SPD-Fraktion vor großem Umbruch Ulla Schmidt geht, Ye-One Rhie will rein
19.09.2021, 08:04 Uhr
Ulla Schmidt und Ye-One Rhie.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird nicht nur wachsen, sondern sich deutlich verjüngen. Ein Drittel der Kandidatinnen und Kandidaten ist unter 40 Jahre alt, darunter Ye-One Rhie aus Aachen. Die 33-Jährige will der früheren Bundesgesundheitsministerin und ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt nachfolgen, die nach 31 Jahren das Parlament verlässt. Mit ntv.de sprechen beide über den Generationenwechsel.
Frau Schmidt, Sie haben viele Jahre den Wahlkreis Aachen im Bundestag vertreten, der auch Heimat des Unionskanzlerkandidaten ist. Sie kennen Armin Laschet daher recht gut. Hatten Sie erwartet, dass er der SPD auf dem Weg ins Kanzleramt derart von Nutzen sein würde?
Ulla Schmidt: Ich kenne ihn lange und habe daher damit gerechnet, dass er bei Kritik schnell den Maßstab im Umgang miteinander verliert. Er kann schlecht mit Druck umgehen und greift dann zu Vorwürfen, die vorne und hinten nicht stimmen. Es liegt auch an diesem Auftreten, dass viele sagen 'Der kann das nicht'. Ein Kanzler muss auch in Krisensituationen nicht nur aus dem Bauch heraus entscheiden, sondern Ruhe und Überblick bewahren. Anstatt überlegt zu handeln, neigt er dazu, impulsiv zu sein.
Ye-One Rhie: Auf Aachen bezogen hat es ja durchaus auch Gründe, dass er nicht an seinem Wohnort für den Bundestags kandidiert, sondern nur auf der Landesliste steht. Seine Ergebnisse waren hier immer durchwachsen, zum Beispiel auch als er gegen Ulla Schmidt angetreten ist. Es ist nicht immer von Vorteil, wenn die Leute einen Kandidaten besonders gut kennen. Als er vor vier Jahren als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen kandidiert hat, hat er den Wahlkreis auch nur hauchdünn gewonnen.
Frau Rhie, Sie machen Mobilitätspolitik in Aachen und arbeiten als Referentin für Wissenschaftskommunikation im Landesministerium für Wissenschaft und Kultur. Jetzt zieht es Sie mit 33 Jahren in den Bundestag. Was treibt Sie an?
Ye-One Rhie: Erstens, wir leben in einem Land, in dem es uns allen gut gehen könnte. Aber beim Nachrichten schauen oder im Kneipengespräch denkt und hört man oft 'Krass, ist das unfair'. Ich möchte, dass man diese Vokabel aus dem Alltagswortschatz streichen kann, etwa wenn wir über niedrige Renten oder zu hohe Mietpreise in der Aachener Innenstadt reden. Zweitens, Ulla Schmidt hat immer die Stadt Aachen und ihre Menschen im Bundestag vertreten. Man hat ihr auch immer angehört, wo sie herkommt. Als Ulla angekündigt hat, 2017 zum letzten Mal anzutreten, wollte ich, dass Aachen auch in Zukunft so eine starke Stimme in Berlin hat.
Haben Sie, Frau Schmidt, Frau Rhie vorgewarnt, welch immenses Arbeitspensum und welch hoher Druck mit einem Bundestagsmandat einhergehen?
Ulla Schmidt: Ich sehe es als meine Aufgabe an, ihr zu sagen 'Pass auf, das ist ein hartes Geschäft'. Ye-One galt ja schon länger als meine potenzielle Nachfolgerin, wollte aber zurecht erst einmal in ihrem Beruf Fuß fassen. Wer politisch tätig ist, sollte nie von seinem Mandat abhängig sein. Direkt von der Schule oder Universität in ein Amt zu gehen, finde ich schwierig. Nichts anderes als die Politik zu haben, engt ein. Frau Rhie hat diese Unabhängigkeit, so wie ich sie als Lehrerin auch hatte. Frau Rhie ist eine kluge, empathische und durchsetzungsstarke Frau, die ich mir als meine Nachfolgerin im Deutschen Bundestag wünsche.
Aber abgeraten haben Sie Frau Rhie nie?
Ulla Schmidt: Nein, denn Bundestagsabgeordnete zu sein, ist auch eine wunderbare Aufgabe. Worüber wir im Vorfeld gesprochen haben, waren Befürchtungen vor rassistischen Anfeindungen. Zum Hass gegen alles Fremde kommen die Anfeindungen gegen Frauen, weil wir auch eine Renaissance des Patriarchats erleben. Damit kann man zwar umgehen, aber es ist beleidigend und entehrend und deshalb auch manchmal schmerzhaft. Aber da bin ich positiv überrascht, wie sehr sich das in Grenzen gehalten hat.
Frau Rhie, Ihre Eltern sind zum Studium aus Südkorea nach Aachen gekommen, wo Sie geboren wurden. Werden Sie als Kandidatin anders behandelt, weil Sie eine junge Frau mit Migrationsgeschichte sind?
Ye-One Rhie: In Aachen bin ich von den aussichtsreichen Kandidatinnen die einzige mit sichtbarem Migrationshintergrund. Dass aber deshalb meine Plakate beschmiert werden oder ich persönlich angegangen werde, habe ich bisher kaum wahrgenommen. Es gibt aber ein sehr großes Interesse an meinem Namen, da fragen mich die Leute sogar aus dem Autofenster heraus, wie der ausgesprochen wird. Aber das passiert aus freundlicher Neugier und freut mich eigentlich eher. Ich habe da viel Glück, kenne aber muslimische Kandidierende, die sehr viel Hass erfahren. Das muss man auch sagen.
Ulla Schmidt: Ich habe auch keine rassistischen Kommentare wahrgenommen, abgesehen von unglücklich formulierten, lustig gemeinten Sätzen, die aber nicht lustig waren. Womit Frau Rhie recht hat: Kandidatinnen mit dunklerer Hautfarbe also People of Colour und muslimische Kandidaten werden sehr wohl angegriffen. Hinzukommen antisemitische Übergriffe.
Und der Umgang mit Ihnen als Frau?
Ye-One Rhie: In einer Kampagne habe ich bei den Wörtern Öcherin (Aachenerin, d. Red.), Sozialdemokratin und Politikerin die in-Endung unterstrichen. Da gab es sehr heftige und scharfe Zuschriften von Frauen, die meinten, eine selbstbewusste Frau müsse ihr Frau-Sein nicht betonen, und von Männern, die sich von mir nicht angesprochen fühlten. Aber ich glaube, ich konnte denen ganz gut erklären, was ich damit meine. Natürlich spreche ich Männer und Frauen an.
Ulla Schmidt: Ich habe das auch so erlebt. Frau zu sein bedeutet ja nicht automatisch, sich für Frauenrechte einzusetzen oder behindert zu sein, sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stark zu machen. Dass wenn Frau nur gut ist, schon alles klappen würde, habe ich immer wieder gehört, etwa aus der FDP.
Sie verlassen den Bundestag nach bald 31 Jahren, Frau Schmidt. Kommt bei Ihnen Wehmut auf?
Ulla Schmidt: Als die letzte namentliche Abstimmung gelaufen war und alle gekommen sind, um sich zu verabschieden, da kam schon ein bisschen Wehmut auf. Andererseits habe ich das so entschieden. Und ich habe immer gesagt: Wenn jemand junges da ist, die oder der das machen will, dann muss ich Platz machen, sonst gehen ganze Generationen verloren. Und ich bleibe ja Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und bin in der Hospizstiftung Aachen und bei der Aktion Mensch aktiv. Da werde ich dann auch die parlamentarische Unterstützung von Frau Rhie und anderen brauchen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen weiter voranzubringen.
Für die SPD strebt eine Vielzahl an jungen Kandidatinnen und Kandidaten in den Bundestag. Was erwarten Sie sich von der neuen Generation, was kann die besser machen?
Ulla Schmidt: Die neuen zeigen mehr Engagement bei dem Thema Klimaschutz. Als ich 1990 in den Bundestag kam, war das sicherlich nicht so ein großes Thema. Der Umbau zur Klimaneutralität ist eine gewaltige Aufgabe. Da wünsche ich mir, dass die Jungen ihre Expertise einbringen und das zusammenbringen mit sozialer Gerechtigkeit. Fridays for Future ist eine große Bewegung, so wie die 1968er, als wir den Mehltau des Nationalsozialismus bekämpft und mehr Demokratie gewagt haben.
Wo fehlt es den jungen Politikerinnen noch?
Ulla Schmidt: In der Demokratie braucht es Mehrheiten, man muss dafür Netzwerke knüpfen. Und ich würde mir wünschen, dass unsere jungen Leute noch stärker als bisher sehen, dass soziale Netzwerke nicht die gesamte Wirklichkeit abbilden. Wenn ich die Mehrheit mitnehmen will, muss ich mich auch außerhalb des Netzes bewegen und viel reden. Das war nicht immer angenehm, aber ich bin als Bundesgesundheitsministerin zu jeder Veranstaltung hingegangen, zu der ich angefragt wurde. Ich glaube, dass Politik dazu verpflichtet ist, und ich wünsche mir, dass die jüngere Generation das auch macht.
Frau Schmidt hat den Vergleich zu 1968 gezogen. Hat die Generation an Politikern, die Ihre Generation allmählich ablösen wird, auch eine Art historische Schuld auf sich geladen, weil das Klimathema vernachlässigt wurde, Frau Rhie?
Ye-One Rhie: Erstmal löse ich ja keine Generation ab, sondern hoffentlich nur Ulla Schmidt in Aachen. Und den Begriff der Schuld finde ich schwierig. Das klingt sehr hart und selbstgerecht. Sicherlich hätte man mehr machen können und sollen. Diese Dringlichkeit des Themas zeigt sich auch mehr durch die Zunahme von Partizipationsmöglichkeiten. Dass die jungen Menschen auf die Straße gehen und auf das Thema aufmerksam machen, das hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Und im Bundestag gilt es, zwischen vielen Prioritäten abzuwägen. Ich kenne das aus der Mobilitätspolitik in Aachen: Als wir neue Fahrradwege bauen wollten, kam die Rückmeldung einer Mutter mit behindertem Kind, dass sie umziehen müsste, wenn sie keinen Parkplatz mehr vor der Haustür hätte. Das will man auch nicht.
Ulla Schmidt: Ich möchte da auch entschieden widersprechen. Es war diese Generation, die die internationalen Klimaverträge auf den Weg gebracht hat, sei es das Kyoto-Protokoll oder das Pariser Klimaabkommen. Da hat eine sozialdemokratische Umweltministerin entscheidend mitgewirkt. Es war diese Generation, die aus der Steinkohle und aus der Atomenergie ausgestiegen ist. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die damals das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht hat. Es geht jetzt auch nicht um neue Ideen, sondern darum, den begonnenen Umbau zu Erneuerbaren Energien zu beschleunigen.
Frau Rhie, haben Sie mit Frau Schmidt darüber gesprochen, dass im Fall eines Wahlsiegs für die SPD Ihrer Fraktion auch oftmals nur eine Rolle des Durchwinkens der Gesetze der eigenen Regierung zukommt?
Ye-One Rhie: Ich bin seit sieben Jahren im Rat der Stadt Aachen, wo wir sechs Jahre eine große Koalition hatten. Ich kenne das also, wenn man die Mehrheit hat. Ich möchte deshalb Ihrer Definition der Rolle einer Regierungsfraktion widersprechen. Ich arbeite hier in NRW im Landesministerium für Kultur und Wissensch aft, da mache ich die Erfahrung, dass mehr politische Impulse aus den Landtagsfraktionen kommen als andersherum. Gerade bei Themen, über die wir gesprochen haben, wie Klimaschutz und Behindertenrechte braucht es parlamentarischen Druck. Aus dem nächsten Bundestag, das sehe ich vielleicht leicht anders als Ulla Schmidt, muss mehr Druck kommen, damit Gesetze auch umgesetzt werden und die neu besetzten Ministerien wissen, die Klimaschutzgesetze sind prioritär.
Ulla Schmidt: Ich widerspreche Ihnen auch. Es gibt Abgeordnete, die sich so klein machen, dass sie der Auffassung sind, dass sie nur noch Abnicker seien. Wer aber seine Arbeit als Abgeordneter ernst nimmt, der arbeitet bevor in den Ministerien entschieden wird mit daran, wohin etwas gehen soll. Ich habe vielen Kompromissen zugestimmt, wenn ich wusste, dass wir auf dem Weg dorthin alles ausgereizt hatten. Und da hatte unser früherer Fraktionsvorsitzender Peter Struck recht: Kein Gesetz kommt aus dem Bundestag heraus, wie es her eingekommen ist. Ich habe als Vize-Präsidentin viele ausländische Delegationen empfangen: Unser Parlament hat mehr Rechte als viele andere, auch im europäischen Vergleich. Die Bandbreite dieser Möglichkeiten, das sage ich auch immer wieder jungen Politikern und Politikerinnen, muss man als frei gewählte Abgeordnete aber auch nutzen.
Als Sie in den Bundestag einzogen, saß das Parlament noch in Bonn und Deutschland startete die Wiedervereinigung. Union und SPD waren dominante Volksparteien, die Zukunft der Grünen ungewiss und an eine AfD gar nicht zu denken. Was hat sich verändert?
Ulla Schmidt: Damals gab es nur sehr wenige Frauen im Bundestag, weshalb wir sehr viel fraktionsübergreifend zusammengearbeitet haben bei Themen, die für Frauen wichtig waren. Wir hätten sonst nicht den Artikel 3 des Grundgesetzes zur Gleichberechtigung von Mann und Frau ändern können. Wir hätten nicht die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellen können. Wir hätten nicht den bis heute tragenden Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch gefunden. Da gab es in der FDP und CDU/CSU starke Frauen, die die eigenen Fraktionen überzeugen mussten. Die große Mehrheit der Männer fand manches, was wir gemacht haben, verrückt und überflüssig. Diese fraktionsübergreifende Zusammenarbeit würde ich mir auch heute wünschen. Immerhin haben wir noch die Regel, anders als andere Parlamente, dass wir Abstimmungen in ethischen Fragen nicht an die Fraktionszugehörigkeit knüpfen.
Was hat sich noch verändert?
Ulla Schmidt: Alles ist rauer geworden, das begann schon mit dem Umzug von Bonn nach Berlin. Bonn war schon sehr familiär, da wohnte man noch in Nähe zueinander. Und auch die Debatte ist rauer geworden. Ich hätte mir damals nicht träumen lassen, dass eine Fraktion in einem deutschen Parlament sitzt, die offen rassistische, menschenverachtende Sprüche von sich gibt und in vielen Punkten völkisch-nationalsozialistische Töne anschlägt. Mich freut, dass die anderen Parteien da geschlossen gegenhalten. Das muss auch so bleiben, dass Rassisten keine Position bekommen, in der sie Deutschland nach außen vertreten, wie etwa den Posten eines stellvertretenden Bundestagsvorsitzenden.
Ist Frau Schmidt eine Wegbereiterin für Sie, Frau Rhie? Und was würden Sie vielleicht auch ganz anders machen?
Ye-One Rhie: Auf jeden Fall eine Wegbereiterin. Ulla sagt das immer so nebenbei, aber man muss sich das mal überlegen, in was für einer Zeit sie angefangen hat: Da wurde noch diskutiert, ob Frauen überhaupt Politik machen sollen und ob sie fähig sind, sich an einem Tisch mit Bundeskanzler Helmut Kohl durchzusetzen. Jetzt kippt es eher in die Richtung, habt ihr nicht längst Gleichberechtigung und reicht das nicht langsam mal? Ulla Schmidt hat sich nie leise machen lassen und laut gesagt, was sie stört. Was ich anders oder besser machen möchte, ohne dass sie da etwas falsch gemacht hätte, ist die Möglichkeiten des Internet mit den verschiedenen Plattformen noch stärker zu nutzen. Die Menschen haben einen großen Mitteilungsbedarf, kommen aber nicht mehr so zu den Wahlkampfständen. Das ist vielleicht auch eine Generationsfrage, denn der permanente Informationsfluss ist auch anstrengend und eine ganz neue Form der politischen Kommunikation.
Mit Ulla Schmidt und Ye-One Rhie sprach Sebastian Huld.
Quelle: ntv.de