Politik

Ex-US-General Twitty "Den ukrainischen Soldaten steht noch einiges bevor"

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Ukrainische Soldaten feuern auf eine russische Stellung bei Bachmut. Die Stadt habe keine strategische Bedeutung, meint Stephen Twitty.

(Foto: IMAGO/Le Pictorium)

Der frühere US-General Stephen Twitty war von 2018 bis 2020 stellvertretender Kommandant des US-Streitkräfte in Europa und verfolgt nun den Ukraine-Krieg genau. Im Interview mit ntv.de weist der pensionierte Lieutenant General auf die Schwächen der russischen Armee hin und erklärt den "Nebel des Krieges".

ntv.de: Herr Twitty, was muss passieren, damit dieser Krieg so schnell wie möglich endet?

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Stephen Twitty diente 40 Jahre in der US-Armee und nahm an fünf Kriegseinsätzen teil. Der russischen Armee stellt der frühere Lieutenant General ein schlechtes Zeugnis aus.

Stephen Twitty: Dieser Krieg wird erst enden, wenn eines dieser zwei Dinge passiert. Nummer 1: Es gibt Verhandlungen, die zu einem annehmbaren Ergebnis führen. Nummer 2: Es gibt einen klaren Gewinner. Das sind die einzigen Möglichkeiten, wie dieser Krieg endet.

Was bedeutet ein Sieg? Müssten die Ukrainer die Russen vollständig aus dem Land werfen?

Die Ukrainer haben den Willen, sie haben den Mut, sie haben die Kühnheit. Sie haben alles, was sie an Kampfmoral brauchen. Was sie brauchen, ist natürlich zusätzliche Feuerkraft. Sie brauchen F16-Kampfjets, sie brauchen weitere Panzer, sie brauchen mehr Langstrecken-Artillerie. So würden sie ihre Kampfkraft gegenüber schwachen russischen Kräften erhöhen, die nicht in der Lage sind, großangelegte Manöver durchzuführen. Wenn sie diese Dinge bekommen, können sie erfolgreich sein.

Einiges ist den Ukrainern bereits zugesagt worden, etwa Schützen- und Kampfpanzer. Reicht das?

Meiner Ansicht nach brauchen sie rund 300 Panzer, um auf dem Schlachtfeld einen Unterschied machen zu können. Wir wissen, dass die Russen viele Panzer haben, sie haben viele Mannschaftstransportwagen und schwer gepanzerte Ausrüstung. Die Ukrainer müssen in der Lage sein, dem etwas entgegenzusetzen.

Deutschland und andere Länder haben versprochen, etwa 90 Leopard-Panzer zu liefern. Sie brauchen also deutlich mehr.

Ja. Es ist aber nicht so, dass die Panzer einfach so herumstehen. Ich kann nachvollziehen, dass viele Länder zögern, ihre Panzer und gepanzerte Fahrzeuge abzugeben. Wir müssen auch die Sicherheitsrisiken anderer Länder berücksichtigen. Es ist also ein riesiger Balance-Akt zwischen der nationalen Sicherheit und der Hilfe für die Ukraine.

Wenn nun die Ukrainer die Hilfe bekommen, die sie benötigen, wie schnell könnte der Krieg dann enden?

Man verpasst Krieg niemals einen Zeitrahmen. Wissen Sie, ich habe fünf Kriegseinsätze absolviert, im Golfkrieg, in Afghanistan und im Irakkrieg. Keiner von denen endete, als ich es erwartet hatte. Das ist der Nebel des Krieges. Es gibt alle möglichen Faktoren, die den Krieg beeinflussen können.

Der Nebel des Krieges?

Damit beschreiben wir die Tatsache, dass im Krieg immer alles Mögliche passieren kann. Dinge, die man nicht vorhersagen kann. Nehmen Sie zum Beispiel die Russen. Die sitzen auf der Krim, im Süden und im Osten. Da muss man sehr viel kämpfen, um sie aus dem Land zu drängen. Das wird also eine Weile dauern. Wie lange, kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist der Nebel des Krieges.

Wo sollten die Ukrainer ihre Prioritäten setzen?

Meine persönliche Meinung ist, dass sie es gerade im Wesentlichen richtig machen. Sie konzentrieren ihre Kräfte und führen kleinere Operationen durch, um die Russen zu schlagen. Denn sie haben keine große Armee wie die Russen. Zum Beispiel haben sie ihre Kräfte einmal nach Cherson geschickt und sie dann wieder nach Bachmut verlegt. So macht man das, wenn man begrenzte Kräfte hat. Man beschränkt sich auf kleine Gebiete, beißt dort einmal vom Apfel ab und zieht dann weiter für den nächsten Bissen.

Welche Rolle spielt die Krim?

Da hat sich Präsident Selenskyj klar ausgedrückt. Er möchte das gesamte Land zurück, das die Ukraine vormals hatte. Das gilt sowohl für Verhandlungen als auch eine Fortsetzung des Krieges. Ich glaube, dies werden die Ukrainer verfolgen. Nicht nur den Donbass, nicht nur den Süden, sondern auch die Krim.

Welche militärische Bedeutung hat die Halbinsel?

Sie hat nicht nur eine militärische Bedeutung, sondern auch eine wirtschaftliche. Dort befindet sich die Straße von Kertsch, eine wichtige Handelsroute. Außerdem ist sie ein perfekter Startplatz für russisches Feuer und Truppenaufmärsche, um weiter in die Ukraine vorzudringen.

Wenn wir uns die jetzige Situation angucken. Wo stehen wir in diesem Krieg? Gerade wird eine russische Offensive erwartet oder hat womöglich bereits begonnen.

Meiner Ansicht nach ist Russland nicht in der Lage, großangelegte Offensiven durchzuführen. Im vergangenen Jahr haben sie versucht, Kiew einzunehmen. Damit sind sie vollständig gescheitert. Dann haben sie versucht, vom Donbass nach Cherson vorzudringen. Auch damit sind sie gescheitert. Ich sehe nicht, dass die Russen nun ein großangelegtes Kampfmanöver vollbringen. Was ich sehe, ähnelt eher dem, was wir in Bachmut sehen. Dort kämpfen sie auf kleineren, begrenzten Gebieten und versuchen, den Gegner mit Kampfkraft zu überwinden. Sie schicken die Soldaten in Wellen hinein, begleitet von starkem Artillerie-Feuer.

Ist das effektiv, ist das klug?

Absolut nicht. Was man eigentlich möchte, ist mit kombinierten Waffen anzugreifen. Also mit Fußsoldaten im Verbund mit gepanzerten Fahrzeugen, Artillerie und Kampfflugzeugen, die alle im Konzert zusammenwirken, um auf dem Schlachtfeld Masse herzustellen. Das tun sie aber nicht. Sie schicken die Soldaten in Angriffswellen. Deswegen haben sie so hohe Verluste. Sie nutzen Häftlinge und Wehrpflichtige als Kanonenfutter.

Trotzdem scheint der Krieg weit davon entfernt, vorbei zu sein. Und die Russen haben noch Reserven an Männern und Material. Haben sie trotz allem eine Chance zu siegen?

Das will ich nicht ausschließen. Aber bis zum jetzigen Zeitpunkt haben sie nicht die Fähigkeiten demonstriert, die es für einen Sieg braucht. Weder ist es ihnen gelungen Kiew einzunehmen, noch den gesamten Donbass zu erobern. Auch ihr strategisches Ziel, eine Landbrücke zur Krim zu schaffen, haben sie nicht erreicht.

Aber es gibt doch eine Landbrücke.

Nun, sie haben eine lose Landbrücke. Cherson gehörte zu ihrem Ziel einer Landbrücke dazu. Und von dort haben sie sich zurückgezogen. Sie haben also keine Landbrücke in der Form, wie sie es eigentlich wollten. Auch die vier Provinzen, die sie jetzt als russisch bezeichnen, haben sie nicht vollständig erobert.

Trotzdem gewinnt man den Eindruck, dass die Ukrainer große Probleme haben. Bachmut könnte fallen, die Munition wird knapp und die Russen scheinen noch große Reserven an Menschen und Material zu haben.

Ich sehe das eher als einen Hilferuf der Ukrainer, dass sie mehr Munition brauchen, was stimmt, und mehr gepanzerte Fahrzeuge und Langstrecken-Raketen benötigen. Bachmut hat keine strategische Bedeutung. Selbst wenn Bachmut an die Russen fällt, was hätten sie davon? Sie hätten damit kein strategisches Ziel erreicht. Ich bin auch nicht sicher, dass die Stadt fällt. Es geht immer noch hin und her.

Das Risiko eines Atomschlags fühlt sich realer an als seit Jahrzehnten. Wie gehen Sie damit um?

Es fühlt sich auf jeden Fall real an. Es ist immer ein Risiko, wenn man mit einer Atommacht zu tun hat. Das sollte uns Sorge bereiten, aber nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun. Das bedeutet, der Ukraine weiter Hilfe zu leisten, damit sie diesen Kampf gewinnen können.

Was für ein Szenario wäre denkbar? Müssen wir uns Sorgen um einen Angriff auf Deutschland machen?

Ich sehe kein echtes Risiko für die NATO. Ich sehe eher das Risiko, dass eine taktische Atombombe in der Ukraine abgeworfen wird. Wir wollen Russland davon abschrecken, überhaupt nur daran zu denken. Niemand gewinnt, wenn wir über die atomare Bedrohung reden.

Viele waren überrascht davon, wie schlecht die Russen auf dem Schlachtfeld agieren. Wie stark schätzen Sie Ihre Reserven ein? Vieles scheint eher altes Material zu sein.

Sie haben in der Tat noch viel Ausrüstung und Menschen in der Hinterhand. Aber wir sehen, dass die Soldaten erbärmlich ausgebildet sind, erbärmlich geführt werden und sie außer Stande sind, groß angelegte Operationen auszuführen. Etwa 50 Prozent ihrer gepanzerten Ausrüstung wurde von den Ukrainern zerstört. Oder sie ist in schlechtem Zustand. Ich erwarte, dass wir künftig weiterhin vieles von dem sehen werden, was wir im vergangenen Jahr gesehen haben: Eine nicht gut geführte Truppe, Soldaten, die nicht gut kämpfen können, schwache Ausrüstung, die keine überlegene Kampfkraft bietet. Das sehe ich auch für die Zukunft.

Wie wir in diesem Jahr gelernt haben, braucht man für einen erfolgreichen Angriff eine Überlegenheit von 3 zu 1. Die Ukrainer können diese Zahl von Soldaten aber nicht aufbringen.

Deswegen sehen wir das, was wir über das vergangene Jahr gesehen haben. Niemand gewinnt in diesem Kampf. Die Russen haben die Zahlen, aber sie bekommen nichts auf die Reihe. Deswegen sehen wir dieses Hin und her. Die Kräfteverhältnisse sind ein Nachteil für die Ukraine. Wenn sie die Mengen an Gerät hätten, die sie sich wünschen, wird das das Pendel hoffentlich zu ihren Gunsten ausschlagen.

Wenn Sie sich diesen Krieg anschauen - wie würden sie ihn beschreiben? Manche sprechen von Kämpfen wie im Ersten Weltkrieg.

Dieser Krieg erinnert mich tatsächlich an den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sie haben Schützengräben, Artillerie und nur wenig Luftunterstützung. Wir haben hier zwei Länder, die es einfach am Boden ausfechten. Mit massiven Verlusten auf beiden Seiten. Ich war 40 Jahre in der Army und habe in meinen fünf Kriegseinsätzen nicht solche Verlustraten gesehen. In modernen Kriegen gibt es die eigentlich nicht mehr.

Viele Beobachter sind beeindruckt von der Tapferkeit der Ukrainer und ihrer Soldaten. Sie als erfahrener Soldat - was machen diese Männer und Frauen durch? Worauf kommt es dabei an?

Als jemand aus dem Militär empfinde ich eine tiefe Sympathie für sie und ziehe meinen Hut vor ihrem Mut und dafür, dass sie ihre Heimat und die Demokratie beschützen. Ich kann Ihnen sagen, worauf es ankommt: Auf die Kameraden rechts und links von ihnen. Sie gehen durch die gleichen Härten wie sie, aber sie sind ein Team und auf der gleichen Mission. Es gibt nichts, das so ist, wie Kameraden, an die man sich wenden kann, auf die man sich verlassen kann und sich gegenseitig den Rücken freizuhalten. Also, was machen sie durch? Viele von ihnen haben Angst. Jetzt im Winter ist vielen kalt, die Kleidung ist nass und viele sind krank. Vielleicht hatten manche von ihnen tagelang nichts zu essen. Der Krieg hinterlässt Spuren auf dem Körper und der Psyche. Diese Soldaten haben also einiges durchgemacht. Und ihnen steht noch einiges bevor, denn aus meiner Sicht wird dieser Kampf noch eine Weile andauern.

Mit Stephen Twitty sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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