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Überfälle auf Wahlkämpfer Die ewig "gleiche Leier" wird die Gewalt nicht stoppen

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Beim Aufhängen von Wahlplakaten wurde der SPD-Politiker Matthias Ecke attackiert und zusammengeschlagen.

Beim Aufhängen von Wahlplakaten wurde der SPD-Politiker Matthias Ecke attackiert und zusammengeschlagen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Statements nach den jüngsten Attacken auf Politiker und Wahlkämpfer sind auch Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie klingen exakt wie das, was nach den Morden in Hanau oder an Walter Lübcke gesagt wurde. Den Worten müssen endlich Taten folgen - in der Politik und im Privaten.

"Die Demokratie wird von so etwas bedroht - und deshalb ist achselzuckendes Hinnehmen niemals eine Option", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz zu den brutalen Überfällen auf den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke und einen Wahlkampfhelfer der Grünen in Dresden - mutmaßlich durch rechte Schläger. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte: "Dieser Ausbruch von Gewalt ist eine Warnung. Alle, die unsere liberale Demokratie erhalten möchten, müssen nun parteiübergreifend zusammenstehen gegen Angriffe und Übergriffe im politischen Wettbewerb." Recht haben sie - und es ist gut, dass sich Scholz, Steinmeier und andere zu Wort melden. Das Problem ist nur: Die Warnungen und Appelle sind zu einem Ritual geworden, Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit; ein Offenbarungseid, der eine Menge über den Zustand der deutschen Demokratie sagt.

Deutlich wird das, wenn man Statements zu früheren Straftaten gegen Menschen betrachtet, die wegen ihrer politischen Ansichten oder ihres Aussehens Opfer hässlichster Gewalt wurden. Sie klingen exakt wie das jetzt Gesagte. Im Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019 sah Steinmeier, damals schon Staatsoberhaupt, ein "Alarmzeichen für unsere Demokratie". Die damalige Kanzlerin Angela Merkel versprach - nicht zum ersten Mal - entschlossenes Vorgehen gegen Rechtsextreme "auf allen Ebenen" und "ohne jedes Tabu". Nach den rassistisch motivierten Morden von Hanau im Februar 2020 forderten Spitzenvertreter demokratischer Parteien erneut unisono ein entschiedenes Durchgreifen gegen Rechtsextremisten.

Auf dem Land allein gelassen

So wiederholt es sich bei jeder neuen Tat, stets verbunden mit dem Hinweis darauf, dass jene, die Hass schüren und politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige offen oder verkappt rechtfertigen, sich mitschuldig machten. Gemeint ist damit insbesondere die AfD, die in der deutschen Politik tatsächlich für eine Entgrenzung der Rhetorik gesorgt hat und stets vorn dabei war und ist, demokratische Institutionen verächtlich zu machen. Zugleich werden aber auch immer wieder AfD-Vertreter Opfer von Gewalttaten, die in einem zivilisierten Land durch nichts zu rechtfertigen sind.

Dass allen gegenteiligen Versprechen zum Trotz die Gewalt im politischen Raum weiter zunimmt, ist ein gesamtgesellschaftliches Versagen. Die Politik ist gefragt, zu handeln, aber auch die Mehrheit der Menschen in diesem Land. Großdemonstrationen in Berlin, Hamburg oder München mit Zehntausenden Menschen sind das eine, Kundgebungen mit ein paar Dutzend Leuten in einer Kleinstadt im Erzgebirge oder Thüringen das andere. Für sie braucht es nämlich Mut. Denn schon bald kann dort die Hauswand eines Teilnehmers mit Hakenkreuzen beschmiert sein oder ein Gewalttäter vor der Haustür stehen.

Nach jedem Rechtsruck und jedem Erfolg der AfD bei Landtagswahlen gelobten Akteure aller Parteien, sich für ländliche Gegenden einzusetzen und ab sofort öfter mal vorbeizuschauen. Die Wahrheit ist: Politiker ließen sich nicht blicken, sondern kümmerten sich in erster Linie um ihre Wiederwahl, für die die Städte ausschlaggebend sind. Rechtsradikale und -extreme füllten die Lücke aus und gaben die Fürsprecher der kleinen Leute. Dabei gärte (und gärt) es gerade auf dem Land und in Kleinstädten. Dort etablierten sich scharf rechte Strukturen, die inzwischen die Mitte der Gesellschaft erfasst haben.

Das Gift sitzt tief

Jedem muss klar sein: Unter den 30 Prozent, die in Ostdeutschland AfD wählen (wollen), sind Polizisten, Justizbeschäftigte und sonstige Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes. Die neonazistische Partei III. Weg verbreitete im Bundestagswahlkampf 2021 ein Plakat mit dem Slogan "Hängt die Grünen" - ein Mordaufruf. Der folgenden Verurteilung eines Rechtsextremen zu einer Geldstrafe von 4.800 Euro wegen Volksverhetzung ging ein juristisches Tauziehen voraus. Die Staatsanwaltschaft Zwickau hatte zunächst Ermittlungen abgelehnt. Nach erfolgreicher Intervention der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden wollte das Amtsgericht der Stadt kein Hauptverfahren eröffnen - auch das musste von der übergeordneten Dienststelle regelrecht erzwungen werden. Das alles ist kein Zufall.

Das politische Klima ist vergiftet, die Konkurrenz wird nicht als Gegner, sondern als Feind betrachtet. Mehr Geld für Demokratieförderung und bessere politische Bildung in Schulen wird nur sehr begrenzt noch etwas bewirken. Wer will schon Kindern etwas über Demokratie erklären, deren Eltern daheim Politiker bezichtigen, das Volk zu verraten, und die glauben, auf Montagsdemonstrationen Vollstrecker des Willens der "schweigenden Mehrheit" zu sein? Gegen die Sehnsucht nach der harten Hand, die alles in Ordnung bringt, ist mit Realpolitik nichts auszurichten. Schon auf den Pegida-Demonstrationen in Dresden liefen Leute mit Plakaten umher, auf denen "Putin hilf" zu lesen war. Wie will man dagegen ankommen? Mit was?

Jahrelang hieß es, man müsse AfD-Wähler sowie andere Enttäuschte und Frustrierte nur abholen und mitnehmen. Dazu muss man aber einen Treffpunkt ausmachen. Doch den findet man nicht in einer polarisierten Gesellschaft. Trotzdem ist immerzu davon die Rede, dass "wir" dieses und jenes tun müssten, die Demokratie zu beschützen. Dieses "Wir" existiert schon seit Jahren nicht mehr, wie spätestens die Corona-Pandemie zeigte. Da forderten die einen Gefängnisstrafen für Wissenschaftler und Politiker, die zur Impfung rieten. Die anderen verunglimpften alle, die sich nicht impfen lassen wollten, als "Covidioten". Zu viel Vertrauen ist schon verloren gegangen, zu viel Zeit wurde vergeudet. Keine Maßnahme verspricht in der verfahrenen Lage schnelle Besserung. Weder die seit 30 Jahren diskutierte Angleichung der Löhne in Ost und West, noch ein AfD-Verbot, noch eine stärkere Regulierung sozialer Medien.

Mehr Polizei reicht nicht

Es ist gut, dass der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul den Mumm aufbrachte, zu fragen, "warum immer dann, wenn so etwas passiert, die gleiche Leier gespielt wird? Verurteilen, diskutieren, Sitzungen veranstalten? Damit ist niemandem geholfen." In der "Rheinischen Post" warb der Christdemokrat für "entschlossenes, solidarisches Handeln aller staatlichen Institutionen gegen diese zunehmende Gewaltbereitschaft, eine konsequente Strafverfolgung mit wirkungsvollen Urteilen und endlich wieder ein respektvolles Miteinander in der Gesellschaft." Stimmt.

Nur wie kommen wir dahin? Die deutschen Innenminister wollen nun in einer Sonderkonferenz beraten. Die Vertreterin des Bundes, Nancy Faeser, erklärte: "Wir brauchen noch mehr sichtbare Polizeipräsenz vor Ort, um Demokraten an Wahlkampfständen und bei Veranstaltungen zu schützen." Und: "Rechtsstaatlich müssen wir jetzt mit mehr Härte gegen Gewalttäter und mehr Schutz für die demokratischen Kräfte handeln." Na klar, mal wieder "mehr Polizeipräsenz" und "mehr Härte".

Die Polizei soll immer öfter als Ausputzer gesamtgesellschaftlicher Fehlentwicklungen herhalten. Das führt zu immer weiterer Überlastung und Überforderung und schließlich zu Frust in den eigenen Reihen. Es fehlt der Polizei schlicht an Personal - was alle großen Parteien mitzuverantworten haben. Sie kann daher kurzfristig Wahlkämpfern kaum mehr Schutz bieten. Die Abwehrkräfte des demokratischen Rechtsstaats zu stärken, ist eine Daueraufgabe, die die Politik noch immer nicht entschlossen angegangen ist - nicht nach dem Tod von Walter Lübcke, nicht nach den Hanau-Morden, und später nicht.

Gut, wenn nun endlich etwas passieren sollte. Bis dahin bleibt jeder einzelne gefragt. Sei es durch Widerspruch, wenn auf der Gartenparty menschenverachtende Äußerungen fallen oder durch das Ansprechen des Dorfnachbarn mit dem Ampel-Galgen am Gartenzaun. Denn entschiedene Kritik ist in der Demokratie immer willkommen - aber dafür braucht es keine Gewaltverherrlichung.

Quelle: ntv.de

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