was bedeutet es, Eltern zu sein? Diese Frage treibt weltweit Milliarden Menschen um. Und auch in der schwedischen Küstenstadt Trelleborg beschäftigt das zwei Elternpaare, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die Kekkonens und die Palevskis. Hier Jari und Maria Kekkonen, Haus in Meeresnähe, Mercedes in der Garage, sportlich, gut aussehend, beruflich erfolgreich, gesellschaftlich etabliert. Dort Sasho und Linda Palevski: Er saß schon im Knast, traf danach Linda, die Liebe seines Lebens, schwor der Gewalt ab. Beide arbeiten in einem Supermarkt. Fiat-Fahrer, bescheiden.
Die Kekkonens haben zwei Töchter: Isabella ist 18, ehrgeizig, in der Schule ebenso eine Granate wie auf dem Fußballrasen, seit ihrem elften Lebensjahr mit dem Nachbarsjungen Sixten Ledin zusammen, die Liebe ihres Lebens. Breite Schultern, fast zwei Meter groß, blond und ein kommender Fußballstar. Sie sind das Traumpaar der Schule. Isabellas jüngere Schwester Amanda könnte so sein wie sie, will es aber nicht. Beim Schulspiel "Fuck. Marry. Kill." ist sie zwar das Liebesobjekt aller Jungs, aber heiraten will sie keiner. Immerhin: Töten auch nicht. Noch hübscher als Isabella fehlt Amanda deren Ehrgeiz. In allem.
Und die Palevskis? Sie haben einen Sohn, Niko. Er geht mit Sixtens kleinem Bruder in eine Klasse, spielt Klavier und ist - wie Isabella und Amanda auch - die Sonne, um die sich das Leben der Eltern dreht. Das eint die Kekkonens und Palevskis, die auf den ersten Blick sonst so verschieden sind.
Aber wie das Leben so spielt, das Schicksal es will oder der schwedische Autor Mattias Edvardsson, verknüpfen sich die Geschichten der beiden Familien: Amanda und Niko verlieben sich ineinander. Für Amanda ist das fast schon ein Wunder, schließlich hatte sie mit dem männlichen Geschlecht bereits früh abgeschlossen: Ein Unbekannter hatte Nacktfotos von ihr ins Netz gestellt und Amanda damit in der schwedischen Küstenstadt Trelleborg über Nacht "berühmt" gemacht - Shitstorms inklusive.
Niko hat die Bilder auch gesehen. Aber sie interessieren ihn nicht. Er mag die Person Amanda und er gibt ihr die Zeit, die sie braucht. Zunächst scheint alles Friede, Freude, Eierkuchen. Doch dann wird Amanda erschossen an einem Pier gefunden und die Polizei nimmt Niko fest. Er verteidigt sich nicht, er schweigt.
Für die Kekkonens ist sofort klar: Niko hat ihre Tochter erschossen. Die Gerüchteküche brodelt, vermutet eine Tat aus Eifersucht. Schnell wird die gewalttätige Vergangenheit seines Vaters Sasho ins Feld geführt. Der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Und hat nicht schon Sashos Großvater, damals noch in Mazedonien, seine Frau erschlagen? Saß nicht auch Sasho wegen einer Schlägerei im Gefängnis?
Ode an die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
Autor Edvardsson hört nicht auf die Gerüchteküche. Er hat eine eigene Idee und die verfolgt er in "Dunkelkaltes Schweigen" strikt. Das Buch ist eine Ode an die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Sie ist bedingungslos - und das ist gut so. Sasho wird von Selbstzweifeln geplagt. Niko kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Oder doch? Hat er vielleicht auch so eine kurze Zündschnur wie er selbst damals, bevor er Linda kennenlernte? Und Linda grübelt auch, macht sich Vorwürfe: Hat sie Niko zu doll getriezt? Sie wollte doch nur, dass er es mal besser hat, dass ihm mit einem guten Abitur die Welt offen steht.
Jari wiederum geißelt sich mit den Gedanken, wie er das alles hätte verhindern können. Hätte er Amanda mehr zuhören, mehr auf sie und ihre Bedürfnisse eingehen sollen? Wie ging es Amanda, wie sah es wirklich in ihr aus? Jari dachte, er wüsste es. Aber er wusste gar nichts. Maria wusste da schon mehr. Sie hatte die selbst zugefügten Wunden am Körper ihrer Tochter gesehen, hatte gefragt. Aber eine befriedigende Antwort hatte auch sie nicht bekommen. Nicht einmal Isabella ließ Amanda in ihr Innerstes schauen. Die große Schwester mit ihren Problemen belästigen? Sie war doch ein Teil des Problems!
Emotion, die ans Herz geht
"Dunkelkaltes Schweigen" ist jede Minute der gut neun Hörbuchstunden wert. Das liegt an den Charakteren, die man liebt und dann hasst, die man bewundert und später verabscheut. Die Geschichten der beiden Familien, die sich dann doch nicht erst mit der Liebe von Amanda und Niko verknüpft haben, sondern schon in der Jugend der Eltern. Der Ort Trelleborg, wo man auf der einen Seite leben und eine Familie gründen möchte und auf der anderen Seite nur noch wegwill. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Und das ist Edvardssons Verdienst.
Er springt in den Zeiten, landet mal ein Jahr vor dem Mord, dann nach dem Mord, dann wieder sechs Monate davor, dann drei. Der Plot ist wie eine Spirale, die sich immer schneller dreht und verengt. Bis zum Bruch, dem Höhepunkt des ganzen Spektakels, das den Hörer gefühlstechnisch an den Rand eines Zusammenbruchs führt. Die markante und auch einfühlsame Stimme von Frederic Böhle gibt Halt und reißt mit, lässt einen verschnaufen, nur um gleich wieder in die Tiefen von erster Liebe, Elternglück und -unglück hinabzuziehen.
"Dunkelkaltes Schweigen" ist nichts anderes als ein Appell an alle Eltern, ihren Kindern mehr und besser zuzuhören. "Eltern zu sein, hieß nicht nur Erziehung. In erster Linie musste man ein Kraftwerk der Liebe sein." (Sasho) "Dabei war alles so einfach: Einen Atemzug nach dem anderen nehmen, das Herz schlagen lassen - und denjenigen nahe sein, die man liebt." (Jari) Die beiden Familienväter haben es auf die harte Tour gelernt.
Quelle: ntv.de