Vor dem Schweizer Friedensgipfel Die Ukraine kämpft für einen Waffenstillstand
26.04.2024, 10:09 Uhr Artikel anhören
In der Region Donezk feuern ukrainische Soldaten auf russische Stellungen.
(Foto: REUTERS)
Die Zukunft der Unterstützung durch die USA ist ungewiss, sagt der ukrainische Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko. Was für die Ukraine besser sei, ein Wahlsieg von US-Präsident Biden oder eine zweite Trump-Präsidentschaft, sei schwer zu sagen. Trump würde Kontakt zu Moskau suchen. "Wladimir Putin ist aber nicht an einem Kompromiss, sondern an einer diplomatischen Kapitulation interessiert - und die wird Trump sicher nicht akzeptieren."
Fessenko sagt, die Ukraine werde in jedem Fall langfristig die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes anstreben "wie einst Deutschland die Wiedervereinigung". Er schließt aber nicht aus, dass auf dem kommenden Friedensgipfel in der Schweiz - der ohne russische Beteiligung stattfindet - ein Plan für einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen erarbeitet wird. "Die Aufgabe der Ukraine ist daher, Putin mit militärischer Stärke realistische Friedensverhandlungen aufzuzwingen."

Wolodymyr Fessenko ist einer der führenden ukrainischen Politikexperten. Seit 2003 ist der Politikwissenschaftler Chef des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta in Kiew. Fessenko ist auch als Politikberater tätig.
(Foto: privat)
ntv.de: Herr Fessenko, wie ist aus Ihrer Sicht die nun endlich vollbrachte Verabschiedung des US-Hilfspakets in der ukrainischen Gesellschaft aufgenommen worden? Einerseits kann man von großer Erleichterung sprechen. Andererseits kostete die Verzögerung der Ukraine konkret Menschenleben - und dass eine knappe Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus die Hilfen für Kiew nicht unterstützten, ist kein besonders positives Zeichen.
Wolodymyr Fessenko: Die erste Reaktion war: Endlich, Gott sei Dank, jetzt können wir zumindest etwas aufatmen. Beim zweiten Blick ist es dann aber schon so, dass wieder Fragen aufkommen. Wieso hat es doch so lange gedauert, musste es wirklich so eng werden? Beides vermischt sich und ist für die Ukraine in der heutigen Lage ganz natürlich. Was die Republikaner anbetrifft, ist das vor allem ein Thema in der Expertencommunity. Fakt ist, dass das Problem dort deutlich über den kleinen Flügel der radikalen Trump-Anhänger hinausgeht. Unter den Abgeordneten, die das Ukraine-Gesetz nicht unterstützten, waren Republikaner, die prinzipiell für militärische, aber nicht für finanzielle Hilfen sind. Doch rund 70 Abgeordnete waren gänzlich gegen die Ukraine-Hilfen, und das ist nicht wenig. In jedem Fall bleibt die Zukunft der US-Unterstützung ungewiss. Erst einmal ist es trotzdem wichtig, dass dieses Paket verabschiedet wurde und dass die neuen Hilfen bereits unterwegs sind.
Stichwort Ungewissheit. Die US-Präsidentschaftswahlen im November sind zweifellos das wichtigste politische Ereignis des Jahres - und gerade in manchen europäischen Ländern ist die Angst vor der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus groß. Der Militärexperte Gustav Gressel meinte jüngst im Interview mit ntv.de, dass man in der Ukraine eher gelassen auf die Wahlen schaue. Biden handele schon jetzt nicht energisch genug - und Trump sei zwar unberechenbar, "er kann aber durch Putin auch enttäuscht werden und dann komplett sauer werden" und dann hätte die Ukraine "zumindest theoretisch die Chance zu gewinnen".Wie nehmen Sie das wahr?
Die offizielle Position ist klar und deutlich: Die Ukraine legt hohen Wert auf eine parteiübergreifende Unterstützung durch die USA und wird definitiv ihre Neutralität mit Blick auf die dortigen innenpolitischen Prozesse beibehalten. Die Fehler von 2016, als viele bekannte ukrainische Politiker Hillary Clinton offen unterstützten, werden nicht wiederholt. Ansonsten bin ich beim ukrainischen Ex-Außenminister Pawlo Klimkin, der von einer Wahl zwischen der Zögerlichkeit von Biden und Unberechenbarkeit von Trump sprach. Was von beidem besser ist, ist schwer zu sagen, zumal ich auch Kurt Volker, dem Sondergesandten für die Ukraine-Beziehungen während der Trump-Präsidentschaft, komplett zustimme: Wie seine Ukraine-Politik aussehen wird, weiß, Stand jetzt, nicht mal Trump selbst. Es ist davon auszugehen, dass er im Falle seines Wahlsiegs versuchen wird, Kontakt zu Moskau zu suchen. Wladimir Putin ist aber nicht an einem Kompromiss, sondern an einer diplomatischen Kapitulation interessiert - und die wird Trump sicher nicht akzeptieren.
Seit dem 22. März greift Russland wieder, wie im Winter 2022/23, massiv die ukrainische Energieinfrastruktur an. Sie stammen selbst aus der Region Charkiw, die am meisten von dem Beschuss betroffen ist. Wie ist dort aktuell die Lage und wie beeinflusst die Angriffswelle die Stimmung allgemein im Land?
Die russischen Angriffe haben insgesamt in den nördlichen Grenzregionen zu Russland zugenommen, auch in den Regionen Sumy und Tschernihiw. Es gibt auch vermehrt Versuche [der Russen], mit kleinen Sabotagetrupps die Grenze zu überqueren. Ich sehe hier einen Zusammenhang zu Putins Äußerungen über die Schaffung einer "Sanitärzone" an der Grenze zu Russland. Selbstverständlich ist die Lage in Charkiw schwer, denn Russland hat praktisch die zwei wichtigsten Kraftwerke zerstört, die die Region versorgen. Die Situation der Stromversorgung ist zwar mittlerweile etwas besser geworden, es bleibt aber schwer - und es ist klar, dass der nächste Winter hart sein wird. Doch die Stadt lebt, auch wenn es durchaus Menschen gibt, etwa ITler, die Charkiw verlassen haben, um normal arbeiten zu können. Psychologisch ist es keine angenehme Situation, weil man die Angriffe im Winter erwartet hatte - sie kamen aber erst, als die meisten Menschen dachten, dass vorerst nichts dergleichen passieren wird. Jedoch gibt es die Hoffnung, dass der Beschuss die Lieferungen von Flugabwehrsystemen an die Ukraine intensiviert, was offensichtlich schon in Bewegung ist.
Zwei innenpolitische Themen haben bisher das laufende Jahr in der Ukraine dominiert: zum einen die Auswechslung des beliebten Ex-Armeechefs Walerij Saluschnyj, die dann deutlich ruhiger ablief als von vielen angenommen. Zum anderen die jüngst verabschiedete Mobilisierungsreform, die spätestens seit Dezember heiß diskutiert wurde. Das Gesetz schreibt primär vor, dass seit dem Inkrafttreten am 18. März alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren zwei Monate haben, um sich beim Wehrregister anzumelden. Sonst drohen Strafen in Höhe von umgerechnet rund 500 Euro oder möglicherweise ein Fahrverbot. Die einen finden das Gesetz zu weich, die anderen halten es für zu hart. Wie blicken Sie auf die gesellschaftliche Debatte darüber?
Die Reform war notwendig. Das frühere, sowjetisch geprägte Mobilisierungsmodell funktionierte schlecht. Es gab beispielsweise keine ernsthaften Strafen für die fehlende Wehranmeldung. Ansonsten sind die Emotionen nicht mit diesem Gesetz an sich verbunden - es ist im Kern mehr ein Wehrregister- und weniger ein Mobilisierungsgesetz und es bestimmt in keiner Form die Mobilisierungspläne, die vor allem von der Frontlage und dem Vorgehen Russlands abhängen. Die Emotionen drehen sich um die Komplexität des Themas der Mobilisierung im Allgemeinen. Laut einer im Februar durchgeführten Umfrage der Rating Group halten 36 Prozent der Ukrainer das aktuelle Mobilisierungstempo für unzureichend und 30 Prozent für optimal. Nur 19 Prozent halten es für zu hoch. Das zeigt, dass die Gesellschaft die Notwendigkeit der Mobilmachung grundsätzlich versteht. Doch die Menschen, die das Offensichtliche verstehen, wollen meist gleichzeitig nicht, dass ihre Liebsten eingezogen werden, weil sie Angst um sie haben. Das ist eine natürliche und unvermeidliche Ambivalenz, die jedoch eine Herausforderung für die Ukraine darstellt.
Die Reform sieht unter anderem vor, dass die Verlängerung des Reisepasses bei Wehrpflichtigen nur möglich ist, wenn eine Militärregistrierung nachgewiesen werden kann. Nun wurden die meisten konsularischen Dienstleistungen vorerst bis zum 18. Mai ausgesetzt - nicht zuletzt, weil Konsulate mit langen Schlangen von Männern überlastet waren, die noch vor Inkrafttreten des Gesetzes ihre Reisepässe erneuern wollten. Die große Nachfrage nach Gerechtigkeit in der Ukraine ist verständlich, doch ist es auch klug und durchdacht?
Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass es sich nicht um die Mobilisierung von Auslandsukrainern handelt, die auch praktisch unmöglich ist. Es geht eben um die Wehranmeldung - und es soll möglich sein, sich im Konsulat oder im Netz über das sogenannte elektronische Wehrkabinett zu registrieren oder eigene Angaben zu aktualisieren. Es gibt noch viele Unklarheiten, weil unterschiedliche Behörden erst jetzt in der Praxis herausfinden, wie all das im Detail funktioniert. Ich denke jedoch, dass es am Ende keine besonderen Probleme geben wird. Unter anderem möchte der Staat schlicht wissen, wie viele Männer im wehrpflichtigen Alter sich ungefähr im Ausland aufhalten. Wie schon erwähnt: Die Reform dient überwiegend dem Zweck, das Wehrregister in Ordnung zu bringen, für das sehr viele früher ohne Konsequenzen unsichtbar waren.
An diesem Wochenende findet in Katar ein Treffen von Regierungsvertretern aus mehreren Ländern statt, auf dem die Austragung des Gipfels besprochen werden soll, der im Juni in der Schweiz stattfindet. Im Zentrum des Treffens steht die sogenannte Friedensformel von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Welche Rolle hat die Friedensformel für die Ukraine? Was sagen Sie Kritikern, die sie als unrealistisch herabstufen?
Natürlich ist sie für Moskau völlig inakzeptabel, doch man sollte sie im richtigen Kontext sehen. Die Formel ist keine Grundlage für Verhandlungen mit Russland, zumal vier der zehn Punkte vor allem globale Fragen der Energie- oder Nuklearsicherheit betreffen. Sie formuliert das strategische, langfristige Ziel der Ukraine, das unter Umständen in Zukunft und mit unterschiedlichen Mitteln erreicht werden kann. Es ist gut möglich, dass die aktuellen Kampfhandlungen irgendwann mit einem Waffenstillstand ohne Vorbedingungen enden und einige ukrainische Gebiete unter Besatzung bleiben. Dass die Ukraine und Russland eine prinzipielle Einigung über den Status der teils okkupierten Gebiete erzielen, ist nahezu ausgeschlossen. Die Ukraine wird sie niemals als russisch anerkennen, doch auch in Russland sind sie inzwischen Teil der Verfassung. Mit der Friedensformel sagt die Ukraine daher deutlich und basierend auf dem Völkerrecht: Wir werden die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes langfristig anstreben, wie einst Deutschland die Wiedervereinigung. Dazu gibt es keine Alternative und die Ukraine hat absolut das Recht dazu. Doch ich schließe nicht aus, dass im Rahmen des Friedensgipfels offiziell oder inoffiziell, was wahrscheinlicher ist, ein theoretischer Plan für einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen erarbeitet werden könnte, hinter dem viele Länder stehen würden, was wiederum die ukrainische Position stärken und Russland unter einen gewissen Druck stellen würde.
Wenn wir auf die aktuelle strategische Lage für Kiew schauen, zeigt sich folgendes Bild: Der Ukraine geht es zunächst darum, bis Jahresende durchzuhalten. Die US-Hilfen und auch die tschechische Initiative zum Munitionseinkauf bei Ländern außerhalb der EU sollen der ukrainischen Armee helfen, das Tempo der russischen Vorstöße zu verlangsamen. Wenn dann die Munitionsproduktion in den USA und in Europa gegen das Ende des Jahres endlich das nötige Niveau erreicht, muss die Ukraine 2025 versuchen, die russische Armee zumindest zu stoppen und am besten an einigen Orten zurückzuschlagen. Sollte sich Russland dann irgendwann von seinen unrealistischen Vorbedingungen für jegliche Gespräche verabschieden, könnte sich das Fenster für einen Waffenstillstand öffnen. Wie nah an der Realität ist dieses Bild aus Ihrer Sicht?
Was Sie beschrieben haben, ist eine der wahrscheinlichen, wenn nicht die wahrscheinlichste Richtung, in die sich die Ereignisse entwickeln könnten. Tatsächlich ist es so, dass für Moskau die sogenannte "Entmilitarisierung" neben der Nichtmitgliedschaft in der NATO die wichtigste Forderung ist. Sie ist für die Ukraine absolut inakzeptabel. Bei den Gesprächen in Istanbul im Frühjahr 2022, auf die einige fälschlicherweise wie auf eine Art "verpasste Friedenschance" schauen, bestand Moskau darauf, die ukrainische Armee auf insgesamt bis zu 85.000 Soldaten zu reduzieren. Allein das wäre schon selbstmörderisch gewesen. Inzwischen ist die russische Position noch härter geworden. Russland möchte mit der Brechstange "Friedensbedingungen" durchsetzen, die faktisch eine Kapitulation der Ukraine, verbunden mit einer Einladung zu einer neuen Invasion mit guten Chancen für Russland wären. Die Aufgabe der Ukraine ist daher, Putin mit militärischer Stärke realistische Friedensverhandlungen aufzuzwingen, bei denen es fast ausschließlich um einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen und zusätzlich noch um einen großen Gefangenenaustausch gehen kann. Wir müssen erst die Front stabilisieren, Russlands Vormarsch endgültig stoppen - und in der Tat versuchen, die Russen an einigen Frontrichtungen zurückzuschlagen.
Mit Wolodymyr Fessenko sprach Denis Trubetskoy
Quelle: ntv.de