Politik

Interview mit Wahlforscher Moehl "Die SPD könnte 86 Wahlkreise verlieren"

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(Foto: ntv.de Daten)

Wenn eine Partei drei Direktmandate holt, kommt sie in den Bundestag - oder? Ja, aber nicht unbedingt jeder der drei Erststimmengewinner, sagt Wahlforscher Matthias Moehl im Interview mit ntv.de. Und er erklärt, ob der Stimmzettel gültig ist, wenn man nur mit der Zweitstimme wählt.Matthias Moehl betreibt die Seite election.de, die eine Prognose für die Erststimmenergebnisse in einzelnen Wahlkreisen berechnet.

ntv.de: Die Linke hofft mit ihrer "Aktion Silberlocke" darauf, drei Direktmandate zu erobern, je eines in Berlin, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Denn drei Direktmandate schalten die Fünfprozenthürde aus. Ist es so einfach?

Matthias Moehl: Wenn die drei Direktmandate in drei unterschiedlichen Bundesländern erobert werden, dann ist dies ganz eindeutig so. Im ursprünglichen Wahlrechtsgesetz der Ampel-Koalition war diese sogenannte Grundmandatsklausel nicht mehr vorgesehen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im vergangenen Jahr allerdings, dass die Fünfprozenthürde gegen das Grundgesetz verstößt, wenn es keine Option einer Öffnung gibt - wie zum Beispiel durch die Grundmandatsklausel. Deshalb gilt diese Regelung vorläufig weiter: Eine Partei, deren Kandidaten in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen haben, darf alle Zweitstimmen in Sitze umsetzen. Bei vier Prozent wären das etwa 25 Sitze.

Matthias Moehl ist Wahlforscher und betreibt die Website election.de

Matthias Moehl ist Wahlforscher und betreibt die Website election.de

(Foto: privat)

Nach dem neuen Wahlrecht gehen die Erststimmen-Wahlsieger mit den schlechtesten Wahlergebnissen leer aus, wenn eine Partei mehr Direktmandate holt, als ihr über das Zweitstimmenergebnis zustehen. Kann es eine Situation geben, in der das Zweitstimmenergebnis der Linken so schlecht ist, dass nicht alle ihre Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen?

Theoretisch ja, aber dazu müssten sie die Direktmandate im selben Bundesland gewinnen.

Weil jedes Direktmandat durch einen Zweitstimmenanteil im selben Bundesland gedeckt sein muss?

Richtig, diese Regelung bezieht sich immer auf das jeweilige Bundesland. Nehmen wir Berlin als Beispiel: Nach unserer Prognose ist es wahrscheinlich, dass Gregor Gysi den Wahlkreis Treptow-Köpenick gewinnt. Für ein Mandat wird der Stimmenanteil in Berlin nach dem Zweitstimmenergebnis sicher reichen. Sollte auch die Linken-Kandidatin Ines Schwerdtner den Wahlkreis Lichtenberg gewinnen und der Linken-Kandidat Maximilian Schirmer in Pankow, vielleicht als Reaktion auf die Unstimmigkeiten bei der Kandidatenaufstellung der Grünen dort, dann wären es drei Direktmandate für die Linke in Berlin. Bei einem schwachen Zweitstimmenergebnis hätte die Linke in Berlin aber vielleicht nur einen Anspruch auf zwei Mandate. Die Kandidatin oder der Kandidat mit dem niedrigsten Erststimmenergebnis würde das Mandat damit nicht bekommen.

Aber als Partei insgesamt wäre die Linke auch mit diesen drei Mandaten drin?

Ja. Denn dann würde die Regelung greifen, dass eine Partei die Fünfprozenthürde mit drei Direktmandaten gewissermaßen durch die Hintertür überspringen kann, auch wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht. Das würde auch bundesweit gelten. Allerdings deuten die Umfragen derzeit ja eher darauf hin, dass die Linke fünf Prozent schafft.

Aber nehmen wir einfach mal an, dass es nur vier Prozent sind. Das wären dann 25 Sitze für die Linke. Es könnte sein, dass davon nur zwei aus Berlin sind. Damit wäre einer von denen, die für die Linke die Hürde ausgehebelt haben, gar nicht im Bundestag.

Wie sieht es mit den anderen "Silberlocken" aus, mit Dietmar Bartsch in Mecklenburg-Vorpommern und mit Bodo Ramelow in Thüringen?

Für Dietmar Bartsch sehen wir kaum eine Chance. Bodo Ramelow könnte seinen Wahlkreis durchaus gewinnen. Wahrscheinlicher ist derzeit allerdings, dass Sören Pellmann für die Linken den Wahlkreis Leipzig II holt.

In Ihrer aktuellen Prognose sehen Sie eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit für das Szenario, dass Ramelow seinen Wahlkreis Erfurt - Weimar - Weimarer Land II gewinnt. Dem "Spiegel" sagte er, dass er Ihre Wahlkreisprognosen für unseriös halte. Was entgegnen Sie?

Prognosen sind immer mit Unsicherheiten behaftet. Deswegen geben wir Wahrscheinlichkeiten an. Eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit heißt ja, dass es durchaus möglich ist, dass Ramelow diesen Wahlkreis gewinnt.

Wie berechnen Sie Ihre Wahlkreisprognose? Auf der Ebene der Wahlkreise gibt es ja in der Regel keine Umfragedaten.

Was wir machen, ist eine Simulation. Wir spielen 100.000 mögliche Wahlausgänge durch und berechnen die Wahrscheinlichkeiten. Unsere Grundlage sind zum einen die aktuellen landesweiten Umfragen, zum anderen die Ergebnisse der Parteien bei früheren Wahlen, nicht nur bei Bundestagswahlen, auch bei Europa- und Landtagswahlen. Dass die Wahlkreise bei diesen Wahlen anders geschnitten sind, berücksichtigen wir natürlich. Ganz wichtig ist der Kandidatenfaktor. Das sind die Wahlergebnisse, die ein konkreter Kandidat bislang erzielt hat.

Das bedeutet im Fall von Bodo Ramelow?

Sein Wahlkreis ist besonders interessant, da es mit Blick auf den Kandidatenfaktor widersprüchliche Indikatoren gibt. Für ihn spricht, dass er seinen Wahlkreis bei der Landtagswahl im September 2024 sehr überzeugend gewonnen hat, mit über 40 Prozent. Das muss man allerdings gleich wieder einschränken: Bei der Landtagswahl war dies nur einer von vier Erfurter Wahlkreisen, Ramelows Bundestagswahlkreis ist wesentlich größer. Das Ergebnis seines Erfurter Innenstadtwahlkreises kann man daher nicht auf seinen Bundestagswahlkreis übertragen. Gegen Ramelow spricht außerdem, dass die Landtagswahl gezeigt hat, dass seine Popularität in Thüringen nicht mehr so hoch ist. Denn das Ergebnis der Linken in Thüringen insgesamt war mit 13,1 Prozent sehr schwach. Und bei der Bundestagswahl werden die Linken in Thüringen voraussichtlich noch schwächer abschneiden.

Dann ist Ramelows Vorwurf unfair?

Ich sehe jedenfalls nicht, wo Herr Ramelow das Problem sieht. Am besten wäre es natürlich, wenn er selbst eine Umfrage in Auftrag gäbe. Aber so viel Geld wollen die meisten Direktkandidaten nicht bezahlen.

Wie weit gehen Sie zeitlich zurück, um die Wahrscheinlichkeit eines Wahlerfolgs zu bestimmen?

Soweit es möglich und soweit es sinnvoll ist. Wenn Kandidaten schon bei vergangenen Bundestagswahlen kandidiert haben, dann nehmen wir diese Ergebnisse natürlich mit rein. Allerdings werden neuere Erkenntnisse stärker gewichtet. Bei der Thüringer Landtagswahl 2019 gab es einen starken Ramelow-Effekt. 2024 war dieser Effekt im Wesentlichen auf seinen Wahlkreis beschränkt. Da gewichten wir 2024 natürlich stärker als 2019.

Warum haben Sie sich in Ihrer Darstellung für Prozente entschieden? Suggeriert eine 60-prozentige Gewinnchance - wie im Fall des AfD-Kandidaten in Ramelows Wahlkreis - nicht, dass die Sache gelaufen ist?

Wenn man diese Zahlen als Stimmenanteile sehen würde, dann wäre das so. Aber so ist es nicht. Das sind Wahrscheinlichkeiten. Bei einer Chance von 20 zu 80 gibt es immer noch eine Einfünftelchance, dass der andere gewinnt. Bei der Bundestagswahl 2021 haben wir eine Prognose als "wahrscheinlich" eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit im Durchschnitt bei 95 Prozent lag. Und fast genauso ist es dann auch gekommen: Von den rund 100 Wahlkreisen, die für uns "wahrscheinlich" waren, sind drei anders ausgegangen als von uns prognostiziert. Einer davon war der Wahlkreis des CDU-Politikers Mario Czaja in Berlin.

Bei den Diskussionen um das neue Wahlrecht hat sich vor allem die CSU darüber beschwert, dass sie möglicherweise mehrere Direktmandate gewinnt, diese Erststimmensieger aber nicht in den Bundestag einziehen, weil die Partei über die Zweitstimme nicht stark genug wird. Was sagt Ihre Prognose dazu?

Nach unserer Prognose kann die CSU alle 47 Wahlkreise in Bayern gewinnen. Die schlechtesten Chancen hat derzeit der CSU-Kandidat in Rottal-Inn, aber auch dieser hat aktuell immer noch eine 86-prozentige Chance, dass er seinen Wahlkreis holt.

Und würden die 47 alle in den Bundestag einziehen?

Wenn sowohl die Linke als auch die FDP und das BSW nicht den Sprung in den Bundestag schaffen, dann kann die CSU nach aktuellem Umfragestand sogar zusätzlich noch fünf Listenkandidaten in den Bundestag entsenden, was schon länger nicht vorgekommen ist. Wenn die Linken den Sprung ins Parlament schaffen, wären es nur noch 49 Mandate, also zwei Listenmandate. Wenn das BSW auch noch reinkommt, wären es nur noch 46 Mandate. Dann würde ein Direktmandat entfallen, wenn die CSU alle Direktmandate gewonnen hätte. Und wenn sowohl die Linke als auch das BSW und die FDP es schaffen, wären es 44.

Bei der Bundestagswahl vor drei Jahren war die Karte der Direktmandate recht rot. Ihre aktuelle Prognose zeigt allenfalls ein paar rote Sprengsel für die SPD. Ist die Verschiebung auch in Zahlen so dramatisch, wie es nach den Farben aussieht?

Im Moment verliert die SPD in der Prognose 86 Wahlkreise gegenüber dem Ergebnis von 2021. Das ist schon sehr viel. Historisch gesehen ist es aber auch nicht einmalig. CDU und CSU haben 1998 bei der letzten Wahl mit Helmut Kohl und der ersten Wahl mit Gerhard Schröder mehr als 100 Wahlkreise verloren. So etwas passiert immer dann, wenn es einen starken Umschwung gibt. Wir sehen in den bundesweiten Umfragen derzeit ein Minus von etwa zehn Prozentpunkten für die SPD im Vergleich zur Wahl 2021. Das wirkt sich auch auf die Wahlkreise aus.

Warum sind die Direktkandidaten überhaupt noch wichtig, wenn doch die Sitzverteilung komplett nach dem Zweitstimmenergebnis läuft?

Dass die Zweitstimme über die Mandatsverteilung entscheidet, war schon immer so. Und schon seit Einführung der Ausgleichsmandate 2013 haben die Erststimmen keine Bedeutung mehr für die Stärke des Bundestages. Nur wurde der Bundestag dadurch immer größer.

Die Erststimme ist eine reine Persönlichkeitswahl. Aber auch das ist ein wichtiges Element: Nicht nur die Parteien entscheiden mit ihren Listen, wer gewählt werden kann, sondern die Wählerinnen und Wähler haben ein Mitspracherecht. In einigen Fällen haben sie das auch ganz dediziert genutzt, etwa im Fall von Gregor Gysi. Oder denken Sie an den Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele. 2002 wurde er von seiner Partei nicht auf die Berliner Landesliste gesetzt, aber in seinem Wahlkreis wollte eine Mehrheit der Wähler, dass er im Bundestag vertreten ist.

Ist eigentlich die Zweitstimme ungültig, wenn man die Erststimme nicht abgibt?

Nein, die ist trotzdem gültig. Die beiden Stimmen sind unabhängig voneinander. Der einzige Fall, in dem die Zweitstimme ungültig wird, ist, wenn man einen Kandidaten wählt, der in den Bundestag kommt, ohne dass die Zweitstimmen berücksichtigt werden können.

Wie kann denn so etwas passieren?

Theoretisch wäre es so: Sie wählen einen Einzelbewerber, also einen Kandidaten, der ohne Partei antritt. Wenn dieser gewinnt, dann wird Ihre Zweitstimme nicht gezählt, weil Ihre Stimme sonst unverhältnismäßig viel Gewicht hätte. Aber das ist ein sehr unwahrscheinlicher Fall, und es ist auch noch nie passiert. Dies wäre übrigens auch der einzige Fall, dass keine Zweitstimmendeckung nötig wäre. Denn die gilt für Parteien, aber nicht für Einzelbewerber. Wer es ohne Partei mit der Erststimme in den Bundestag schafft, kann sein Mandat auf jeden Fall antreten.

Mit Matthias Moehl sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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