11. September 2001 hautnah "Oh mein Gott. Wir fliegen viel zu tief"
29.08.2021, 09:32 Uhr
Die Reste des World Trade Centers kurz nach den Anschlägen - nur 16 Menschen überlebten in den Trümmern.
(Foto: AP)
Die Erinnerungen an die Terroranschläge des 11. September 2001 verblassen - das Hörbuch "Und auf einmal diese Stille" holt sie wieder hervor. Hunderte Zeitzeugen schildern den Tag aus ihrer Perspektive. Es ist ein gewaltiges Mosaik mit teilweise schockierenden Details.
"Ich sehe Wasser. Ich sehe Häuser. Wir fliegen tief. Wir fliegen sehr, sehr tief. Oh mein Gott. Wir fliegen viel zu tief." Es sind vermutlich die letzten Worte von Flugbegleiterin Madeline Sweeney, bevor ihre Maschine am 11. September 2001 in den Nordturm des World Trade Centers einschlägt. In ihren letzten Augenblicken telefoniert sich mit einem Freund bei der Fluggesellschaft. Das Gespräch wird zum Mosaikstein. Historiker Garrett Graff setzt aus ihm und vielen weiteren das Hörbuch "Und auf einmal diese Stille" zusammen.
Die meisten Menschen, die damals alt genug waren, erinnern sich an diesen Tag vor fast genau 20 Jahren. Wer davon erzählt, redet meist jedoch nicht über die 2977 Todesopfer, die Statik von Hochhäusern oder die Motive islamistischer Attentäter. Die meisten erzählen davon, wo sie damals waren. Wer bei ihnen war. Und was sie dachten angesichts der qualmenden Hochhäuser in New York und dem verwüsteten Pentagon in Washington DC. Im Prinzip ist das Hörbuch "Und auf einmal diese Stille" genau das, eine Sammlung solcher Berichte. Nur dass sie von Menschen stammen, die näher am Geschehen waren. Viel näher.
Wie der Anleihenmakler David Kravette, der sich in der Lobby im Erdgeschoss des Nordturms aufhält, als das erste Flugzeug einschlägt. "Auf einmal schoss brennendes Kerosin aus der Hauptgruppe der Fahrstühle und breitete sich explosionsartig überall aus", erzählt er. "Menschen wurden - keine 20 Meter von mir entfernt - von diesem Feuerball emporgehoben, durch die Fenster der Lobby geschleudert und verbrannten." 90 Stockwerke über ihm sieht der Berater Richard Eichen einen Mann, der aussieht, "als hätte man ihn frittiert". Er habe ihn angefleht, ihm zu helfen. "Dann fiel er mit seinem Gesicht direkt zwischen meine Beine. Er starb zwischen meinen Beinen."
"Als ob Tausend Güterzüge ineinanderkrachen"
Nach und nach breitet das Hörbuch die zum Teil winzigen Bruchstücke von Augenzeugenberichten vor dem inneren Auge des Zuhörers aus. Mehr als 500 Zeitzeugen kommen während der mehr als 17 Stunden zu Wort. Es ist manchmal anstrengend, ihnen zu folgen, manchmal verwirrend und man läuft Gefahr, sich im Chaos und der Konfusion zu verlieren. Doch das ist Absicht. Das Hörbuch "versucht zu verstehen, was es hieß, diesen Tag unmittelbar zu erleben", so Graff im Vorwort.
Die Erzählung hat keine Hauptfigur, keinen örtlichen Mittelpunkt. Sie spielt im Treppenhaus des Nordturms, im winzigen Örtchen Shanksville in Pennsylvania, wo ein viertes Flugzeug abstürzt, in einem Gebirgsbunker für Top-Politiker und sogar in der Internationalen Raumstation ISS, wo US-Astronaut Frank Culbertson klare Sicht auf die Ereignisse hat. Aus mehr als 400 Kilometern Höhe erblickt er die "große, schwarze Rauchsäule" über New York und schließlich auch den Kondensstreifen des einzigen verbliebenen Flugzeugs im Luftraum der USA, der Air Force One des Präsidenten. "The Only Plane in the Sky" - so auch der Titel des Hörbuchs im englischen Original.
Es ist ein Sammelsurium an Eindrücken, in grober chronologischer Reihenfolge. Dennoch fesselt es. Aber nicht, weil man sich fragt, was als Nächstes passiert. Sondern weil dieses Ereignis, das viele vor allem aus der Perspektive weit entfernter Kameras kennen, plötzlich so ungewohnt nah erscheint. Man sieht es nun durch die Augen der Betroffenen, hört es durch ihre Ohren. Wie etwa das Geräusch eines einstürzenden 400-Meter-Hochhauses: "Als ob Tausend Güterzüge ineinanderkrachen", wie es einer der Zeitzeugen beschreibt. "Wie ein gigantischer Kronleuchter, bei dem das ganze Glas in Tausend Stücke zerspringt", ein anderer.
"Lauft um euer Leben!"
Das Unmittelbare der Berichte lässt den Hörer den Tag noch einmal durchleben. Aber er erfährt auch von der Unsicherheit und der Furcht, die selbst die Schaltzentrale des mächtigsten Landes der Welt in Aufruhr versetzt. Vizepräsident Dick Cheney erzählt von dem Moment, als auf dem Radar eine Passagiermaschine auftaucht, die "sich mit 800 Kilometern pro Stunde aufs Weiße Haus zubewegte". Es hieß nur noch: "Lauft um euer Leben!", sagt seine Beraterin Mary Matalin. Nur einige Männer des Secret Service müssen bleiben. Darunter Special Agent Ian Rifield: "Wir waren uns ziemlich sicher, dass das Flugzeug uns treffen würde."
Im Hörbuch sind es 20 verschiedene deutschsprachige Sprecher, die den Zeugen ihre Stimmen leihen. Sie geben Zitate aus Interviews, Büchern und Archiven wieder. Manche wirken wie jene, die man aus dem eigenen Bekanntenkreis kennt. Zunächst banal, dann die plötzliche Wendung zum Unbegreiflichen. Rick Greyson etwa sitzt in einem Flugzeug auf dem Weg von Chicago nach Florida, als der Kapitän die Fluggäste über eine "nationale Notfallsituation" informiert. Greyson bittet seine neben ihm sitzende Tochter, die Blende vor dem Fenster hinunterzuziehen. "Ich schätze, ich rechnete mit heranfliegenden Atomraketen und wollte sie vor dem Lichtblitz der Explosion schützen."
Graff setzt schließlich den letzten Mosaikstein, das Zitat von Dan Nigro, damals Einsatzleiter bei der New Yorker Feuerwehr. "Man bleibt immer Teil des 11. September." Dann ist Schluss. Doch was ist auf dem gewaltigen Mosaik zu erkennen? Jeder Hörer wird es anders beschreiben. Vermutlich kommt Graff gerade deshalb dem, was geschehen ist, sehr nahe. Es geht ihm nicht ums Verstehen. Es geht ums Erleben. Und wenn das Hörbuch endet, hat man das Gefühl, als wäre man selbst gerade aus den Trümmern der Türme gezogen worden. Wie einer der nur 16 Überlebenden.
Quelle: ntv.de