"Mama, bitte lern Deutsch!" Wie Tahsim Durgun darum kämpfte, in Deutschland anzukommen
19.04.2025, 12:35 Uhr Artikel anhören
Tahsim Durgun kennen viele von Instagram oder Youtube.
(Foto: picture alliance/dpa)
Tahsim Durgun ist durch seine Videos bekannt geworden. Doch seine Mutter bleibt trotz Jahrzehnten in Deutschland unsichtbar. Für Durgun ist das kein Widerspruch. Denn er kennt die Herausforderungen seiner Familie in Deutschland und den tiefsitzenden Rassismus, dem sie begegnet, nur zu gut.
Tahsim Durgun ist mit seinen kurzen Videos berühmt im Netz. Und seine Mutter auch. Durgun reicht das aber nicht. Viele Menschen hätten seine Mutter und ihre unbekümmerte Art ins Herz geschlossen, schreibt er unter einem Video. Die kleinen Ausschnitte könnten aber niemals ein angemessenes Bild seiner Mutter zeichnen. Deshalb hat Durgun ein Buch geschrieben und es auch als Hörbuch eingelesen.
Denn auf den ersten Seiten dieses Buches steht: "Meine Mutter wird dieses Buch nicht lesen können." Schon als Kind habe er seiner Mutter Stromrechnungen und Aldi-Prospekte vorlesen müssen. Problem gelöst? Nicht ganz.
Denn Durguns Mutter versteht bis heute kein Deutsch - nach Jahrzehnten in Deutschland. "Ich garantiere euch, dass jeder eine Person kennt wie meine Mutter", sagt Durgun. Die Geschichte seiner Familie sei keine ungewöhnliche, "aber eine unerzählte". Er wolle das ändern.
Was Durgun andeutet, aber nicht offen ausspricht: Die Geschichte seiner Familie wurde sehr oft schon erzählt, immer wieder - nur nicht von den Betroffenen selbst. Wenn andere diese Geschichte erzählen, steht "Parallelgesellschaft" darüber. Auf Durguns Buch steht: "Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft". Dieses Buch helfe ihm, seine Mutter besser zu verstehen, so Durgun: "Und dir, Deutschland besser zu verstehen."
Durgun gibt sich in seinen Videos unbeeindruckt, abgeklärt. Er spielt dort seinen Witz aus, richtet die Kameralinse dorthin, wo er will. In seinem Hörbuch wirkt Durgun ehrlich und verletzlich. Diese Rolle fällt ihm sichtlich schwer. Am Ende aber gelingt Durgun eine beeindruckende Liebeserklärung an die Frau, die ihn großgezogen hat.
Tee spült Leid weg
Sprachlich wirkt das Hörbuch manchmal unbeholfen, manchmal hart - gegenüber der Mutter und auch in der Wortwahl: "Scheiß AfD", sagt Durgun, er "schwört", er werde sich Alice Weidels "Kopftuchmädchen"-Zitat irgendwann an die Küchenwand malen, weil es "alles über diese Partei sage, was es zu sagen gebe". Wer Durgun wohlwollend zuhört, wird sagen: authentisch. Wird ihm näherkommen. Da ist kein Anbiedern an das deutsche Publikum, kein auf Bestsellerlisten getrimmter Text, der trotzdem oder gerade deshalb ein Bestseller ist.
Wer es weniger gut mit Durgun meint, wird möglicherweise denken: Ein zusätzlicher Redaktionsdurchlauf hätte nicht geschadet. Oder gar ein Ghostwriter. Denn tatsächlich springt Durgun immer wieder in seiner Geschichte, lässt den roten Faden schleifen. Und verliert dabei aus den Augen, was sein Buch so stark macht.
Die besten Stellen sind die, in denen Durgun bei seiner Mutter bleibt oder wo er zu ihr hinführt. Da, wo er sie beobachtet, wo er ein Bild von ihr zeichnet, ihr Leiden greifbar macht und ihren Charme. Die Stellen, an denen er seiner Bewunderung freien Lauf lässt: "Diese Frau war ein Sprachgenie, das hier verkümmerte", schreibt Durgun. Seine Mutter spreche viel in Lebensmittel-Metaphern, erzählt er. Seine Mutter habe ihm einmal erklärt, sie spüle mit dem auch im Buch dauerpräsenten Schwarztee ihr Leid weg: "Mein Herz wird mit jedem Glas leichter", zitiert er sie.
Diskriminierung einfach nicht mitbekommen
Die meiste Zeit gelingt es Durgun aber, Episoden seines Aufwachsens mit der Geschichte seiner Mutter und ihrer Beziehung zu Deutschland zu verknüpfen. Weil ihm das gelingt, bleibt die Erzählung nahbar, nachvollziehbar.
Der Sohn beschreibt, wie seine Mutter in Deutschland unsichtbar bleibt - und im Supermarkt doch des Diebstahls verdächtigt wird. "Zurück in den Kanackenblock mit euch", ruft ein Mitarbeiter dem kleinen Tahsim und seiner Mutter am Ausgang hinterher. Der Junge ist aufgewühlt, die Mutter geht einfach. Weil sie die Beleidigung nicht versteht.
Durgun erzählt von seinem ersten Bier, der ersten Zigarette. Und erzählt gleichzeitig von tiefsitzendem Rassismus deutscher Jugendlicher, von Thilo Sarrazin und dem Moment, in dem er sich zum ersten Mal die Frage stellte, warum seine Mutter kein Deutsch kann. Er erzählt, wie er und seine Freunde betrunken nach Hause kommen und feststellen: "Wir gehören nach Deutschland."
Endlich genug sein
Durgun erzählt aber auch, wie er "lernt, Deutschland zu hassen": Er kommt von der Schule nach Hause, seine Mutter wartet mit einem Brief auf ihn. Der Junge soll übersetzen. Er und seine Geschwister müssten das Land verlassen, steht in dem Brief. Zurück in die Türkei. Seine weiteste Reise zu diesem Zeitpunkt: von Oldenburg nach Hannover.
Von diesem Tag an wurden die Behördengänge zu seinem Leistungssport, sagt Durgun. Er habe begonnen, Zeitungen zu lesen, Bücher zu studieren - "um mir die Sprache der Menschen anzueignen, die über uns verfügen konnten". Er habe dafür sorgen wollen, "dass wir endlich genug sind".
Die deutschen Behörden hatten den Ehrgeiz des Jungen geweckt. Fast zehn Jahre später hält er die deutsche Staatsbürgerschaft in der Hand - "wie es meine Mutter sich immer gewünscht hatte", so Durgun. Seit er lesen und schreiben kann, verfasst er Stellungnahmen, kopiert Unterlagen, erklärt die Lage der Familie. Im Nachhinein sagt Durgun: "Aber vor allem habe ich Angst gehabt." Von frühester Kindheit an - "das hat uns innerlich verwundet, für immer".
Diese Verletzlichkeit ist die Stärke von Durguns Buch. Sie macht den kleinen Jungen vorstellbar, der nur seiner Mutter helfen möchte. Und irgendwann daran scheitert: Weil er nicht übersetzen will, was der Arzt ihr sagt. Diese Verletzlichkeit macht zugleich den nicht mehr ganz so kleinen Jungen vorstellbar, der seiner Mutter wütend zuruft: Mama, bitte lern Deutsch!" Und sich ganz schnell entschuldigt.
Quelle: ntv.de