Politik

Zweite Heimat, erste Wahl Deutsch-Russin: "AfD-Erfolg ist wie die Klopapier-Krise in der Pandemie"

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Tanja Katkova lebt seit 22 Jahren in Deutschland. Vor wenigen Monaten wurde sie eingebürgert.

Tanja Katkova lebt seit 22 Jahren in Deutschland. Vor wenigen Monaten wurde sie eingebürgert.

(Foto: privat)

Mit der anstehenden Bundestagswahl steht für viele Menschen, die kürzlich eingebürgert wurden, eine neue Möglichkeit im Raum: Zum ersten Mal dürfen sie in Deutschland wählen. In der politischen Diskussion wird häufig die Sorge geäußert, dass die Lockerung des Einbürgerungsrechts die Bedeutung des deutschen Passes schwächen könnte - dass er zur "Ramschware" wird, wie die Union es formuliert. Die Interview-Serie "Zweite Heimat, erste Wahl" geht dieser Frage nach. Wir sprechen mit den neuen Staatsbürgern: Welche politischen Präferenzen haben sie? Welche Partei würden sie wählen, wie sehen sie ihre Rolle in der deutschen Gesellschaft? Heute mit: Tanja Katkova.

Name: Tanja Katkova
Alter: 30 Jahre
Herkunftsland: Russland, aus der Stadt Ischewsk, etwa 1100 Kilometer östlich von Moskau
Wohnort: Aachen

ntv.de: Wie lange leben Sie schon in Deutschland?

Tanja Katkowa: Ich bin vor 22 Jahren nach Deutschland gekommen. Zuerst nach Augsburg, aber mittlerweile lebe ich seit acht Jahren in Aachen.

Wie kamen Sie nach Deutschland?

Ich bin als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen – über die jüdische Seite. Meine Oma war Jüdin, und Deutschland hat Juden nach dem Zweiten Krieg als Wiedergutmachung aufgenommen. Sie hatte eine Schwester, die bereits hier lebte, und durch sie hatten wir die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. In der ersten Zeit habe ich vor allem Deutsch gelernt. Ich kam direkt in die zweite Klasse und konnte vorher überhaupt kein Deutsch. Es war für mich eine Herausforderung, aber als Kind lernt man schnell. Ich war in einer ganz normalen deutschen Klasse, ohne die Möglichkeit, dort Russisch zu sprechen. Das hat mich dazu gebracht, sehr schnell Deutsch zu lernen. Schon nach einem Jahr konnte ich mich frei verständigen.

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Was machen Sie beruflich?

Ich bin Physiotherapeutin und arbeite seit fünf Jahren in diesem Beruf. Ich habe einen dualen Studiengang in Aachen absolviert und mache aktuell meinen Master in Sportphysiotherapie. Gerade schreibe ich an meiner Masterarbeit.

Wann wurden Sie eingebürgert?

Im September 2024.

Warum haben Sie entschieden, sich einbürgern zu lassen?

Meine Familie in Bayern ist bereits seit sieben Jahren eingebürgert. Dort war es möglich, die doppelte Staatsangehörigkeit zu beantragen, was ich damals nicht nutzen konnte, da ich bereits nach Aachen gezogen war. Hier in NRW musste ich zunächst die russische Staatsbürgerschaft ablegen, was durch den Krieg sehr schwierig wurde. Viele notwendige Unterlagen waren nicht verfügbar oder es war mit hohen Kosten verbunden, sie zu besorgen. Als im April 2024 die Regelung für doppelte Staatsangehörigkeiten eingeführt wurde, habe ich meinen Antrag entsprechend angepasst. Kurz darauf wurde ich eingebürgert.

Behalten Sie Ihre russische Staatsangehörigkeit?

Ich hätte sie vielleicht aus politischer Überzeugung heraus abgelegt, aber im Moment ist es schwierig, das zu tun. Ich fahre auch nicht mehr nach Russland. Ich habe noch Verwandte dort. Es wäre natürlich einfach, wenn sich die Situation irgendwann verbessert, mit einem russischen Pass dorthin zu fliegen. Aber die Frage ist, ob ich das unbedingt machen muss.

Welche Bedeutung hat der deutsche Pass für Sie?

Der deutsche Pass bedeutet für mich vor allem, dass ich endlich das Wahlrecht habe. In den letzten Jahren wurde mir immer klarer, wie wichtig mir das ist. Ich wollte mitbestimmen, aber hatte dieses Recht nicht und fühlte mich dadurch irgendwie ohne Mitspracherecht. Ich habe oft mit Freunden und Patienten über Politik gesprochen, aber ohne Wahlrecht hatte ich das Gefühl, nichts ändern zu können.


Es gibt aber auch viele andere Vorteile: leichteres Reisen, keine Visumspflicht, und ich könnte in Österreich oder der Schweiz arbeiten. Auch auf dem Wohnungsmarkt ist es einfacher mit dem deutschen Pass. Außerdem bin ich seit Kurzem verlobt, und ohne deutschen Pass hätte ich für die Hochzeit Unterlagen aus Russland holen müssen – und das hätte ich nie gemacht. Ich hätte meinen Partner in Deutschland nicht heiraten können. Es gibt also viele Vorteile, die das Leben einfacher machen.

Fühlen Sie sich deutsch?

Ich würde sagen, ich fühle mich weder deutsch noch russisch, sondern irgendwo dazwischen. Ich habe auf jeden Fall noch irgendwas von meiner russischen Identität, habe aber auch vieles aus der deutschen Kultur übernommen, allein schon weil ich hier aufgewachsen bin und schon so lange hier lebe. Deswegen ist es eine Mischung aus beidem, die meine Identität ausmacht.

Was hat sich für Sie seit der Einbürgerung geändert?

Ein gutes Beispiel ist meine Verlobung: Ohne deutschen Pass wäre der Prozess viel komplizierter gewesen. Auch freue ich mich sehr auf, meine erste Wahl.


Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal in Deutschland wählen zu dürfen?

Es ist mir extrem wichtig. Endlich habe ich das Gefühl, dass meine Stimme zählt und ich mitentscheiden kann. Ich habe lange darauf gewartet. Bisher war es frustrierend, politische Diskussionen zu verfolgen, ohne wirklich etwas bewirken zu können. Nun habe ich die Chance, meine Meinung direkt einzubringen, und das ist ein großer Schritt für mich. Das Wahlrecht gibt mir auch ein Gefühl von Zugehörigkeit. Es zeigt, dass ich jetzt vollständig dazugehöre und meine Stimme genauso wichtig ist wie die aller anderen. Besonders in der heutigen politischen Lage, in der so viele wichtige Entscheidungen anstehen, freue ich mich, endlich Einfluss nehmen zu können.

Wissen Sie schon, welche Partei Sie wählen werden?

Ich weiß noch nicht genau, welche Partei ich wählen werde. Ich werde auf jeden Fall noch den Wahl-O-Mat machen und mich intensiver mit den Wahlprogrammen der Parteien beschäftigen. Momentan schaue ich mir die Programme an, aber bin noch nicht ganz entschieden. Wenn ich eine Top drei nennen müsste, dann wären es die Grünen, Volt und die Linke.


Welches Ergebnis der Bundestagswahl würden Sie sich wünschen?

Ich finde es wirklich schwer, eine Prognose abzugeben. Die Umfrageergebnisse, vor allem in Bezug auf die AfD, machen mir Sorgen. Ich bin aber nicht die Einzige, die sich darüber Gedanken macht. Andererseits glaube ich, dass Umfragen nicht immer exakt den tatsächlichen Wahlausgang widerspiegeln.

Das, was gerade mit der AfD passiert, finde ich bedenklich. Sie bekommt viel Aufmerksamkeit, und das führt dazu, dass sie immer noch mehr Zuspruch erhält – fast wie ein Teufelskreis. Es ist ein bisschen wie mit der Klopapier-Krise während der Pandemie: Je mehr darüber gesprochen wurde, desto mehr Leute haben Klopapier gekauft. Dadurch wurde die Situation immer dramatischer, obwohl es eigentlich keinen Grund zur Panik gab. Es ist also eine Spirale, die sich immer weiter hoch dreht.

Werden Sie auch an Wahlen in Russland teilnehmen?

Nein, das habe ich bisher auch nicht getan. Ich glaube, das macht einfach keinen Sinn. Egal, wen oder was man da wählt, man kann ja sowieso nichts wirklich mitbestimmen. Aus diesem Grund haben meine Eltern am Anfang auch hier in Deutschland nicht gewählt. Sie kamen mit der Vorstellung, dass man nirgends Kontrolle darüber hat, wer in der Regierung sitzt – genauso wie in Russland. Erst als meine Schwester und ich sie darauf hingewiesen haben, dass sie hier echt mitentscheiden können, haben sie angefangen, sich damit auseinanderzusetzen.

Ich glaube, das ist bei vielen so. Viele sind entweder nicht interessiert oder denken, dass es sowieso keinen Unterschied macht. Oder sie bringen diese Einstellung aus ihren Heimatländern mit, wo Wählen nicht wirklich etwas verändert hat.

Was läuft in Ihrem Herkunftsland besser als in Deutschland?

Schwierige Frage, weil ich dort schon lange nicht mehr lebe. Aber die Propaganda funktioniert dort besser, definitiv.


Was stört Sie in Deutschland? Welche Veränderungen wünschen Sie sich?

Als erstes würde mir Bildung einfallen. Ich finde, dass im Moment zu wenig in Bildung investiert wird, besonders in Schulen. Das ist ja die Grundlage, die Basis für eine funktionierende und reflektierte Gesellschaft. Aber das fängt nicht erst in den Schulen an, sondern schon im Kindergarten. Ein junger Vater, den ich kenne, hat Zwillinge, und die Familie findet einfach keinen Kitaplatz. Die Mutter würde gerne arbeiten, aber kann es nicht, weil sie mit den Kindern zu Hause bleiben muss – einfach weil es keinen Platz gibt. Das sind Probleme, die einfach geregelt werden müssen, bevor man sich um größere Fragen kümmert.

Ich finde, es geht darum, die Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu decken. Wenn solche Sachen wie die Kinderbetreuung nicht funktionieren, dann frustriert das viele Leute und verleitet sie dazu, zum Beispiel die AfD zu wählen. Obwohl die mit Versprechungen kommt, die sie wahrscheinlich sowieso nicht halten kann. Also, wenn ich spontan an Veränderungen denke, dann sind es vor allem diese Grundbedürfnisse wie Bildung, Erziehung, Pflege, Rentensicherung, Krankenhäuser und Vermögensverteilung.

Was darf sich in Deutschland nicht ändern, nicht verloren gehen?

Ich glaube, was in Deutschland auf keinen Fall verloren gehen darf, ist die Offenheit der Menschen gegenüber dem Unbekannten oder dem Fremden. Eigentlich denke ich, dass die deutsche Gesellschaft diese Offenheit hat, aber durch die allgemeine Unzufriedenheit geht sie langsam verloren. Wenn die Leute Angst haben und generell unzufrieden oder eingeschüchtert sind, dann verschwindet diese Offenheit. Man will dann erstmal das sichern, was man hat. Das ist mein Gefühl dazu.

Mit Tanja Katkova sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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