
Hüseyin Yilmaz' Sehnsuchtsort: Istanbul.
(Foto: picture alliance/dpa)
Kurz nachdem er sich eine Wohnung in Istanbul gekauft hat, stirbt Hüseyin Yilmaz. Für seine Beerdigung muss seine Familie aus Deutschland in die Türkei reisen. In ihrem Roman "Dschinns" erzählt Fatma Aydemir die Geschichte der Hinterbliebenen. Sie nimmt sich vieles vor - und löst fast alles ein.
Endlich steht Hüseyin Yilmaz an dem Ort, von dem er immer geträumt hat. Die Erfüllung soll eine frisch gekaufte Wohnung in Istanbul bringen. Es ist 1999. Vor mehr als 30 Jahren hat er sein Dorf in der Osttürkei hinter sich gelassen und ist zum Arbeiten nach Deutschland gegangen. Er hat diesem "kalten, herzlosen Land", wie er es nennt, alles gegeben und seinen Alltag dem Schichtdienst in der Metallfabrik untergeordnet, sein Körper ist davon schwer gezeichnet. Mit 59 Jahren ist er in den Vorruhestand gegangen und hat sich mit dem angesparten Geld die eigenen vier Wände in der Türkei gekauft. Doch plötzlich setzt dieser Schmerz ein. Ein Herzinfarkt. Hüseyin überlebt ihn nicht.
Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" beginnt mit einem Schreckmoment - und schließt direkt dort an. Denn nachdem Hüseyin gestorben ist, bleiben seiner Familie gerade einmal 24 Stunden, um in die Türkei zu reisen und ihn zu beerdigen. Aydemirs Erzählweise hat dabei einen Kniff: Sie widmet jedem Familienmitglied ein Kapitel auf dem Weg nach Istanbul. Jede Figur bringt so ein Puzzleteil mit, aus dem sich Stück für Stück das Bild der Familie Yilmaz zusammensetzt. Den Auftakt macht Vater Hüseyin, abgeschlossen wird das Buch von der Geschichte seiner Frau Emine, dazwischen sind die vier gemeinsamen Kinder. Am Ende stehen die fünf Hinterbliebenen in der Wohnung des Vaters, zu der niemand so richtig einen Bezug hat.
Vorträge über Gender-Theorie
Den Anfang unter den Kindern macht der jüngste Sohn Ümit. Während sein größerer Bruder Hakan es mit dem Auto nicht pünktlich nach Istanbul schafft, weil ihn Polizisten anlasslos aufhalten, fliegt Ümit mit Mutter Emine und Schwester Peri in die Türkei. In Deutschland spielt der Teenager in einer Fußballmannschaft, wird dort durch Zufall geoutet und von seinem Trainer zu dem angeblichen Therapeuten Dr. Schumann geschickt. Der soll ihn wegen seiner Homosexualität "behandeln" und verbindet das gleichzeitig mit seinen rassistischen Vorstellungen über Ümits "Kulturkreis".
Schwester Peri ist der Gegenentwurf zu den Brüdern. Sie ist die erste aus der Familie, die eine Universität besucht. Das fiktive Rheinstadt hat sie verlassen und studiert Germanistik in Frankfurt am Main. Peri hat sich von der Familie und ihren Konventionen gelöst. Wenn sie wieder zu Hause ist, hält sie ihrer Mutter Vorträge über Gender-Theorie, Rollenbilder und Simone de Beauvoir. Sie ist es auch, die in dem Roman das Konzept der Dschinns einführt. Es handele sich dabei um Wesen aus dem Islam, die zusammen mit den Menschen auf der Erde lebten, aber nicht gesehen werden könnten, erklärt Peri: "Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich." Jedes der Familienmitglieder habe einen solchen Dschinn, beispielsweise der Fleiß des Vaters, der sich vor den Fragen seiner Identität drückte.
Von den Kindern ist die erstgeborene Sevda vielleicht die eindrucksvollste Figur. Sie kam noch in der Türkei zur Welt. Ihr Vater holte sie erst später nach Deutschland. Sevda war zu der Zeit zwar im schulpflichtigen Alter, besuchte jedoch lediglich einen Deutschkurs. Sie heiratet jung. Sevda bekommt zwei Kinder, ist in ihrer Ehe aber unglücklich. Also versucht sie, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Tagsüber kümmert sie sich um die Kinder, nachts arbeitet sie in einem Waschsalon.
"Von rechter Gewalt geprägt"
Als Sevda eines Morgens zurück von der Arbeit kommt, hat es in dem Mehrfamilienhaus, das sie mit ihrer Familie bewohnt, gebrannt. Ein Nachbar rettet die Kinder - nicht ihr Ehemann, der seine Zeit vor allem in der Kneipe verbringt. Nach dem Vorfall entschließt Sevda sich, ihn zu verlassen, ihre Eltern verbieten das jedoch. Das führt zum Bruch zwischen der Tochter und ihren Eltern, die bis zur Beerdigung des Vaters anhält. Neben dem Frust wegen ihres Ehemanns beschäftigt Sevda auch eine andere Sache. Denn warum das Haus wirklich brannte, wird nie aufgeklärt. Es gibt lediglich die Vermutung, "dass es in dieser trostlosen Kleinstadt mit ihren zwanzigtausend Einwohnern Menschen gab, die sie tot sehen wollten, die sie ihren Mann und ihre Nachbarn tot, verbrannt, zu Staub zerbröselt, vernichtet sehen wollten."
Tatsächlich kommt es in Deutschland gerade zu Beginn der 1990er-Jahren zu einigen rassistisch motivierten Anschlägen. "Anders als in Solingen und Mölln hatte es bei ihrem Brand keine Toten gegeben", schreibt Aydemir über den Brandanschlag auf Sevdas Wohnhaus. Sie zucke jedes Mal zusammen, wenn die 1990er-Jahren zu einer harmonischen und sicheren Zeit verklärt werden, sagte die Autorin in einem Interview mit dem Hanser-Verlag: "Für mich sind das die Jahre, die in Deutschland von der Allgegenwärtigkeit rechter Gewalt geprägt waren und in der Türkei von Massakern." Was sie damit meint, wird in dem Buch bei dem Brandanschlag deutlich. "Niemand würde jemals von diesem Brand erfahren, niemand würde sich jemals für ihn interessieren, und es gab Tausende solcher Brände, so würde niemand jemals von diesen Tausenden Bränden erfahren", schreibt sie.
Es sind nicht nur Rassismuserfahrungen, die Aydemir veranschaulicht. Sie liefert auch Einblicke, die vielen normalerweise erspart bleiben. Die meisten haben eine Vorstellung davon, was für sie Heimat bedeutet. Familie Yilmaz lebt jedoch in einem Land, mit dem sie noch immer fremdeln, auch weil es sie nicht wirklich mit offenen Armen empfangen hat, zudem ist fast jedes Familienmitglied mit einer anderen Sprache aufgewachsen. Während die Eltern in dem Dorf in der Osttürkei Kurdisch sprachen, wusste ihr jüngster Sohn Ümit nicht einmal, dass sie Kurden sind. Und die Sprache wird auch zum Problem in der neuen Heimat: Tochter Peri vereitelt an einer Stelle einen Suizidversuch der Mutter und begleitet sie danach zu einer Psychiaterin. Weil die jedoch kein Türkisch kann, muss die Tochter für ihre Mutter dolmetschen.
Mit solchen Szenen verleiht Aydemir der ambitionierten Geschichte und ihren Figuren Glaubhaftigkeit. Es sind intensive und packende 368 Seiten. Es gibt kaum Konflikte und Diskurse, die nicht thematisiert werden: angefangen bei problematischen Eltern-Kind-Beziehungen über die Frage der Identität bis hin zur Transsexualität. Und hier liegt vielleicht der einzige kleine Kritikpunkt. Handlungsstränge überlagern sich, plötzlich werden vermeintliche Kleinigkeiten aus den vorderen Kapiteln in dem der Mutter zentral. Denn das Buch endet so, wie es angefangen hat: mit einer nachhallenden Erschütterung.
Quelle: ntv.de