Politik

Putin und Selenskyj im Krieg Zwei Szenen, die Geschichte schreiben

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Selenskyj und Putin haben einen völlig verschiedenen Politikstil.

Selenskyj und Putin haben einen völlig verschiedenen Politikstil.

Der eine ein Ex-Spion, Präsident, Kriegsverbrecher. Der andere ein Ex-Schauspieler, Präsident, Staatsmann. Der eine verschanzt sich im Bunker, der andere besucht die Front. Es sind jedoch vor allem zwei Szenen vom Kriegsbeginn, die von Putin und Selenskyj im Gedächtnis bleiben.

Zu Silvester kursierte auf Twitter ein Video von 2013. Es zeigt eine Neujahrsfeier im russischen Staatsfernsehen. Moderator ist ein gewisser Wolodymyr Selenskyj, ein ukrainischer Comedian und Schauspieler, der zu dieser Zeit auch in Russland äußerst beliebt ist. Er singt und tanzt, macht Witze. Zehn Jahre später ist Selenskyj Präsident der Ukraine, das angegriffen wird von jenem Russland, das ihn einst beklatschte. Einige derjenigen, die 2013 im Publikum saßen, sind zu Todfeinden geworden, etwa Kreml-Propagandist Wladimir Solowjow, der täglich seine Hassbotschaften im Staatsfernsehen verbreitet.

Im Video von 2013 hat Selenskyj ein junges Gesicht und freches Lächeln, er ist glattrasiert und im Smoking. Es ist kein Vergleich zu aktuellen Bildern, die einen stark veränderten Mann zeigen: mit ernstem, bärtigem Gesicht, tiefen Falten um die Augen, gekleidet in ein olivgrünes T-Shirt oder andere militärisch wirkende Kleidung. Ein Jahr Krieg hat Selenskyj verändert. Natürlich körperlich, der permanente Druck fordert seinen Tribut. Doch aus dem skeptisch beäugten, gar umstrittenen Präsidenten der Ukraine ist auch ein respektierter Staatsmann geworden.

Wladimir Putin war schon zu Beginn des großangelegten Überfalls auf die Ukraine vor einem Jahr kein respektierter Staatsmann mehr. In gut 20 Jahren an der Macht hat sich der russische Präsident zum lupenreinen Diktator entwickelt: Unter dem ehemaligen KGB-Offizier werden Freiheitsrechte ausgesetzt, Oppositionelle und Andersdenkende verfolgt und eingesperrt, das Land wird von einer kleptokratischen Elite geplündert.

Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel spricht von Putinismus, einer Gewaltordnung, zu der die sowjetisch-stalinistische DNA genauso gehöre wie Verschwörungsmythen von den "Feinden des Volkes". Und Krieg, immer wieder Krieg. In Putins Herrschaft fallen Kriege gegen Tschetschenien und Georgien, das massive Eingreifen in Syrien und seit 2014 der Angriff auf die Ukraine, mit der Annexion der Krim und der militärischen Unterstützung ostukrainischer Separatisten, auch mit Truppen. Vor einem Jahr schließlich folgte der lange geplante Überfall auf die gesamte Ukraine.

Selenskyj bleibt in Kiew

Krieg und Gewalt, Hass und Verschwörungsmythen kulminieren in zwei Auftritten, die Putin zum Kriegsbeginn hat. Im ersten, am 21. Februar 2022, verkündet er die Anerkennung der separatistischen Gebiete in der Ostukraine. Im zweiten, drei Tage später, rechtfertigt er den soeben begonnenen Überfall auf das Nachbarland. Beide Auftritte ähneln sich: Der Kremlchef sitzt an einem Schreibtisch, im Hintergrund sind Flaggen und Telefone zu sehen. Putin wirkt gebeugt, zusammengesunken, das Gesicht aufgedunsen. Die Hände liegen auf der Tischplatte, zeitweise hält er sich geradezu an ihr fest.

Beide Reden sind wirre, hasserfüllte, völkisch-nationalistische Angriffe auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine. Putin spricht dem Land eine "echte Staatlichkeit" ab, bezeichnet Russen und Ukrainer als ein Volk und zeichnet das Bild eines von Nazis, Nationalisten und korrupten Oligarchen beherrschten Systems, das von den USA gelenkt wird. "Der Zweck dieser Operation ist, Menschen zu verteidigen, die seit acht Jahren Erniedrigung und Völkermord und das Regime in Kiew zu erleiden hatten", sagt er. Da sitzt ein Diktator, der sich seine eigene Realität gestrickt hat, der Geschichte verzerrt und deshalb seine Truppen in den Krieg schickt.

"Wir haben keine Angst vor nichts und niemandem!" Das ist die Reaktion des ukrainischen Präsidenten auf Putins Rede vom 21. Februar. "Wir wollen Frieden", erklärt Selenskyj. Vergeblich. Russland greift an und aus dem unerfahrenen Staatschef wird ein Präsident im Krieg. Geschickt gelingt es Selenskyj schon in den ersten Kriegstagen, den richtigen Ton zu setzen: Er ruft zum Kampf auf, appelliert an die Welt und bittet den Westen um Hilfe. "Wir sind auf alles vorbereitet, wir werden siegen", sagt er. Er bewahrt Ruhe, verbreitet Optimismus - und bleibt in Kiew. Legendär ist seine Antwort auf das Angebot der USA, ihn in Sicherheit zu bringen: "I need ammo, not a ride." (Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.) Ob der Satz wirklich so gefallen ist, ist unklar, aber er fasst seine Haltung gut zusammen.

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Dabei weiß Selenskyj, dass er in höchster Gefahr schwebt: "Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nummer 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nummer 2", sagt er in einer Videobotschaft am ersten Kriegstag. "Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk." Später gibt es Berichte über russische Spezialeinheiten, die den Präsidenten töten sollen.

Putin weiht ein Riesenrad ein

Doch es ist eine kurze Videobotschaft vom Folgetag, dem 25. Februar, die weltweit für Staunen sorgt: Der schlecht ausgeleuchtete Selfie-Clip zeigt Selenskyj mit Ministerpräsident Denys Schmyhal, den Chefs von Präsidialverwaltung und Parlament sowie seinen Chefberater vor dem Kiewer Präsidentschaftsgebäude. "Allen einen guten Abend", sagt der Präsident und stellt die Anwesenden vor. Sie alle seien in Kiew, die Soldaten seien hier, die Bürger, und alle - ob Männer oder Frauen - würden gemeinsam ihre Unabhängigkeit verteidigen. "Slawa Ukrajini", sagt die Gruppe noch, "Ehre der Ukraine". Auf ntv.de heißt es damals: "Es ist ein Filmdokument, das die Erinnerung an diesen Krieg auf Jahre prägen dürfte." Und tatsächlich sorgen die knapp 30 Sekunden noch heute für Gänsehaut. Die Staatsspitze der Ukraine versammelt sich inmitten des angegriffenen Kiews, um ihr Land zu verteidigen.

Die beiden Fernsehauftritte Putins und der kurze, in sozialen Netzwerken geteilte Videoclip Selenskyjs prägen nicht nur die Wahrnehmung des Kriegsbeginns, sondern auch das Bild der beiden Politiker. Immer wieder besucht der ukrainische Präsident die Front, sogar das umkämpfte Bachmut. Er sieht sich Schauplätze von Kriegsverbrechen an, zeichnet Soldaten aus, spricht den Truppen Mut zu. Und er empfängt ausländische Gäste - bis hin zu US-Präsident Joe Biden vor wenigen Tagen. Selenskyj fliegt sogar zweimal ins Ausland: kurz vor Weihnachten nach Washington, Anfang Februar nach London, Brüssel und Paris.

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Und Putin? Die meisten Bilder zeigen ihn in Innenräumen. Mal spricht er mit Beratern oder Ministern, mal zeichnet er Kriegsverbrecher aus, mal hält er vor ausgewähltem Publikum eine Rede. Er besucht die Marine in St. Petersburg und die Parade zum Tag des Sieges im Mai. Während im September seine Truppen in der Ostukraine vor einer ukrainischen Offensive fliehen, weiht er in Moskau ein Riesenrad ein. Im November trifft er die Mütter gefallener Soldaten - von denen sich einige als regierungstreue Politikerinnen und Beamtinnen erweisen. In die Nähe der Front kommt er nie, zumindest ist nichts davon bekannt.

Putins Macht ist erschüttert, nicht nur der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, stellt die Macht-Elite offen infrage. Putin versteckt sich derweil - Spekulationen über seinen Gesundheitszustand gibt es genug. Selenskyj ist nach wie vor nicht unumstritten, die EU mahnte erst kürzlich einen stärkeren Kampf gegen die Korruption im Land an. Doch sein Auftreten im Krieg, seine Videobotschaften aus Kiew, seine Besuche an der Front, haben ihren Anteil am Durchhaltewillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Im größten Unglück ist Selenskyj ein Glücksfall für sein Land.

Quelle: ntv.de

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