Volles Risiko für Kinder Schweden steuert auf schwierigen Herbst zu
17.08.2021, 20:12 Uhr
Schweden geht mit einer riskanten Strategie in den Pandemie-Herbst.
(Foto: imago images/imagebroker)
Buhmann oder leuchtendes Vorbild - Schwedens Sonderweg durch die Corona-Pandemie wird selten nüchtern betrachtet. Tut man es, stehen die Skandinavier trotz ihres vergleichbar lockeren Umgangs mit der Krise nicht schlechter als Deutschland da. Der Härtetest steht Schweden allerdings noch bevor.
Im ersten Jahr der Corona-Pandemie war Schweden ein großer Aufreger, weil das Land im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern auf Lockdowns verzichtete. Die Skandinavier verzichteten zwar nicht ganz auf einschränkende Maßnahmen, setzten aber vor allem auf Empfehlungen und allgemeinen Hygieneregeln. Inzwischen ist Schweden aus den Schlagzeilen verschwunden, und das hat einen guten Grund: Die Inzidenz ist im europäischen Vergleich niedrig und nur in Island und Liechtenstein sterben aktuell weniger Menschen an Covid-19. Doch die schwedische Strategie bleibt riskant und könnte dem Land im Herbst und Winter große Probleme bereiten.
Vergleichsweise niedrige Inzidenz
Mitte April sah es so aus als würde Schwedens Sonderweg scheitern, denn mit deutlich mehr als 400 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner hatte das Land die höchste Inzidenz Europas. Doch die vielen Ansteckungen führten kaum zu mehr schweren Erkrankungen und Todesfällen. Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt nur eine Inzidenz von rund 175.
Doch dann ging es mit den Fallzahlen wie fast überall in Europa auch in Schweden steil nach unten bis sie im Juni mit weniger als 20 Neuinfektionen den Tiefststand erreicht hatten. Seitdem steigt die 7-Tage-Inzidenz wieder stetig an und liegt aktuell bei 59,4. Der Wert ist damit etwas höher als der deutsche, aber in Schweden gingen die Fallzahlen zuletzt langsamer nach oben als hierzulande.
Fast keine Corona-Toten mehr
Außerdem kann das Land aktuell bei den wichtigsten Daten glänzen. Denn laut dem European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) hat Schweden mit aktuell 0,19 registrierten Todesfällen pro 14 Tage und 100.000 Einwohner von allen größeren EU-Staaten die niedrigste Corona-Sterberate. Nur Island und Liechtenstein stehen ohne einen einzigen Covid-19-Toten in den vergangenen zwei Wochen besser da. Zum Vergleich: die deutsche Rate beträgt 3,09.
In den vergangenen 28 Tagen registrierte das 10,2-Millionen-Einwohner-Land Schweden laut Johns Hopkins University 28 Todesfälle. Deutschland, das 83 Millionen Einwohner hat, zählte im gleichen Zeitraum 501 Corona-Opfer. Das sind rund 18 Mal mehr Tote, obwohl die Bevölkerungszahl nur knapp achtmal größer ist.
Vorteile durch jüngere Bevölkerung
Ein direkter Vergleich der Länder hinkt allerdings. Denn neben vielen anderen Unterschieden hat Schweden laut EUROSTAT mit einem Durchschnittsalter von 40,5 Jahren eine viel jüngere Bevölkerung als Deutschland, dessen Einwohner durchschnittlich 45,9 Jahre alt sind. Nur die Italiener haben mit 47,2 Jahren ein noch höheres Durchschnittsalter.
In Deutschland sind 6,8 Prozent der Bevölkerung 80 Jahre oder älter, in Schweden 5,2 Prozent. Etwa 60.000 der bisher fast 92.000 deutschen Corona-Toten waren über 80 Jahre, 79.000 über 70 Jahre alt.
Mit einer Fallsterblichkeit von 1,3 Prozent aller Infektionen gehört Schweden trotz der vielen Toten in Pflegeheimen zu Beginn der Pandemie inzwischen zu den weltweit erfolgreicheren Ländern. Deutschland kommt hier auf einen Anteil von 2,4 Prozent, weltweit beträgt die Rate 2,3 Prozent. Wegen der hohen Inzidenzen verzeichnet Schweden allerdings 142,5 Covid-19-Tote pro 100.000 Einwohner, in Deutschland sind es nur 110,5.
Krankenhäuser kaum belastet
Auch schwere Erkrankungen sind in Schweden derzeit sehr selten. Am 8. August lagen dort laut Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten 125 Corona-Patienten im Krankenhaus. Der Tiefststand war am 30. Juli mit 108 Fällen erreicht, im April waren noch mehr als 2200 Menschen mit Covid-19 im Krankenhaus.
Die wenigen schweren Fälle spiegeln sich auch auf den schwedischen Intensivstationen wider: Seit Anfang Juli liegen dort etwa 20 bis 30 Fälle und es ist nur ein minimaler Aufwärtstrend zu sehen. Die Altersverteilung entspricht dabei ziemlich genau der deutschen. Etwa die Hälfte der Covid-19-Intensivpatienten ist älter als 60 Jahre, die andere jünger.
Auch wenn Schweden zu Beginn der Pandemie tödliche Fehler beim Schutz der vulnerablen Gruppen gemacht hat, ist es in den folgenden Monaten kaum schlechter durch die Krise gekommen als Deutschland oder andere europäische Länder mit weit einschränkenderen Maßnahmen.
Zur Erinnerung: Eine Maskenpflicht gab es in dem Land nie, Fitnessstudios, Gastronomie und Geschäfte blieben auch nach Verschärfungen durch ein neues Pandemiegesetz im Januar geöffnet. Theater oder Kinos mussten dichtmachen, aber nur weil sich der Betrieb wegen begrenzter Besucherzahlen nicht lohnte.
Schulbeginn wird zur Feuerprobe
Auch Schulen wurden normalerweise nicht geschlossen. Allerdings hat die Regierung die Präsenzpflicht eingeschränkt. Grundschüler hatten normalen Unterricht. In der zweiten Stufe lag es in der Hand der Schulleitung, je nach Infektionsgeschehen konnten sie einen kompletten oder teilweisen Fernunterricht anordnen. Grundsätzlich geschlossen wurden nur staatliche Einrichtungen sowie Universitäten.
Jetzt sind die Sommerferien in Schweden zu Ende und die Gesundheitsbehörde hat beschlossen, die Schulen über alle Altersstufen hinweg wieder weitgehend im Präsenzunterricht zu starten. Auch die Studenten sollen wieder in die Hörsäle zurückkehren. Dies soll allerdings schrittweise erfolgen und außerhalb von Vorlesungen und Kursen sollen die Lehrenden im Homeoffice arbeiten, was für alle Staatsbediensteten Pflicht ist.
Angesichts der Delta-Variante sehen viele Schweden einen Präsenzunterricht kritisch. Lisa Bjurwald von "The Local" denkt beispielsweise, dass es die Regierung bereuen wird, Schülerinnen und Schüler ohne Masken und nur mit allgemeinen Ratschlägen für die Lehrkräfte in die Klassenräume zu schicken. Sie ignoriere wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach auch Kinder an Long-Covid erkranken und das Virus an vulnerable Familienmitglieder weitergeben können, schreibt sie.
Bisher nur Erwachsene geimpft
Dabei bezieht sich Bjurwald auf die spezielle Impfpolitik in Schweden. So genießen dort bisher laut ECDC nur knapp 58 Prozent aller Erwachsenen den vollen Impfschutz, aber 80 Prozent haben wenigstens eine Dosis erhalten. Man erkennt daran, dass das Land die Taktik verfolgt, möglichst viele über 18-Jährige schnell einmal zu impfen, statt in kürzerer Zeit viele durchgeimpfte Menschen zu haben. Zum Vergleich: In Deutschland sind aktuell 65,6 Prozent der Erwachsenen vollständig geschützt, 74,8 Prozent haben zumindest eine Dosis erhalten.
Beeindruckend ist dabei, wie hoch die Impfquoten bei den vulnerablen älteren Einwohnern ist. 91 Prozent der über 80-Jährigen sind vollständig geimpft, 94,8 Prozent haben wenigstens die erste Dosis erhalten. Bei den 70- 79-Jährigen sind es 93 und 95,9 Prozent, bei den 60- bis 69-Jährigen 86,9 und 89,7 Prozent. Sogar die 50- bis 59-Jährigen kommen noch auf Quoten von 79,1 und 87,2 Prozent. Deutschland teilt der ECDC nicht so detaillierte Informationen mit. Laut RKI wurden bisher 82,4 Prozent der über 60-jährigen Deutschen zweimal geimpft, 85,8 Prozent einmal.
Experiment mit ungewissem Ausgang
Überlastete Krankenhäuser muss Schweden also kaum fürchten, weil die älteren Menschen bestens geschützt sind. Doch die schwedische Taktik setzt Kinder und Jugendliche dem vollen Risiko aus, ohne wirklich zu wissen, welche Folgen das haben wird. Volles Risiko heißt: In Schweden wurden bisher ausschließlich Erwachsene geimpft.
Erst Ende Juni beschloss die Regierung, auch die 16- bis 18-Jährigen einzubeziehen, die Impfungen sollten laut Gesundheitsbehörde "irgendwann im August" beginnen. In Deutschland sind immerhin schon 15,5 Prozent der 12- bis 17-Jährigen durchgeimpft und 24,6 Prozent haben wenigstes eine Spritze bekommen.
Allen Unkenrufen zum Trotz ist Schweden mit seiner Strategie in den vergangenen eineinhalb Jahren gut durch die Pandemie gekommen. Die Kinder haben dort zwar auch seelisch gelitten, wie ihr Ombudsmann in einem Bericht feststellte, aber nicht so sehr wie in Deutschland. Er weist darin aber auch auf das Problem von Long-Covid hin. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie groß es tatsächlich ist und ob Schwedens Taktik aufgeht.
Quelle: ntv.de