Experte zu Anti-AfD-Demos "Die progressive Zivilgesellschaft ist nicht verschwunden"
27.01.2024, 16:09 Uhr Artikel anhören
Allein in Berlin zogen am vergangenen Wochenende mehr als 100.000 Menschen auf die Straßen.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Die Veröffentlichung der Correctiv-Recherche tritt in Deutschland eine Welle des Protestes gegen Rechtsextremismus los. Hunderttausende gehen auf die Straßen. Jannis Grimm ist Protestforscher und erklärt im Interview, welches Potenzial in diesen Demonstrationen steckt und wie es in den nächsten Wochen weitergehen könnte.
ntv.de: Herr Grimm, inzwischen haben mehr als eine Million Menschen in Deutschland gegen Rechtsextremismus demonstriert. Was bedeutet das?

Dr. Jannis Grimm leitet die Forschungsgruppe "Radical Spaces" am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der FU Berlin.
Jannis Grimm: Die Proteste zeigen zum einen, dass die Pläne rechtsextremer Netzwerke zur Vertreibung von Menschen mit Migrationsgeschichte von einem großen Teil dieser Bevölkerung nicht hingenommen werden. Das war für viele ein Schockmoment, der deutlich gemacht hat, was es konkret bedeuten würde, wenn rechtspopulistische Akteure in Deutschland in Regierungsverantwortung kämen. Zum anderen wird deutlich, dass die Gemeinsamkeiten in unserer Gesellschaft sehr groß sind: Also nicht nur gegen etwas zu sein, sondern sich aktiv für Demokratie, für Zusammenhalt und Weltoffenheit einzusetzen. In den letzten Jahren wurde der progressive Teil dieser Gesellschaft als apolitisch und lethargisch angesehen, weil man vor allem rechtspopulistische Proteste, wie zum Beispiel die gegen Corona-Maßnahmen, wahrgenommen hat. Die aktuellen Proteste zeigen, dass dieses latente progressive Potenzial durchaus noch mobilisierbar ist. In Deutschland gibt es wenig, was die Menschen so sehr politisiert wie Rechtsextremismus. Und das ist für mich ein Zeichen der Zuversicht.
Wer nimmt an diesen Protesten teil?
Es ist ein sehr breites Bündnis, das dort zusammenkommt. Zum einen sehen wir viele unterschiedliche Individuen. Denn Startschuss für die Proteste war nach Bekanntwerden der Correctiv-Recherche eine Kundgebung vor dem Kanzleramt. Dort forderten rund 1000 Menschen die Prüfung eines AfD-Verbots. Das war ein Bündnis aus Einzelpersonen, die sich spontan über die sozialen Medien zusammengefunden haben. Später haben sich dann organisierte Akteurinnen und Akteure dahinter gespannt. Dazu zählen verschiedene antifaschistische Bewegungen, die Jusos oder auch Fridays for Future. Es waren auch viele Ehemalige aus dem Unteilbar-Netzwerk dabei. Irgendwann entwickeln solche Proteste eine gewisse Eigendynamik und je breiter das Bündnis, desto mehr Menschen finden individuelle Identifikationspunkte. Das geht vom ganz linken antifaschistischen Rand über die bürgerliche Mitte bis hin zu den Gewerkschaften.
Kann so ein breites Bündnis auch abschrecken?
Auf jeden Fall. Das ist immer ein Begleiteffekt von Massenprotesten. Menschen gehen zunächst für ein konkretes Anliegen auf die Straße. Dabei sucht man den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich alle einigen können. Das setzt aber voraus, dass man die Überlappung der Interessen erkennt und über die Differenzen stellt. Häufig führt das zu eher schwammigen und allgemeinen Slogans. Doch es ermöglicht auch, über den Schatten seiner eigenen Interessen und politischen Haltung zu springen und sich auf das zu konzentrieren, was alle eint.
Was eint in diesem Fall alle?
Die aktuellen Proteste wurden durch ein konkretes Schockereignis ausgelöst. In der Forschung spricht man von moralischen "shock events" oder transformativen Events. Das heißt, einzelne Ereignisse werden symbolisch für einen Missstand, der eigentlich allen schon bewusst ist. Viele kannten natürlich schon vor der Correctiv-Recherche die Haltung der AfD oder auch die von Identitären zu Menschen mit Migrationsgeschichte. Durch das Treffen in Potsdam wurde dieses Wissen plötzlich viel konkreter. Ein solches Ereignis rüttelt an den Grundsicherheiten unserer Gesellschaft. Es ist sehr einfach, über Parteigrenzen hinweg von der Union hin bis zu den Linken das abzulehnen, was auf dieser Konferenz diskutiert wurde.
Wann wird es schwieriger?
Wenn es um die Formulierung von Handlungsanweisungen oder von positiven Zielen geht, beispielsweise einem AfD-Verbot oder der Aberkennung der Grundrechte von Björn Höcke, wird es schlagartig schwieriger. An diesem Punkt treffen plötzlich deutlich mehr Meinungen aufeinander. Bei der Verbots-Überlegung betont eine Seite immer wieder das Risiko, dass man die AfD dadurch in ihrer Rolle als Märtyrer stilisiere. Andere halten ein Verbot für zwingend notwendig, weil sonst der Vormarsch dieser Partei nicht aufzuhalten sei. Es gibt also eine ganze Reihe strategischer und normativer Konflikte, die momentan noch gar nicht angesprochen sind.
Was ist die größte Herausforderung?
Momentan sind die Proteste noch ein Netzwerk aus sehr vielen diversen Akteuren. Wir können von einer deutschlandweiten Protestepisode sprechen. Damit das eine soziale Bewegung im klassischen Sinne wird, braucht es eine kollektive Identität und das Herausbilden einer positiven Vision. Ich glaube, das Potenzial war seit Langem nicht mehr so groß, dass das auch tatsächlich gelingen kann.
Auch Olaf Scholz, Annalena Baerbock oder Hendrik Wüst haben an den Protesten teilgenommen. Wie bewerten Sie ein Auftreten von Regierungsvertreterinnen und -vertretern bei solchen Veranstaltungen?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen ist das Grundprinzip von demokratischem Protest, auch politische Entscheidungsträger zu erreichen, um genügend Druck für oder gegen eine bestimmte Politik zu kreieren. Aktuell also für progressivere und offenere Migrationspolitik und ein stärkeres Vorgehen gegen Rechtspopulismus und die Rassifizierung von Menschen. Somit ist es erst einmal positiv zu bewerten, dass Politikerinnen und Politiker die Forderungen so unmittelbar wahrnehmen können. Gleichzeitig riskiert man mit einer solchen Teilnahme oder auch durch Aufrufe einzelner Parteien, an diesen Demos teilzunehmen, dass diese Proteste letztlich als kooptiert oder von der Regierung gesteuert dargestellt werden. Dann wird von totalitärer Meinungsmache gesprochen. Und das sind Narrative, derer sich die rechte Blase anlässlich der aktuellen Proteste bereits bedient. Den Protestierenden wird damit abgesprochen, dass sie für sich selbst stehen und denken. Momentan sehe ich jedoch keine Gefahr, dass diese Narrative bei einem breiten Teil der Gesellschaft verfangen.
Demos pro Israel, pro Palästina, Bauernproteste, nun die Anti-AfD-Demos: Werden die Menschen generell politischer?
Es ist schwer einzuschätzen, ob Menschen politischer werden oder ob sich die Mittel ihrer politischen Teilhabe ändern. Was wir mit großer Sicherheit sagen können, ist, dass die Hinwendung zu anderen Formen der politischen Artikulation zunimmt. In einem Kontext, in dem immer mehr Krisen als radikale Bedrohungen empfunden werden, empfinden auch immer mehr Menschen radikale Ausdrucksmittel als angemessen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Handeln der Letzten Generation. Bei dem Thema Klimakrise fehlt die Zeit für langwierige Parteikämpfe, daher nimmt in so einem Kontext der Protest zu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern ist weltweit zu beobachten. So war die letzte Dekade definitiv die Dekade des Massenprotests.
Seit der Wiedervereinigung gab es in Deutschland drei Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus. Haben diese Proteste in der Vergangenheit etwas bewirkt?
Es ist schwierig, die Wirkung von Protest klar festzumachen, weil sich diese oft erst mittel- oder langfristig zeigt. Häufig äußert sich der Erfolg von Protest auch zunächst in Diskursverschiebung in eine gewisse Richtung.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben das in den letzten Jahren vor allem im Bereich bei rechten Akteuren erlebt, indem diese durch ständige Mobilisierung langsam und graduell progressive Diskurse erodieren. Und somit auch Menschen aus der Mitte der Parteienlandschaft immer weiter ins rechte Lager ziehen. Auch die Klimaproteste sind ein gutes Beispiel. Die Letzte Generation hat durch ihre Aktionen vielleicht nicht sonderlich viele Sympathiepunkte gesammelt. Aber sie hat es mit wenig Mitteln geschafft, über anderthalb Jahre den Diskurs zu bestimmen und heute ist die Klimakrise jedem und jeder in Deutschland ein Begriff.
Sehen Sie dieses Potenzial auch in den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus?
Auf jeden Fall. Denn unabhängig vom Einfluss auf Wahlentscheidungen ist das Signal entscheidend: Anstatt nach rechts muss es dringend wieder nach links gehen. Dort gibt es eine potenzielle Wählerschaft, dort gibt es viel Interesse für progressive Fragen. Das deutlichste Signal ist dabei der Slogan "Wir sind die Brandmauer", der bei vielen Protesten skandiert wurde und sich auf die Selbstbezeichnung der Union als Brandmauer gegen rechts bezieht. Dahinter verbirgt sich eine klare Handlungsanweisung an die Unionsparteien, die Mauer gegen rechts aufrechtzuerhalten oder neu aufzubauen. Ob mit Erfolg – das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.
Können solche Proteste auch AfD-Wählerinnen und -Wähler umstimmen?
Viele Menschen wählen die AfD nicht, weil sie vollständig überzeugt von deren Positionen sind, sondern, um Parteien der bürgerlichen Mitte zu zwingen, mit der AfD langfristig zu koalieren oder sich den Inhalten der Partei zumindest anzunähern. Wenn jetzt das Signal in der bürgerlichen Mitte ankommt, dass eine Wahl keinen Sinn macht, könnte diese Art von Protestwahl abnehmen. Ich denke, dass die Europawahlen und auch die ersten Landtagswahlen wegweisend sein werden.
Die AfD ist laut Umfragewerten bundesweit zweitstärkste Kraft. Hat die Zivilgesellschaft verschlafen, etwas gegen diese Entwicklung zu tun?
Wohlgemerkt ist es nicht die Aufgabe der Proteste allein, das Momentum der Rechten in Deutschland zu brechen. Die fungieren in erster Linie als Wakeup-Call. Aber natürlich können wir uns vorwerfen, zu wenig gegen den Aufstieg von rechts zu tun. Dennoch ist es wichtig, zu betonen: Die progressive Zivilgesellschaft ist nicht verschwunden. Man darf nicht vergessen, dass die letzten Jahre von multiplen Krisen geprägt waren. Die Coronapandemie, mehrere Kriege – und immer wieder rechte Akteure, die durch Mobilisierung auf den Straßen dominiert haben. Da war es schwierig, in gleichem Maße ein Zeichen zu setzen. Als zu Pandemiezeiten reaktionäre Kräfte gegen Corona-Maßnahmen demonstriert wurde, wollte man sich als progressiver Akteur, unabhängig davon, wie man zur Regierungspolitik steht, nicht unverantwortlich verhalten oder in die gleiche Kerbe hauen. Man ist auch aus Verantwortungsbewusstsein von der Straße weggeblieben. Das heißt aber nicht, dass es keine Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement mehr gibt.
Neben Protesten - wie kann zivilgesellschaftliches Engagement noch aussehen?
Wir wissen, dass soziale Zerfallsprozesse die Hinwendung zu extremistischen Strukturen befördern. Das sind Orte, an denen die soziale Kohäsion bröckelt, wo wenig investiert wird, und kaum kulturelle Kommunikation stattfindet. Oft mangelt es an Jugendvereinen oder Nachhilfestätten. "Parallelgesellschaft" wird das etwa häufig mit Blick auf Berlin-Neukölln genannt. Diese Parallelgesellschaften gibt es aber nicht ausschließlich, vielleicht nicht mal vorwiegend, in migrantisch geprägten, sondern auch in vielen klar rechtsextrem-markierten Räumen. Aber es gibt seit Langem zivilgesellschaftliche Initiativen, die darauf hinwirken, diese Orte zu durchdringen, Menschen ein Alternativangebot zu bieten, sowohl strukturell als auch im Sinne von Vorbildern. Dass man alte, eingefleischte Ideologen damit nicht mehr erreicht, ist kein Geheimnis. Es geht darum, neue Potenziale zu unterbinden. Das geschieht nicht nur durch Protest, sondern durch langfristige Investitionen und die stetige Thematisierung auf politischer Ebene.
Inwieweit könnte auch die AfD von den Protesten profitieren?
Das Problem ist nicht die Thematisierung von Rechtsextremen durch Antifaschisten. Das Problem ist auch nicht das Vorgehen der Linken gegen Rechtsextreme. Das Problem ist, dass im Kontext von diesen Demonstrationen AfD-Politiker zur Stellungnahme in Medienformate eingeladen werden und so die Möglichkeit bekommen, die Proteste, die sich eigentlich gegen sie richten, selbst einzuordnen. Das kann verheerende Folgen haben.
Nämlich?
Auf der einen Seite werden diese Proteste medial als neuer Hoffnungsschrei gefeiert und auf der anderen Seite werden die Antidemokraten ans Rednerpult gehievt. Somit werden zwei Gruppen gegeneinander ausgespielt, es wird unterstellt, dass es hier um einen Konflikt zweier gleich großer Lager geht, und es werden im Zweifel die geschwächt, die nicht in den öffentlichen Talkshows sitzen. Denn auch wenn Millionen Menschen an den Demonstrationen teilnehmen, handelt es sich immer noch um eine Minderheit – der Großteil der Menschen war nicht selbst dabei, sondern erfährt darüber in den Medien. Somit ist auch die Art der medialen Berichterstattung entscheidend für das Potenzial dieser Demos.
Worauf kommt es in den nächsten Wochen an?
Wir sehen hier Proteste, die sich an einer Konferenz entzündet haben, in der es um die Deportation und die Vertreibung von Menschen mit Migrationsbezug geht. Gleichzeitig sind diese Proteste zwar divers, aber dennoch stark von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft geprägt. Wir müssen viel konkreter über ganz persönliche Ängste von Menschen mit Migrationsbezug reden, die sprichwörtlich die allerersten auf der Liste wären. Diese Menschen sind medial viel zu wenig vertreten. Wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung, sie zu schützen. Und dafür müssen wir die Lebenswirklichkeit dieser Menschen erkennen. Denn diese ist nicht nur von einer gefühlten, sondern von einer tatsächlichen Bedrohung geprägt – und zwar von rechts.
Mit Jannis Grimm sprach Leah Nowak.
Quelle: ntv.de