
Beinah die ganze Welt redet von "Putins Krieg". Dass er sich dafür vor Gericht verantworten muss, scheint derzeit jedoch unwahrscheinlich.
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Anschläge auf Zivilisten und der Einsatz verbotener Waffen: Die Vorwürfe gegen Russland wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine mehren sich. Die britische Regierung geht sogar noch einen Schritt weiter - sie bezichtigt den russischen Präsidenten persönlich der Gräueltaten des Kriegs.
In Mariupol schlägt eine Bombe in eine Geburtenklinik ein - eine schwangere Frau und ihr ungeborenes Baby überleben den Angriff nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums nicht. In Charkiw feuern russische Truppen laut "Human Rights Watch" Streumunition auf Wohngebiete, bei Saporischschja kommt es nach Beschuss zu einem Brand an Europas größtem Kernkraftwerk und immer wieder gibt es Berichte über Raketenangriffe auf Schulen, Kindergärten und Verwaltungsgebäude. Mit diesen Attacken auf zivile Ziele könnte Russland Kriegsverbrechen begehen, macht eine Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte deutlich. Der britische Premierminister Boris Johnson geht noch einen Schritt weiter: In einer Rede im britischen Unterhaus wirft er nicht Russland, sondern Wladimir Putin persönlich vor, "die Bedingungen eines Kriegsverbrechens zu erfüllen". Immerhin redet die ganze Welt von "Putins Krieg in der Ukraine".
Grundsätzlich müssen sich Menschen, die eines Verbrechens beschuldigt werden, vor Gericht verantworten. Der Justizminister Großbritanniens hält das auch in diesem Fall für möglich und richtet seine Worte deshalb direkt an den Kremlchef: "Es gibt eine echte Chance, dass Sie mit der Anklagebank eines Gerichts in Den Haag und einer Gefängniszelle konfrontiert werden." Was müsste passieren, um Wladimir Putin tatsächlich zur Verantwortung zu ziehen?
1. Es braucht einen Ankläger und ein zuständiges Gericht
"Wo kein Richter, da kein Henker", lautet ein jahrhundertealtes juristisches Sprichwort. Um den russischen Regierungschef zu belangen, bräuchte es jemanden, der ihn anklagt und ein Gericht, das ihn verurteilt. Russland selbst wird Putin kaum vor Gericht ziehen. Die Ukraine hat vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Russland eingereicht. Darin fordert Kiew zum einen den sofortigen Stopp aller russischen Militäreinsätze in der Ukraine und zum anderen die Feststellung, dass es entgegen russischer Behauptungen keinen Völkermord in der Ukraine gegeben hat und der Angriffskrieg Russlands damit unrechtmäßig war.
Sollte Kiew vor dem Internationalen Gerichtshof Recht bekommen, würde das die internationale Position des Landes stärken - das Urteil würde unterstreichen, dass die Ukraine genau die Weltordnung stärkt, gegen die Russland kämpft. Eine solche Entscheidung hätte somit zwar einen hohen psychologischen Wert, jedoch keine praktischen Konsequenzen für Russland, denn das zentrale Gericht der UN hat keine Mittel, um seine Entscheidungen durchzusetzen. Putin selbst muss eine solche Entscheidung noch weniger fürchten, denn das Gericht kann nicht gegen Personen, sondern nur gegen Staaten urteilen.
Anders sieht es beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aus. Hier sitzen die Verantwortlichen schwerer Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen persönlich auf der Anklagebank. Es gibt allerdings einen weiteren entscheidenden Unterschied zum Internationalen Gerichtshof: Der Internationale Strafgerichtshof ist kein Gericht der Vereinten Nationen, sondern "gewissermaßen ein Club, bei dem man mitmachen kann oder auch eben nicht", wie Moritz Vormbaum, Professor für Strafrecht an der Universität Münster im Gespräch mit ntv.de erklärt. Russland und die Ukraine sind keine Mitglieder dieses Clubs.
Trotzdem verkündete Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, dass er die Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine mit der Unterstützung von 40 Staaten gestartet habe. "Das ist möglich", sagt Vormbaum. Länder können die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs anerkennen, ohne ihm beizutreten. Genau das hat die Ukraine bereits 2014 nach der Annexion der Krim getan. Die Ermittlungen des Gerichtshofs auf ukrainischem Gebiet sind damit möglich, denn eine Kriegspartei hat das Gericht anerkannt. Die Strategie des Gerichts sei es jedoch nicht, "gegen jeden einzelnen Soldaten zu ermitteln", sagt der Experte für Internationales Strafrecht. Es gehe darum, diejenigen mit der größten Verantwortung zu verfolgen. "Das können Militärführer sein, aber auch die politische Führung." Ermittlungen gegen Wladimir Putin steht damit nichts im Wege.
2. Putin müsste einen Straftatbestand erfüllen
Es gibt allerdings eine entscheidende Einschränkung. Grundsätzlich könne das Gericht auch wegen des Führens eines Angriffskriegs - "the crime of crimes", wie es einst in den Nürnberger Prozessen hieß - ermitteln. Allerdings seien diese Ermittlungen "nur innerhalb des Clubs" möglich, also wenn ein Mitgliedsstaat einen anderen angreift, erklärt Vormbaum. Da Russland kein Mitglied des Strafgerichtshofs ist, blieb dem Chefankläger somit nur, Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuleiten. Dabei habe der Internationale Strafgerichtshof ein Problem, so der Experte. "Er hat keine eigene Polizeieinheit, die er für Ermittlungen in die Ukraine schicken kann." Er sei damit angewiesen auf Informationen von Mitgliedsstaaten oder Menschenrechtsorganisationen.
Potentielle Ermittlungsansätze gibt es bereits viele. So berichteten verschiedene Medien unabhängig voneinander von einem Angriff auf einen Zug mit Flüchtenden im Donbass, die Weltgesundheitsorganisation meldete bereits über 31 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und Amnesty International fand heraus, dass sogenannte "dumme Bomben" auf ein dicht besiedeltes Gebiet in Tschernihiw geworfen wurden. Dies sind nur einige von vielen Ansätzen, denn seit Beginn des Kriegs überschwemmt eine Flut aus Videos und Bildern angeblicher Angriffe das Netz. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens werden auch sie eine Rolle spielen, denn viele weisen auf den Einsatz verbotener Munition oder Angriffe auf zivile Einrichtungen hin.
Die US-Botschaft in Kiew sprach außerdem im Zusammenhang mit dem Brand am Atomkraftwerk Saporischschja von einem Kriegsverbrechen. Kürzlich warnten die US-Regierung sowie der britische Geheimdienst vor dem Einsatz chemischer Waffen durch russische Truppen. Auch dabei würde es sich um Kriegsverbrechen handeln.
3. Die Verbrechen müssten Putin nachgewiesen werden
Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von russischer Seite gibt es somit viele. Um Putin auf die Anklagebank zu bringen reicht das jedoch nicht aus - die Taten müssten auch mit ihm in Verbindung gebracht werden. "Das wird schwieriger", betont Vormbaum. Die Ermittler müssten ihm "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweisen, dass er die Verbrechen entweder direkt angeordnet oder zumindest das in seinem Bereich Mögliche nicht unternommen hat, um sie zu verhindern". Letzteres nenne man Vorgesetztenverantwortlichkeit, so der Experte.
Zwar ist Putins Machtapparat und sein Einfluss riesig. Um ihm tatsächlich eine Verantwortlichkeit nachzuweisen, bräuchte es aber mehr als Fernsehaufnahmen des Kriegs, erläutert Vormbaum. Es gehe um militärische Entscheidungen. "Putin kann leicht sagen, mit dem Militär habe er nichts zu tun", so der Jurist. Diese Verteidigungsstrategie liege nahe. "Somit wird es viel einfacher sein, den militärischen Führungspersönlichkeiten einen Bezug zu den Verbrechen nachzuweisen."
Die Verantwortungskette bis hoch in den Kreml zu belegen, wird nicht leicht. Großbritannien ist jedoch fest entschlossen, genau das zu tun. "Putin wird für diese Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen", sagte der britische Gesundheitsminister Sajid Javid. Dafür werde das Vereinigte Königreich den Chefankläger Khan bei der Sammlung von Beweisen unterstützen.
4. Putin müsste vor Gericht erscheinen
Selbst, wenn es schließlich zur Anklage von Wladimir Putin kommt, eröffnet sich das wahrscheinlich größte Problem des Internationalen Strafgerichtshofs. Denn dieser verhandelt nicht in Abwesenheit des Angeklagten. "Sowohl Putin als auch andere russische Verantwortliche sind nicht in Den Haag", führt Vormbaum aus. "Und sie werden dort auch nicht freiwillig hinreisen." Der Strafgerichtshof könnte einen internationalen Haftbefehl ausstellen, der "dann erst einmal in der Welt wäre". Nun wäre das Gericht darauf angewiesen, dass die russischen Verantwortlichen an den Gerichtshof ausgeliefert werden. Am meisten Hoffnung gebe es, wenn der Kremlchef oder andere Beschuldigte in einen der 124 Staaten reisten, die das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert haben.
Zu den Mitgliedern gehören unter anderem alle Mitglieder der EU - nicht dazu gehören Länder wie China, Russland, Israel, die USA oder die Türkei. Während sich neutrale Staaten auf die Immunität des russischen Präsidenten berufen könnten, um ihre diplomatischen Beziehungen zu wahren, "haben die Mitgliedsstaaten eine Pflicht zur Kooperation mit dem Gericht." Putins Reisefreiheit wäre damit erheblich eingeschränkt. Viel mehr könne das Gericht jedoch nicht machen, sagt Vormbaum. "Es kann gut sein, dass dann erst einmal Jahre nichts passiert."
Gibt es also keine realistische Chance, Wladimir Putin jemals zur Verantwortung zu ziehen?
"Im Moment ist es höchst unwahrscheinlich", bestätigt der Experte. "Allerdings kann sich das auch ändern." Völkerrechtsverbrechen verjähren nicht. Damit sei der Zeitfaktor auf der Seite des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Strafrechtler erinnert an den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir, der wegen Kriegsverbrechen und Völkermord in Den Haag angeklagt ist. Über zehn Jahre bestand ein Haftbefehl gegen ihn. Al-Baschir blieb jedoch im Amt, ausgeliefert wurde er nie. 2019 wurde er jedoch gestürzt. "Und plötzlich wurde konkret über die Auslieferung nach Den Haag verhandelt", erklärt der Jurist. "Wer weiß, wie der Kreml in fünf Jahren aussieht." Dass Putin tatsächlich auf der Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs landen wird und verurteilt wird, hält Vormbaum zwar für unwahrscheinlich. "Es ist aber nicht gänzlich ausgeschlossen."
Quelle: ntv.de