75 Jahre Grundgesetz "Das Verfassungsjubiläum ist den meisten piepegal"
04.05.2024, 14:24 Uhr Artikel anhören
Der Parlamentarische Rat beschließt am 8. Mai 1949 das Grundgesetz. Feierlich unterzeichnet es Konrad Adenauer am 23. Mai 1949. Damit ist die Bundesrepublik Deutschland gegründet.
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In diesem Jahr feiert die Bundesrepublik den 75. Jahrestag des Grundgesetzes. Lange ein Provisorium, besteht es erst seit der Wiedervereinigung als gesamtdeutsche Verfassung. Im Gespräch mit ntv.de erklärt die Politologin Ursula Münch, warum das Verfassungsjubiläum die Politik herausfordert.
ntv.de: Erst mit der Wiedervereinigung 1990 wurde aus dem Grundgesetz eine gesamtdeutsche Verfassung. Warum feiern wir 75 Jahre Grundgesetz?
Ursula Münch: Wir feiern dieses Jahr Verfassungsjubiläum, weil das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossen und am 23. Mai 1949 in Kraft getreten ist. Aber Sie treffen mit Ihrer Frage einen wunden Punkt, denn wir feiern das Verfassungsjubiläum des westdeutschen Staates, der Bundesrepublik Deutschland. Aus ostdeutscher Sicht gibt es keine 75 Jahre Grundgesetz zu feiern. Das betrifft aber nicht nur die Ostdeutschen. Da das Saarland erst 1957 offiziell zehntes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland wurde, feiern die Saarländer auch keine 75 Jahre Grundgesetz.

Politikwissenschaftlerin Ursula Münch ist seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung. Sie ist die erste Frau an der Spitze dieser Institution.
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Dass das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung wurde, war nicht umstritten?
Doch. Nach der ersten demokratischen Volkskammerwahl 1990 in der DDR haben sich ost- und westdeutsche Vertreter zusammengesetzt und über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht. Ein Weg war, über Artikel 23 des Grundgesetzes in die Wiedervereinigung zu gehen. Das bedeutete, das Grundgesetz beizubehalten und gleichzeitig auf das Gebiet der bisherigen DDR auszudehnen. Man hätte auch über Artikel 146 des Grundgesetzes gehen können. Der war für genau diese Situation gedacht. Darin steht bis heute, dass das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit verliert, an dem das deutsche Volk gemeinsam beschließt, sich eine neue Verfassung zu geben.
Aber?
Die Anziehungskraft der alten Bundesrepublik, des Grundgesetzes, des deutschen westdeutschen Verfassungsstaates und natürlich unseres Wirtschaftsmodells war sehr groß. Eine Mehrheit interpretierte das Ergebnis der ersten demokratischen Volkskammerwahl als Votum für das Grundgesetz. Deshalb trat die DDR schließlich bewusst der westdeutschen Verfassungsordnung bei. Damals war die Mehrheit davon überzeugt, das sei der richtige Weg. Inzwischen sehen einige das anders.
Warum sehen das heute viele anders?
Heute hinterfragen wir in West- und in Ostdeutschland den Prozess der Wiedervereinigung kritisch. Viele Menschen überlegen, warum sich die Lebenswelten in Ost- und Westdeutschland bis heute weiterhin stark unterscheiden. Wäre die deutsche Einheit heute vielleicht stabiler oder wäre die Integrationskraft größer, wenn wir uns 1990 für den Weg einer neuen Verfassung entschieden hätten? Diese kontrafaktischen Überlegungen sind natürlich müßig. Aber im Moment blickt ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung skeptisch auf die bundesdeutsche Demokratie. Einige stellen den damaligen Wiedervereinigungsprozess ganz infrage. Journalisten, Schriftsteller und auch Politiker aus Ostdeutschland argumentieren, damals über den Tisch gezogen worden zu sein.
Aber die Ostdeutschen waren doch in den Prozess einbezogen?
Der Einigungsvertrag ist zwischen Vertretern der alten Bundesrepublik und Vertretern der DDR sehr mühsam ausgearbeitet worden. Das ist grundsätzlich gleichberechtigt abgelaufen. Und die Volkskammer als Repräsentant der ostdeutschen Bürger hat dem Beitritt zugestimmt. Aber nichtsdestotrotz kann man bei der Aushandlung des Vertrags eine gewisse westdeutsche Dominanz unterstellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass damals im Umbruch ein unheimlicher Zeitdruck herrschte. Unsicher war einerseits, wie lange sich die internationalen Konstellationen so wohlwollend für eine Wiedervereinigung Deutschlands auswirken würden. Andererseits zogen in dieser Umbruchszeit viele Ostdeutsche in den Westen um. Das wurde damals als Abstimmung mit den Füßen gesehen. Auch deshalb führten die Vertreter keine langen Verfassungsdebatten, sondern haben sich schnell für eine deutsche Einheit im Sinne eines Beitritts nach Artikel 23 entschieden, weil das deutlich reibungsloser ging.
Kritiker sehen darin eine verpasste Chance. Wie sehen Sie das?
Warum hätten wir das Grundgesetz aufgeben sollen? Die Attraktivität unseres Rechtsstaates trieb doch die Ostdeutschen erst zur Friedlichen Revolution. Ich wäre vorsichtig, im Nachhinein so zu tun, als hätten wir damals eine große Chance verpasst. Was heute als "Mut für einen Neuanfang" bezeichnet wird, hätte damals auch zum Widerstand der Westdeutschen führen können. Bis heute haben die Ostdeutschen eine andere politische Kultur und andere politische Einstellungen als die Menschen im Westen. Das hat viele verschiedene Ursachen. Dabei mögen der Beitritt und die Absage an eine neue gesamtdeutsche Verfassung eine kleine Rolle spielen. Aber ich würde das nicht überbewerten. Auffällig ist nur, dass man das vor 20 Jahren noch nicht so infrage gestellt hat. Auch bei früheren Verfassungsjubiläen hat man so nicht diskutiert.
Inwiefern ist das Grundgesetz heute als gesamtdeutsche Verfassung gefestigt?
Bis vor wenigen Jahren hätte ich gesagt, dass die Verfassung sowohl im Osten als auch im Westen der Republik sehr gefestigt ist. Doch in den letzten Jahren ist eine gewisse Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen stärker spürbar. Wir erleben derzeit eine Krise der Demokratie. Deshalb ist das Jubiläum eine Herausforderung für Politiker.
Was ist so herausfordernd?
Extremistische Parteien wie die AfD oder auch das Bündnis Sahra Wagenknecht nutzen die Unzufriedenheit nicht nur, sondern schüren sie noch weiter. Sie reden den Menschen ein, dass es allen immer schlechter gehe, dass sich ein paar wenige auf ihre Kosten bereichern würden oder dass Migranten an allem schuld seien. Deshalb sind solche Parteien Krisenprofiteure. Vielleicht ist das Phänomen im Osten stärker ausgeprägt, aber im Westen ist es durchaus auch zu beobachten. Ich bin mir nicht sicher, ob die Begeisterung für 75 Jahre Grundgesetz in Bremen, in Baden oder sonst irgendwo in der alten Bundesrepublik so viel größer ist als in Ostdeutschland. Womöglich wird die Skepsis immer größer und schlägt bei einem Teil der Bürger in eine generelle Demokratie-Unzufriedenheit um. Das ist eine Herausforderung für Politiker.
In der Krise zweifelt der Bundesbürger am Grundgesetz - dem Fundament des demokratischen Zusammenlebens. Ist das nicht problematisch?
Einem nennenswerten Teil der bundesdeutschen Bevölkerung ist dieses Jubiläum ziemlich piepegal. Natürlich interessieren sich Lehrer, Politiker oder Historiker dafür. Letztlich sind das akademische Diskussionen. Und deshalb muss man aufpassen, das Jubiläum einerseits nicht überzubewerten und andererseits zu versuchen, den Rest vielleicht doch ein wenig mit der eigenen Begeisterung für unsere Verfassung anzustecken. Aber auch wenn die Menschen das Jubiläum nicht feiern, wissen die meisten dennoch unsere freiheitliche Demokratie zu schätzen.
Mit Ursula Münch sprach Rebecca Wegmann
Quelle: ntv.de