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Zweite Heimat, erste Wahl Deutsch-Inder: "Migrationsdebatte macht die CSU immer weniger wählbar"

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Da die Union "die Migration zum Hauptthema ihres Wahlkampfs gemacht hat, finde ich die Option immer weniger interessant."

Da die Union "die Migration zum Hauptthema ihres Wahlkampfs gemacht hat, finde ich die Option immer weniger interessant."

(Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto)

Mit der anstehenden Bundestagswahl steht für viele Menschen, die kürzlich eingebürgert wurden, eine neue Möglichkeit im Raum: Zum ersten Mal dürfen sie in Deutschland wählen. In der politischen Diskussion wird häufig die Sorge geäußert, dass die Lockerung des Einbürgerungsrechts die Bedeutung des deutschen Passes schwächen könnte - dass er zur "Ramschware" wird, wie die Union es formuliert hat. Die Interview-Serie "Zweite Heimat, erste Wahl" geht dieser Frage nach. Wir sprechen mit den neuen Staatsbürgern: Welche politischen Präferenzen haben sie? Welche Partei würden sie wählen, wie sehen sie ihre Rolle in der deutschen Gesellschaft? Heute mit einem deutsch-indischen Startup-Gründer, der anonym bleiben möchte.

Name: anonym
Alter: 32 Jahre
Herkunftsland: Indien
Wohnort: München

ntv.de: Wie lange leben Sie in Deutschland?

Seit ungefähr zehn Jahren. Ich bin 2014 hierhergezogen, war aber zwischenzeitlich auch ein Jahr in den USA.

Wie kamen Sie nach Deutschland?

Während meines Bachelors in Indien habe ich in Regensburg ein Sommerpraktikum gemacht. Das war meine erste Erfahrung in Deutschland und die hat mir sehr gut gefallen. Während des Studiums habe ich auch ein Praktikum in Paris gemacht, aber Deutschland hat mich besonders angesprochen. Nach meinem Bachelor habe ich mich dazu entschieden, ein Masterstudium in München zu beginnen.

Was machen Sie beruflich?

Ich bin Gründer eines Deep-Tech-Startups. Um meine politische Meinung und meine beruflichen Aktivitäten zu trennen, möchte ich anonym bleiben.

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Wann wurden Sie eingebürgert?

Ich wurde Ende 2023 eingebürgert, also vor etwas mehr als einem Jahr.

Warum haben Sie entschieden, sich einbürgern zu lassen?

Die Entscheidung war eigentlich nicht schwer. Ich lebe hier seit zehn Jahren, hatte bereits einen langfristigen Aufenthaltstitel und fühle mich hier wie zu Hause. Außerdem konnte ich in Indien nicht mehr wählen, da dies über das Konsulat nicht möglich ist. Und ich dachte, es macht schon Sinn, wenn ich dann mindestens in einem der beiden Länder wählen darf. Ich weiß nicht, ob ich mein Leben lang in Deutschland bleibe, aber ich habe vor, langfristig hier zu leben.

Behalten Sie Ihre indische Staatsangehörigkeit?

Nein, das war nicht möglich. Indien erlaubt keine doppelte Staatsbürgerschaft. Auch wenn es in Deutschland mittlerweile erlaubt ist, musste ich dennoch meinen indischen Pass abgeben. Das ist eine Entscheidung, die von der indischen Regierung so geregelt ist.

Welche Bedeutung hat der deutsche Pass für Sie?

Der deutsche Pass ist für mich eine Bestätigung, dass ich ein Teil der Gesellschaft bin, in der ich seit Jahren lebe. Ich kann hier meine Meinung äußern und auch politisch mitgestalten. Auch die Idee von Europa finde ich ganz cool. Während meiner Promotion wurde ich durch das Marie Skłodowska-Curie Fellowship gefördert, das von der EU finanziert wird. Dieses Programm hat mir unter anderem auch gezeigt, wie wertvoll die europäische Zusammenarbeit ist.

Fühlen Sie sich deutsch?

Naja, in gewisser Weise schon, aber in anderen Situationen auch nicht. Ich schätze die gesellschaftlichen Strukturen sehr, vor allem das Soziale hier. Wir zahlen hohe Steuern, aber dafür gibt es Sicherheit für arme und nicht privilegierte Menschen. Kulturell fühle ich mich jedoch stärker mit meiner indischen Herkunft oder vielleicht auch mit südeuropäischen Werten verbunden. Zum Beispiel bin ich sehr offen für neue Menschen in meinem sozialen Umfeld und knüpfe schnell Freundschaften. Da merke ich schon einen Unterschied zu den Menschen, die hier aufgewachsen sind.

Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal in Deutschland wählen zu dürfen?

Es bedeutet mir sehr viel. Das Wahlrecht ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens eines Bürgers. Besonders in der aktuellen politischen Lage, nach der US-Wahl und mit wichtigen Themen wie Migration, ist es entscheidend, sich aktiv einzubringen. Ich finde, die kommende Wahl ist nicht nur für die nächsten Jahre entscheidend, sondern vielleicht auch für die kommenden Jahrzehnte.

Wissen Sie schon, welche Partei Sie wählen werden?

Ich bin mir noch nicht sicher, welche Partei ich wähle. Ich weiß schon, in welche Richtung es gehen wird, muss aber noch die Wahlprogramme durchlesen. Im Moment geht es in Richtung SPD oder Grüne. Die CSU kommt für mich auch infrage, aber da sie die Migration zum Hauptthema ihres Wahlkampfs gemacht haben, finde ich die Option immer weniger interessant. Ich finde, in unserer Gesellschaft gibt es aktuell größere Probleme, auf die man sich fokussieren könnte. Die Fakten, wie zum Beispiel, dass Renten- und Gesundheitssystem stark belastet sind, die Industrieproduktion geringer wird, der Klimawandel und die Erneuerung der Infrastruktur sollten im Mittelpunkt stehen. Was ich in keinem Fall wählen würde, ist die AfD.

Was läuft in Indien besser als in Deutschland?

Indien hat ein enormes Wirtschaftswachstum und eine positive Dynamik in der letzten Zeit. In Deutschland sehe ich hingegen oft Pessimismus und bürokratische Hürden, die Fortschritt ausbremsen. Außerdem gibt es in Deutschland wenig Flexibilität bei der Arbeit. Viele Menschen halten sich strikt an ihre Jobbeschreibung und sind nicht bereit, über ihren definierten Aufgabenbereich hinauszugehen. Sie sagen: "Das steht nicht in meiner Arbeitsbeschreibung, also mache ich es nicht." Natürlich mag das aus ihrer Sicht logisch sein, aber für Innovation und Wachstum braucht es mehr Eigeninitiative. Gerade als Gründer merke ich, wie schwierig es ist, mit dieser Mentalität zu arbeiten.

Eine weitere Besonderheit Indiens ist die große regionale Vielfalt. Was die sprachlichen und kulturellen Unterschiede betrifft, ist Indien vergleichbar mit der Europäischen Union. Trotz dieser Unterschiede existiert eine starke Einheit und ein gemeinsames Streben nach Wachstum, wenngleich Herausforderungen bestehen. Meiner Ansicht nach sollten wir Deutschland im Kontext Europas betrachten, anstatt uns isoliert zu sehen.


Was stört Sie in Deutschland? Welche Veränderungen wünschen Sie sich?

Die Bürokratie ist ein großes Problem. Alles ist sehr regelbasiert, was zwar Korruption verhindert, aber auch viele Prozesse unnötig verkompliziert. Ein weiteres Thema ist die Digitalisierung, die hier stark hinterherhinkt. Man muss oft persönlich erscheinen, um Dinge zu erledigen, die anderswo längst online möglich sind. Selbst für den Zugang zu Online-Diensten bekommt man oft erst per Post einen Code zugeschickt. Das ist ein bisschen komisch. Als Argument gegen digitale Lösungen wird immer Sicherheit angeführt - dabei ist Manipulation auch bei Briefpost möglich. Hier gibt es viel Nachholbedarf.

Was darf sich in Deutschland nicht ändern, nicht verloren gehen?

Es gibt viele, viele Dinge, die in Deutschland gut laufen. Die gute Work-Life-Balance, kostenlose, hochwertige Bildung und das soziale Sicherungsnetz sind Dinge, die nicht verloren gehen dürfen. Es gibt hier Möglichkeiten für jeden, unabhängig vom sozialen Status. Auch die Infrastruktur funktioniert im Großen und Ganzen gut, auch wenn vieles renovierungsbedürftig ist, zum Beispiel die Bahn. Diese positiven Aspekte sollten unbedingt erhalten bleiben.

Das Interview führte Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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