Gewalt gegen Politiker "Die Baseballschlägerjahre kommen zurück"


Einschusslöcher im Jahr 2020, ein Brandanschlag im Jahr 2023: Auf das Büro des schwarzen SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle wurden schon mehrere Anschläge verübt.
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Der Überfall auf den SPD-Politiker Ecke wirft ein Schlaglicht auf die immer gefährlichere Stimmung im laufenden Europawahlkampf. Bei ntv.de berichten Politikerinnen aus Thüringen und Brandenburg von wachsenden Aggressionen gegen Vertreter der Ampel-Parteien - und wie wenig sie die Gewalttat überrascht.
Als am späten Samstagvormittag die Eilmeldung über den Angriff auf den sächsischen SPD-Europaspitzenkandidaten Matthias Ecke bundesweit auf den Handybildschirmen aufploppt, sind viele Politikerinnen und Politiker längst im Dienst. Kurz vor der Europawahl verbringen Kandidaten und Wahlkampfhelfer ihre Wochenenden an Wahlkampfständen, auf Podiumsdiskussionen oder anderen Veranstaltungen. "Das Schlimme daran ist, dass ich darüber nicht überrascht war", erinnert sich Madeleine Henfling, Spitzenkandidatin der Grünen zur Landtagswahl in Thüringen, an den Moment. "Weil sich das mit der Zuspitzung der letzten Monate abgezeichnet hat, dass irgendwann Menschen angegriffen werden und es nicht nur unsere Plakate trifft."
Henfling ist gerade beim BUND Thüringen zu Gast, als sie die Nachricht über den Angriff am Vorabend in Dresden erreicht. Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei ist vor Ort. Er wird später auf Facebook schreiben "Wenn aus Worten Taten werden!" und "Der Angriff gilt uns allen." Ramelow hatte vor gar nicht langer Zeit selbst Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen ihn und seine Frau öffentlich gemacht. Von Linke bis CSU zeigen sich alle Parteivertreter erschüttert über den Angriff auf Ecke, der nun mehrere Wochen verletzt ausfallen wird. Dabei ist der demokratische Wahlkampf doch ein Wettstreit, der die körperliche Unversehrtheit aller Teilnehmenden voraussetzt.
Maja Wallstein weiß gar nicht mehr, ob sie vom Angriff auf Ecke über die Medien erfahren hat oder in einer ihrer SPD-Chatgruppen. Die Bundestagsabgeordnete für die Region Cottbus und Spree-Neiße ist auch Tage nach der Tat noch hörbar angefasst. "Das macht mich sehr betroffen, weil ich Matthias sehr gut kenne." Doch auch die 38-Jährige ist nicht wirklich überrascht. "Es wäre verharmlosend, zu sagen, der Vorfall habe eine neue Qualität. In einigen Bundesländern ist Einschüchterung und Gewalt gegen Ehrenamtliche oder politisch Aktive seit Jahren gang und gäbe." Demnach war es nur eine Frage der Zeit, bis auch jemand mit einigermaßen bekanntem Namen im Krankenhaus landet.
"No-go-Areas" für Grüne

Madeleine Henfling ist zusammen mit Landesumweltminister Bernhard Stengele Spitzenkandidatin der Grünen zur Landtagswahl in Thüringen - und derzeit Vizepräsidentin des Landtags.
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Nicht nur Ecke wird am ersten Mai-Wochenende verletzt, auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring und ein Parteikollege müssen sich in Essen beim Plakatieren eines Angriffs erwehren. Eckes Angreifer scheinen einen Bezug zur rechten Szene zu haben, die Täter in Essen sind noch unbekannt. Doch Politiker von SPD und Grünen lesen beide Übergriffe im Kontext ihrer aktuellen Erfahrungen. "So einen Wahlkampf habe ich noch nicht erlebt", sagt die Grüne Henfling über die systematische Zerstörung von Grünen-Wahlplakaten in Thüringen, die zudem auffallend oft mit Nazi-Symbolen beschmiert würden.
Auch Wallstein registriert mehr Zerstörung, mehr rechtsextreme Schmierereien. Eine SPD-Kollegin in Thüringen müsse deswegen gerade ständig Plakate nachhängen. "Und immer muss sie sich dabei abwertende Kommentare oder Beleidigungen anhören", berichtet Wallstein. "Das geht seit Jahren so, hat aber massiv zugenommen."
In Thüringen finden Ende Mai erst Kommunalwahlen statt, gefolgt von den Europawahlen und schließlich der Landtagswahl am 1. September. Auch Sachsen wählt an dem Tag ein neues Landesparlament, Brandenburg am 22. September. Grünen-Spitzenkandidatin Henfling fragt sich, ob derzeit "überhaupt noch ein normaler Wahlkampf" stattfinde. Ihre Kreisverbände hätten in Thüringen regelrechte "No-go-Areas" für sich ausgemacht, wo man lieber nicht mehr Infostände aufbaue, "weil es das letzte Mal so schrecklich war", berichtet die Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Thüringer Landtag.
Unterschiedliche Wahrnehmung der Polizei
Laute, einschüchternde Minderheiten mit radikalen Ansichten verunmöglichen vielerorts einen fairen, demokratischen Wettbewerb. Dass diese Zustände auch auf dem Land, auch im Osten, vielen Menschen gegen den Strich gehen, haben dort die vielen Demonstrationen der vergangenen Monate gezeigt. In kleinen Orten hat das Mut gebraucht, so wie es Mut braucht, sich insbesondere im Osten zu SPD, Grünen oder Linkspartei zu bekennen. Wallstein kann seit Jahren nicht politisch unterwegs sein, ohne zumindest die Polizei vorab zu informieren. "Auch ich hatte schon die Hand im Gesicht", sagt die Fußballschiedsrichterin und Anhängerin von Energie Cottbus, einem in der Region populären Viertligisten mit teils rechtsextremer Fanszene.

Maja Wallstein zog 2021 direkt in den Bundestag ein - mit zwei Prozentpunkten Vorsprung auf einen AfD-Bewerber.
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Kein Wahlkampfhelfer oder Kandidat demokratischer Parteien zieht noch alleine los, um zu plakatieren oder Haustürwahlkampf zu machen. Auch Ecke ist an jenem Freitagabend nicht alleine unterwegs. Das verhindert zwar den Angriff nicht, doch zumindest kann Eckes Begleiter umgehend Polizei und Rettungskräfte herbeirufen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will mit ihren Länderkollegen über mehr Polizeischutz für Mandatsträger und Ehrenamtliche sprechen. Auch ein neuer Straftatbestand steht im Raum. Dabei, darauf deutet das Gespräch mit Henfling und Wallstein hin, könnte schon die Umsetzung bestehender Möglichkeiten einen Unterschied machen.
"In meiner Region ist die Polizei sehr sensibilisiert, das macht mir auch Mut", sagt die Brandenburgerin Wallstein. Die Beamten benötigten aber genauso wie die Justiz ausreichend Ressourcen, um die Demokratie schützen und den Rechtsstaat durchsetzen zu können. Henfling dagegen hat den Eindruck, dass in Thüringen weder das SPD-geführte Landesinnenministerium noch die Polizei das ganze Ausmaß der Gefahr verstanden hätten. Wenn bei Demonstrationen eine Ampel oder gar Bilder von Politikern symbolisch am Galgen hingen, zeigten sich die Behörden im Nachhinein oft ahnungslos, berichtet die 41-jährige Innenpolitikerin. "Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass so etwas einen Gewaltaufruf darstellt, stoßen aber immer wieder auf taube Ohren", sagt Henfling. "Natürlich führen diese nonverbalen Gewaltaufrufe dazu, dass sich irgendwann Leute ermächtigt fühlen, mit physischer Gewalt zu reagieren." Sie fordert daher "ein klares Stoppzeichen der Sicherheitsbehörden" bei derlei Protestformen.
Eine vom Landesinnenministerium herausgegebene Broschüre, wie sich Wahlkämpfende schützen können, sei schlicht "lachhaft", sagt Henfling. Im laufenden Jahr gab es allein in Thüringen schon mehrere Anschläge auf Politikerbüros, in Gotha zündeten Unbekannte das Auto eines SPD-Politikers an, während dessen Familie wenige Meter weiter in ihrem Haus schlief. Auch ntv.de wurde im Februar Zeuge, wie in Thüringen mancherorts eine aggressiv auftretende, gewaltbereite Minderheit sich in völliger Sicherheit wähnt und im Angesicht einer überforderten Polizei völlig enthemmt auftritt. Auch in Sachsen gibt es seit Jahren Kritik an Polizei und Innenministerium, Rechtsextremisten nicht entschieden entgegenzutreten.
"Ich fürchte, wir unterschätzen das noch"
Im Osten erinnern sich derzeit viele Menschen an die Stimmung in den 1990er und frühen 2000er Jahren. Auch damals hatten gewaltbereite Neonazis zwar nirgendwo eine Mehrheit, konnten aber dennoch ganze Landstriche terrorisieren, weil sich ihnen keine breite Mehrheit laut und geschlossen in den Weg stellte. Der Journalist Christian Bangel verpasste dieser Zeit im Osten in einem Essay den Namen "Baseballschlägerjahre". Die Bezeichnung wurde - insbesondere für die, die es erlebt haben - schnell zum stehenden Begriff.
"Die Baseballschlägerjahre kommen zurück", sagt Wallstein, die selbst als Jugendliche die Erfahrung gemacht hat, rennen zu müssen. "Die Frage ist, sind wir diesmal gewappnet oder nicht? Ich fürchte, wir unterschätzen das noch." Wallstein vernimmt aber auch eine Gegenbewegung, nicht nur in Form der Demonstrationen für Demokratie und gegen Extremismus. "Ich habe in den letzten Wochen viel mehr aufmunternde E-Mails bekommen als Hassnachrichten. Das war lange Zeit andersherum." Die Erzählung, dass die anderen die Mehrheit hätten, stimme einfach nicht. Wer das dennoch behaupte, verbreite schlimmstenfalls eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, weil der gesellschaftliche Widerstand untergraben werde.
Auch Henfling sieht keinen Grund, den Demokratiefeinden kampflos das Feld zu überlassen. "Die Menschen in Thüringen merken ja, wo das hier hingeht", sagt sie und erinnert an eine Umfrage, wonach 69 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer sagen, sie seien besorgt um die Demokratie. In einer Umfrage im Auftrag von RTL und ntv sagten zudem 52 Prozent der Menschen in Thüringen, sie hätten Angst davor, dass die AfD stärkste Kraft im Land werde.
Doch Henfling und Wallstein machen den Ursprung der Aggressionen gegen ihre Parteien nicht alleine bei der AfD und anderen Rechtsextremen aus. "Der Hass auf Grüne, aber auch auf Teile von SPD und Linke, ist gerade enorm groß", sagt Henfling. "Dieser Hass ist befeuert worden vor allem von der AfD, aber auch von Teilen der Konservativen, die uns alles Übel dieser Welt zugeschrieben haben." An die Verantwortung aller demokratischen Parteien erinnerte auch Wallstein in einer Aktuellen Stunde des Bundestags zur Meinungsfreiheit in Deutschland: "Die demokratischen Kontrahentinnen und Kontrahenten zu beschimpfen und zu erklären 'Die anderen, die können das nicht', das hilft nur den Antidemokraten", sagte sie dort.
Von den Bänken rechtsaußen im Plenum wurde die Rede immer wieder mit Gelächter und Zwischenrufen quittiert. Der AfD-Abgeordnete Martin Reichardt störte Wallsteins Rede auch noch, als er bereits einen Ordnungsruf von Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas kassiert hatte. Als Magwas den Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt erneut um Mäßigung bat, tat Reichardt ahnungslos - und seine Parteikollegen grinsten.
Quelle: ntv.de