
Von Cottbus aus direkt in den Bundestag gewählt: die SPD-Abgeordnete Maja Wallstein im Gespräch mit Fraktionschef Rolf Mützenich
(Foto: imago images/Rainer Weisflog)
Größer, jünger, ostdeutscher, bunter: Die SPD stellt in den kommenden vier Jahren die größte Fraktion im Bundestag, die sich zudem runderneuert hat. Die 206 Mandatsträger mit ihren vielen Jusos werden wichtiger Faktor bei der Regierungsbildung.
Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, weiß der Volksmund. Dass das Sommerfest des Seeheimer Kreises, der Gruppe der Unternehmensfreundlichen und Konservativen in der SPD-Fraktion, auf den Montagabend nach der Bundestagswahl fällt, ist so gesehen ein Glücksfall. Die Seeheimer-Sprecher Siemtje Möller und Dirk Wiese begrüßen im Schatten des Bundestags 550 Gäste, die meisten Genossinnen und Genossen, aber auch Vertreter von Medien und Wirtschaft. Es ist ein aufgekratzt fröhlicher Abend, an dem sich ständig Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter von Partei und Abgeordneten in den Armen liegen: Die Sozialdemokraten haben die Bundestagswahl, die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern gewonnen. "Glückwunsch, "Wahnsinn" und "unglaublich", zählen zu den am häufigsten gebrauchten Vokabeln jener langen Nacht.
Es ist ein Hattrick, den viele Anwesende dem Stargast der Party zuschreiben: Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Der Applaus für den bisherigen Vize-Kanzler ist groß. Länger und lauter jedenfalls als für die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie Fraktionschef Rolf Mützenich, die ebenfalls ein paar Worte vor der Büffet-Eröffnung sagen. Doch das täuscht ein wenig über die neuen Machtverhältnisse hinweg: Scholz gibt zwar die Richtung vor, aber er braucht dafür eine geschlossene Fraktion hinter sich. Die 206 Abgeordneten - 53 mehr als bisher - haben nach schweren Jahren reichlich Selbstbewusstsein. Fast 50 von ihnen haben mit Erstimmenergebnissen über 35 Prozent CSU-artige Wahlkreissiege eingefahren, wobei Johann Saathoff mit 52,8 Prozent in Emden-Aurich so etwas wie der heimliche Star des Seeheimer Sommerfests ist.
Scholz wird Mützenich brauchen
Dass Scholz seine Fraktion braucht, sagt er mit Blick auf die anstehende Regierungsbildung an diesem Abend auch selbst: "Daher bitte ich auch alle, mitzuhelfen. Denn wer eine Regierung bildet, der muss nicht jeden Tag ausführlich in der Zeitung erörtern, was alles der eine sagen könnte und der andere. Vorschläge sind aus diesem Kreis und überall sonst auch herzlich willkommen. Aber dazu braucht man nicht die Medien, es geht auch ganz traditionell, mich einfach direkt anzusprechen."
Doch es wird nicht primär Scholz zufallen, die Fraktion und den Austausch mit ihr zu organisieren, auch wenn Scholz als Spitzenkandidat der Brandenburger SPD seinen Wahlkreis in Potsdam direkt gewonnen hat und damit wieder dem Bundestag angehört - zehn Jahre nachdem er das hohe Haus verlassen hat, um Hamburgs Erster Bürgermeister zu werden. Die Abgeordneten zu führen, fällt auch künftig Fraktionschef Rolf Mützenich zu, der aus den Trümmern des Sturzes von Andrea Nahles aufgestiegen war. Am Montag nach der Wahl empfiehlt der SPD-Bundesvorstand seiner Fraktion, Mützenich an ihrer Spitze wiederzuwählen. Das ist der Lohn für das hohe Maß an Geschlossenheit der Fraktion, obwohl die Umfragen die SPD bis in den Juli hinein wie festgemeißelt bei höchstens 17 Prozent sahen, und für den guten Draht zwischen Fraktionsspitze und Parteiführung.
Der von seinen Abgeordneten geschätzte, der breiten Öffentlichkeit aber noch immer wenig bekannte Mützenich zeigt sich selbstbewusst. "Wir werden Olaf Scholz, wenn es soweit ist, zum Bundeskanzler wählen. Das ist mein Versprechen", ruft Mützenich den Partygästen zu. Am Tag darauf wird der 62-Jährige den Grünen und der FDP munter Ansagen machen, dass die Sondierungsgespräche mit der SPD nicht so ein "Schauspiel" werden dürften, wie bei den Jamaika-Gesprächen vor vier Jahren. Der Kölner gehört zum sechsköpfigen Sondierungsteam der SPD.
Lauter junge Leute
Aus Sicht der Partei macht die Kontinuität an der Spitze nicht nur mit Blick auf vergangene Leistungen Sinn. Die Fraktion muss zahlreiche neue Abgeordnete in den Betrieb integrieren. Darunter sind 48 jüngere Frauen und Männer, die zu den traditionell linkeren Jusos gehören. Ein wahrscheinlicher Bundeskanzler Scholz muss daher nicht nur mit zwei Parteivorsitzenden arbeiten, die in vielen programmatischen Fragen links von ihm stehen, sondern auch eine potenziell rauflustige Fraktion hinter sich wissen.
Zugleich macht gerade das die Partei dieser Tage besonders stolz. Sie hat ja nicht nur die Zahl ihrer direkt gewonnen Mandate von 59 auf 121 verdoppelt. Auch der Anteil der Abgeordneten unter 40 Jahren hat sich auf nunmehr ein Drittel verdoppelt; 68 sind es insgesamt. Die Jungen sind aber nicht nur über neu eroberte Wahlkreise und Listenplätze eingezogen, sondern haben oft auch Wahlkreise von älteren Abgeordneten übernommen. So kommt es, dass 104 SPD-Abgeordnete gänzlich neu im Bundestag sind, die Hälfte davon unter 40, jeder Vierte sogar nicht älter als 30 Jahre. Viele der Jungen sind Klimabewegte wie die 33-jährige Verkehrspolitikerin Ye-One Rhie aus Aachen oder Anna Kassautzki, die mit 27 Jahren sensationell den bisherigen Wahlkreis von Angela Merkel, Vorpommern-Rügen - Vorpommern-Greifswald I, erobert hat.
(Ost-)Deutsche mit Migrationsgeschichte
Repräsentativer ist die Fraktion aber auch in anderer Hinsicht geworden: Die Gruppe der ostdeutschen Mandatsträger ist von 21 auf 41 gewachsen, weil die SPD plötzlich wieder im Osten stark ist: In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gingen alle 16 Direktmandate an die SPD, darunter erneut viele junge Kandidatinnen wie die 30-jährige Reem Alabali-Radovan aus Schwerin oder der 38-jährige Bundeswehroffizier Johannes Arlt, der den bisherigen Wahlkreis des CDU-Haushaltspolitikers Eckhard Rehberg gewann. Elisabeth Kaiser und Tina Rudolph aus Thüringen sowie Sonja Eichwede und Maja Scarlett Wallstein aus Brandenburg gewannen mit ihren 30 bis 35 Jahren ebenfalls Direktmandate in ostdeutschen Flächenländern.
Fast 30 Abgeordnete haben eine Migrationsgeschichte, darunter Adis Ahmetovic. Der 28-jährige, in Deutschland geborene Sohn bosnischer Kriegsflüchtlinge ist dank der rot-grünen Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000 auch formal Deutscher. Ahmetovic vertritt künftig Hannover im Bundestag. Die Verjüngung der Fraktion ist auch Lars Klingbeils ganzer Stolz. Der SPD-Generalsekretär hatte sich zusammen mit dem früheren Juso-Chef Kevin Kühnert dafür eingesetzt, dass mehr Junge sich auf Kandidaturen bewerben und dabei auch Chancen erhalten.
Eine Frau für ein hohes Amt
Nicht ganz paritätisch hingegen ist der Frauenanteil mit 42 Prozent. Noch dünner ist der Frauenanteil an der Spitze der Partei. Da herrschen neben Esken und den Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig, Malu Dreyer und der voraussichtlichen neuen Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, nur Männer. Scholz hat versprochen, die künftige SPD-Ministerriege zu gleichen Teilen mit Frauen und Männern zu besetzen. Vor allem die bisherige Umweltministerin Svenja Schulze dürfte ihren Posten im kommenden Kabinett sicher haben. Wenn die SPD die nächste Bundesregierung anführt, werden aber Fraktionsvorsitz,Kanzleramt und das Bundespräsidentenamt sämtlich in Männerhand sein.
Das lenkt den Blick auf einen anderen Posten, der mit der krachenden Niederlage der Union freigeworden ist: Wer beerbt den bisherigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble? Selbst wenn Klingbeil Bundesminister würde und eine Frau neue SPD-Generalsekretärin, käme die SPD nicht umhin, das zweithöchste Amt nach dem des Bundespräsidenten weiblich zu besetzen. Wenn diese Frau dann noch andere Repräsentationsfragen abdecken soll - etwa Migrationshintergrund oder ostdeutsch -, darf munter spekuliert werden, welche der Dutzend Frauen, die in ihre mindestens zweite Legislaturperiode starten, hierfür in Frage kommen. Die SPD hat vier Wochen bis zur ersten konstituierenden Sitzung des Bundestages, um diese Frage zu klären.
Quelle: ntv.de