Politik

Bürger feiern Grundgesetz "Demokratie ist kein Zuschauersport"

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Deutschland feiert 75 Jahre Grundgesetz - auch mit Bürgerfesten in Berlin und Bonn. Wenn sich Spitzenpolitiker wie Olaf Scholz den Fragen des Publikums stellen, geht es bald um Konkretes - Fachkräftemangel, Klima und Taurus für die Ukraine.

Vor einer Tribüne im Reichstag knubbelt sich eine Menschentraube. Eine dünne, schwarz-rot-gold gezwirbelte Schnur hält Familien mit Kindern und Senioren-Paare zusammen. Der ein oder andere fragt ungeduldig das Sicherheitspersonal auf der anderen Seite der Schnur, wo es denn zur Kuppel gehe. Dann betritt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Bühne. Die SPD-Politikerin bedankt sich für den Vorschuss-Applaus und begrüßt die Bundestagsbesucher: "Liebe Freundinnen und Freunde der Demokratie, ich freue mich, dass Sie mit uns feiern!"

Vor 75 Jahren, in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1949, trat das Grundgesetz in Kraft. Es war die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Bereits am Donnerstag hatte Bundespräsident Steinmeier bei einem Staatsakt mit geladenen Gästen in Berlin das Grundgesetz als Basis des Zusammenlebens gewürdigt. Für die Bürger findet in Berlin und in Bonn an diesem Wochenende das Fest der Demokratie statt.

Am Sonntag ist der französische Staatspräsident Emmanuel Macron zu Besuch auf dem Berliner Fest der Demokratie. Zum Abschluss wird es Sonntagabend ein großes Konzert auf einer der Bühnen geben, bei dem sich Musiker wie die Fantastischen Vier, Lena Meyer-Landrut, Sebastian Krumbiegel, Vanessa Mai und Zoe Wee das Mikro reichen werden. Das Fest endet mit einem Feuerwerk und den Sounds von Alle Farben.

Das Geburtstagskind auf dem Präsentierteller

Nach ihrer kurzen Eröffnungsrede am Freitag geht Bärbel Bas mit der Besuchertraube durch eine Ausstellung, in der die Lebensgeschichten der Mütter und Väter des Grundgesetzes nacherzählt werden. "Kommen Sie an meine Seite", sagt Bas zu einer etwas schüchternen Besucherin. Andere Besucher kommen der Bundestagspräsidentin von sich aus nah, denn sie wollen ein Foto mit der SPD-Politikerin machen. Ebenso beliebt sind Karlchen und Karla. Die zwei grauen Vogelmaskottchen sind die Geschwister des Bundesadlers.

Beliebtes Fotomotiv: Die Maskottchen Karla und Karlchen.

Beliebtes Fotomotiv: Die Maskottchen Karla und Karlchen.

(Foto: Wegmann)

Im Reichstagsgebäude, einmal um die Ecke und zwei lange Gänge geradeaus, können die Besucher das "Geburtstagskind bewundern", wie Bas diesen besonderen Programmpunkt nennt. Aufgebahrt und gut geschützt in einer Vitrine liegt das Originalgrundgesetz von 1949 aus. Die Urschrift verlässt das Parlamentsarchiv sonst nur, wenn Bundeskanzler oder Bundespräsident vereidigt werden, sagt Bundestagsarchivarin Angela Ullmann.

Als Bas die Bibliothek betritt, reihen sich die Wartenden in einer Schlange fast bis zur nächsten Ecke. Nur in Grüppchen können sie den empfindlichen Jubilar besuchen. "Das Interesse ist enorm. Ich bin überrascht", sagt die Bundestagsarchivarin. Sie oder zwei ihrer Kollegen stehen das Wochenende über neben der Vitrine, um Fragen zu beantworten. "Das sind wir den Menschen schuldig", sagt Ullmann.

Die Urschrift des Grundgesetzes liegt in der Bibliothek des Bundestages aus.

Die Urschrift des Grundgesetzes liegt in der Bibliothek des Bundestages aus.

(Foto: Wegmann)

Während sich Bas der Vitrine mitten des mit Büchern gerahmten Raumes nähert, kommt Wehmut in ihr auf, wie die SPD-Politikerin sagt. "Die Fingerabdrücke sind aber nicht von mir", sagt sie, als sie vor der Vitrine steht. Viele wollen ein Foto zusammen mit Bas vor dem Originalgrundgesetz. Auch der 13-jährige David aus Rheinland-Pfalz lässt sich mit der Bundestagspräsidentin ablichten. Gemeinsam mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester ist er sechs Stunden mit dem ICE nach Berlin gefahren - nicht nur, um die Demokratie zu feiern. Wie viele Besucher trägt David ein weißes Trikot des 1. FC Kaiserslautern.

Am Samstag treffen Kaiserslautern und der neue Deutsche Meister Bayer 04 Leverkusen im DFB-Pokalfinale im Berliner Olympiastadion aufeinander. "Es ist eine einmalige Gelegenheit, hier im Bundestag zu sein. Das kann man ja nicht jeden Tag", sagt David. "Wir haben ein paar Tage in Berlin verbracht und haben die Gelegenheit genutzt, das Grundgesetz zu sehen", sagt seine Mutter Vera. "Es ist die Grundlage des Miteinanders."

Mit den Bürgern im Dialog

Ein paar Hundert Meter weiter auf dem Platz vor dem Kanzleramt stellen sich die sogenannten Spitzen der Verfassungsorgane den Fragen ausgewählter Gäste: Neben Bas sind dies Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig, Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth und Bundeskanzler Olaf Scholz und Vizekanzler Robert Habeck.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Dialog mit Bürgern auf dem Demokratiefest am Freitagnachmittag.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Dialog mit Bürgern auf dem Demokratiefest am Freitagnachmittag.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Den Anfang macht am Freitagnachmittag Scholz. Eingeladen sind Ehrenamtliche aus Kultur, Sport und Gesellschaft. Um eine kleine runde Bühne sitzen im Kreis circa Hundert Personen in Tracht, Feuerwehruniform oder einfach in T-Shirt und Hose. Eigentlich geht es im Dialogforum um ehrenamtliches Engagement als Kitt der Gesellschaft, aber die Fragenden lenken das Gespräch oftmals hin zu anderen Problemen: Klimawandel, Energieversorgung oder Arbeitskräftemangel.

So fragt der 19-jährige Ostap den Kanzler nach den ausbleibenden Taurus-Lieferungen an die Ukraine. Ostap lebt in Berlin. Vor zwei Jahren ist er aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. "Ich verstehe seine Haltung zu den Taurus-Lieferungen. Er will keine Eskalation des Krieges", sagt Ostap später ntv.de. Die 23-jährige Viktoriia und die 21-jährige Andriana stimmen ihm zu. Auch sie sind nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nach Deutschland gekommen.

Nach dem Dialogforum mit Scholz schlendern die drei die Festmeile zwischen Reichstagsgebäude, Paul-Löbe-Haus und Kanzleramt entlang. "Ich finde, die Politik in Deutschland ist sehr transparent", sagt Andriana. Sie hat gerade zwei Monate Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten hinter sich. Dass die Menschen überhaupt den Bundestag besuchen oder ins Gespräch mit dem Bundeskanzler kommen, das könnte sich Andriana in der Ukraine nicht vorstellen. Nach zwei Jahren in Deutschland fühlen sich die drei Ukrainer als Teil der Gesellschaft. An diesem Freitag feiern auch sie gerne mit.

"In Deutschland kann man frei seine Meinung sagen"

Einen der vier Impulse während des Dialogs durfte der 32-jährige Matthias Keussen als Vizepräsident des Fußballvereins Athletic Sonnenberg e. V. setzen. Eine Aussage des Bundeskanzlers hat sich ihm eingeprägt. Auf eine Frage zum Stand der Meinungsfreiheit sagte Scholz: "In Deutschland kann man frei seine Meinung sagen. Insbesondere kann man auch frei sagen: Man kann ja gar nicht seine Meinung sagen." Das habe ihm imponiert, sagt Keussen. "Wir leben hier in Deutschland, wo wir solche Dialoge mit einem Bundeskanzler machen können."

Der Kölner Julian Lagemann stimmt ihm zu. Auch wenn beide in Feierlaune sind, sehen sie die Demokratie mehr denn je durch antidemokratische und populistische Parteien gefährdet. Keussen sagt, er habe schon Angst davor, dass Extremisten die Demokratie aushebeln könnten. "Demokratie ist kein Zuschauersport. Wenn wir alle immer nur zuschauen und nur elf spielen und davon spielt die Hälfte irgendwie auch gegen das eigene Team, dann ist Demokratie in Gefahr", sagt Lagemann. Gefahren sieht er dort, wo die Menschen nur zuschauen und Rechtsextreme Fuß fassen würden.

"Hier gibt es kein Ost und West mehr"

Am frühen Freitagabend beginnen sich die abgesperrten Straßen rund um den Bundestag in Berlin mit Menschen zu füllen. Die 16 Bundesländer stellen sich jeweils an einem Stand vor. Direkt vor dem Bundeskanzleramt reihen sich ebenso viele Stände auf, die die Bundesministerien vertreten.

Im Schatten eines Baumes vor der Hütte des Bundesministeriums für Verteidigung macht ein Rentnerehepaar kurz Pause. Horst und Doris sind aus Berlin-Biesdorf zur Festmeile gekommen. Sie haben den Großteil ihres Lebens in der DDR gelebt und gearbeitet. "Hier gibt es kein Ost und West mehr", sagt der 90-jährige Horst.

Eine Helferin vor dem Lageplan des Demokratiefestes in Berlin. Auch in Bonn finden Feierlichkeiten statt.

Eine Helferin vor dem Lageplan des Demokratiefestes in Berlin. Auch in Bonn finden Feierlichkeiten statt.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Dass das Grundgesetz 1990 zur gesamtdeutschen Verfassung wurde, finden sie nicht problematisch. "Das Grundgesetz ist eine gute Sache", sagt Horst. "Aber es gibt einiges, das verbessert werden müsste." Mann und Frau seien nicht ganz so gleichberechtigt, wie es im Grundgesetz festgeschrieben ist. Als junge Frau in der DDR habe sie nicht begriffen, wie wichtig das Grundgesetz ist, sagt seine 87-jährige Frau Doris. Doch jetzt begreife sie immer mehr, welche Wirkung das Grundgesetz hat. "Gerade für uns Frauen", sagt Doris. Sie hakt sich bei ihrem Mann ein, um ihn zu stützen, dann ziehen sie davon in Richtung Bratwurststand.

Quelle: ntv.de

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