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Umfragen-Puzzle zur Europawahl Europa rückt nach rechts - und die Jugend geht voran?

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Informationsmaterial zur Europawahl liegt an einem Stand.

Informationsmaterial zur Europawahl liegt an einem Stand.

(Foto: Marijan Murat/dpa/Symbolbild)

Ausgerechnet bei den Jugendlichen stehen rechtspopulistische Parteien wie die AfD angeblich hoch im Kurs. Was bedeutet das für die Europawahl im Juni, zu der in Deutschland und Belgien zum ersten Mal auch die 16- und 17-Jährigen abstimmen dürfen?

Vom 6. bis zum 9. Juni wählen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein neues Parlament. Für mindestens 21 Millionen junge Europäerinnen und Europäer wird es das erste Mal sein, dass sie an einer solchen Wahl teilnehmen dürfen, so eine vorläufige Schätzung aus 23 der 27 Mitgliedsländer bei Eurostat. Allein aus Deutschland und Belgien kommen etwa 1,76 Millionen jugendliche Erstwählerinnen und Erstwähler neu hinzu, nachdem beide Länder das Wahlalter erstmals auf 16 Jahre herabgesetzt haben. Welches Gewicht hat die Stimme junger Menschen bei der Europawahl und wie könnte ihr Wahlverhalten die politischen Verhältnisse im Parlament verschieben?

Die beiden britischen Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Matt Goodwin und James Tilley warnen vor einer allzu naiven Vorstellung davon, wie junge Wählerinnen und Wähler ticken. Die landläufige Auffassung etwa, jede Generation sei automatisch liberaler und progressiver als die vorherige, entspreche nicht der politischen Realität in Europa. In ihrer BBC-Radioserie mit dem Titel "The Kids are alt-right?" zeigen sie auf, wie sich junge Menschen quer durch Europa zunehmend rechtspopulistischen und -extremen Parteien zuwenden und untersuchen die Gründe für dieses Phänomen.

Würden Jugendliche am liebsten AfD wählen?

Damit sind sie nicht allein: In vielen westlichen Ländern häufen sich mittlerweile die Studien mit dem Befund, dass die "Generation Z" in mancher Hinsicht konservativer auftrete als frühere Jahrgänge. Allerdings: Die Forschungsergebnisse zu diesem Thema sind alles andere als eindeutig. Wer sich über die politischen Einstellungen und Parteipräferenzen junger Menschen informieren will, stößt auf zahlreiche Widersprüche und mitunter auch zweifelhafte Umfragedaten.

Im April sorgte beispielsweise eine Trendstudie des Jugendforschers Simon Schnetzer für Aufsehen, die die AfD zur beliebtesten Partei der 14- bis 29-Jährigen erklärte. Demnach gaben 22 Prozent der Befragten in der sogenannten Sonntagsfrage an, dass sie die AfD wählen würden - fast doppelt so viele wie im Vorjahr.

Die Erhebung wurde per Online-Panel durchgeführt, für das sich die Teilnehmenden registrieren mussten - eine umstrittene Methode und für die Wahlforschung eher die zweite Wahl. In bundesweiten Wahlumfragen bekommt die Annahme, dass junge Wählerinnen und Wähler häufiger rechtsextreme Parteien unterstützen würden als andere Altersgruppen, hingegen erste Risse.

Im Mai veröffentlichte Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Forsa etwa zeigen, dass immerhin 18 Prozent der Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren die AfD wählen würden, bei den Frauen sind es 9 Prozent. Unter Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden ist die AfD noch unbeliebter und kommt nur auf 4 Prozent. In der Gunst der jüngsten Wählerinnen und Wählern liegen stattdessen Grüne und Union vorne. Die höchsten Stimmenanteile holt die Alternative für Deutschland demnach in den mittleren Altersgruppen.

Die Jugend ist für Europa und für mehr Klimaschutz - anders als die AfD

Im Gegensatz zur AfD und anderen rechtsextremen Parteien treten die meisten jungen Menschen in Umfragen zudem immer wieder als überzeugte Europäerinnen und Europäer auf. Als bei der vergangenen Wahl zum Europaparlament 2019 die höchste Wahlbeteiligung seit 20 Jahren verzeichnet wurde, waren es vor allem die jungen Wählerinnen und Wähler unter 25 Jahre, die stärker als sonst von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten.

Eine Eurobarometer-Umfrage aus dem April 2019 verrät, was die Jugend damals an die Wahlurnen trieb: Darin nannten 67 Prozent der 15- bis 30-Jährigen den Kampf gegen den Klimawandel als wichtigstes politisches Anliegen, für das sie Antworten von der EU erwarteten. In Deutschland waren es sogar 79 Prozent.

Damals profitierten - wenig überraschend eigentlich - vor allem die Grünen von dem gestiegenen Interesse an der Europawahl und der politischen Stimmung auf dem Kontinent. Die Partei verdoppelte ihre Mandate von 11 auf 21, die gesamte Grünen-Fraktion im EU-Parlament wuchs von 52 auf 74 Sitze. In mehreren deutschen Regionen wurden die Grünen noch vor der CDU stärkste Kraft- und das nicht nur in den Großstädten, vor allem aber im Westen und Norden der Republik.

Eine Auswertung des Analyseportals "Europe Elects" auf der Basis von Wahlumfragen bestätigt: Vor allem junge Wählerinnen und Wähler machten zur Europawahl 2019 ihr Kreuz bei Parteien, die dem grünen Lager zugeordnet werden können. Ältere Bürgerinnen und Bürger hingegen tendierten mit überwiegender Mehrheit zum konservativen Lager. Gut ein Viertel von ihnen trug zum Wahlerfolg der größten EP-Fraktion bei, der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die deutschen Unionsparteien zählen.

Rechte Fraktionen legen laut Wahlprognosen deutlich zu

Fünf Jahre später deuten die Umfragen erneut auf einen klaren Sieg der EVP hin. Vor allem aber werden laut den Hochrechnungen die beiden Fraktionen am rechten Rand deutlich gestärkt aus der Wahl hervorgehen. Die eine, die rechtskonservative EKR (Europäische Konservative und Reformisten), kann vor allem auf Stimmen aus der älteren Bevölkerung zählen. Ihre Hochburgen liegen beispielsweise in den ländlichen Regionen Polens, wo die europaskeptische Ex-Regierungspartei PiS ("Recht und Gerechtigkeit") dominiert. Angeführt wird die EKR von der italienischen Ministerpräsidentin und Chefin der postfaschistischen Partei "Fratelli d’Italia", Georgia Meloni.

Die andere nationalistisch geprägte Fraktion nennt sich "Identität und Demokratie" (ID). Sie hat sich vor Kurzem von der AfD getrennt und wird sich nach der Wahl wohl erst noch neu sortieren müssen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass das rechte Lager bei der kommenden Europawahl noch einmal deutlich zulegen wird. Bisherige Prognosen gingen davon aus, dass EKR und ID zusammengenommen von aktuell 135 Sitzen auf mehr als 170 wachsen könnten. Manche Hochrechnungen sprechen gar von bis zu 200 Sitzen. Insgesamt werden in diesem Jahr 720 Sitze vergeben, 2019 umfasste das Parlament 705 Abgeordnete.

Von einer "grünen Welle" wie bei der letzten Europawahl ist derzeit jedenfalls nicht auszugehen. In Deutschland ist die Enttäuschung über die Ampel-Regierung geradezu greifbar. Von der Schwäche der Koalitionsparteien profitieren vor allem CDU und CSU, die in den bundesweiten Umfragen führen. Der Höhenflug der AfD hingegen scheint nach diversen Skandalen und Enthüllungen über die rechtsextreme und antidemokratische Gesinnung führender Parteimitglieder zumindest vorläufig gebremst. Von den 22 Prozent Stimmenanteil, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa noch zu Beginn des Jahres ermittelt hatte, waren zuletzt nur noch rund 15 Prozent übrig.

Quer durch Europa legen Rechtspopulisten zu

In anderen EU-Ländern scheint der Zulauf der Rechtspopulisten hingegen ungebrochen - insbesondere auch aus den jüngeren Bevölkerungsgruppen. Beispiel Niederlande: Seit der Wahl im letzten Jahr stellt dort die "Freiheitspartei" (PVV) des Rechtspopulisten Geert Wilders die größte Parlamentsfraktion. Bei Wählerinnen und Wählern unter 34 Jahren war die Unterstützung besonders groß: Nahezu jeder sechste stimmte für Wilders’ PVV und machte sie damit zur stärksten Kraft in dieser Altersgruppe.

Schweden hatte im Jahr zuvor ein ähnliches Phänomen erlebt: Dort stimmten 22 Prozent der 18- bis 21-Jährigen für die Rechtsaußenpartei der "Schwedendemokraten". 2018 hatte deren Anteil in der gleichen Altersgruppe noch bei 12 Prozent gelegen. Gleiches Spiel in Frankreich: Marine Le Pen, Frontfrau des rechtspopulistischen Rassemblement National, gewann in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2022 rund 39 Prozent der Stimmen der 18- bis 24-Jährigen. In der Altersgruppe von 25 bis 34 Jahren wurde sie sogar von 49 Prozent gewählt.

Das Wahlverhalten junger Europäerinnen und Europäer ist damit natürlich gerade einmal anekdotenhaft umrissen. Durch den Zuschnitt unterschiedlicher Alterskohorten sind die Wahlumfragen zudem schwer vergleichbar. Dennoch: Diese Wahlergebnisse auf nationaler Ebene werfen Fragen auf, die auch für die Europawahl von Bedeutung sind. Warum sind rechte Parteien ausgerechnet jetzt und ausgerechnet bei den Jungen so erfolgreich?

Rechte Parteien profitieren vom Politikversagen anderer

Lauren Mason vom Europäischen Jugendforum hat einen Verdacht: "Ich glaube, junge Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien auf viele Arten im Stich gelassen bezüglich der Sicherung von guten Arbeitsplätzen, Zugang zu Wohnraum, Sicherheit und zur mentalen Gesundheitsvorsorge", sagte Mason dem Online-Magazin "The Parliament". Auch die geschickte Social-Media-Strategie der Rechtspopulisten trage dazu bei, dass ihre Botschaften bei der "Generation Z" Gehör finden und sich politische Debatten immer weiter nach rechts verschieben.

Auch in Deutschland wird mit Sorge gesehen, dass die AfD auf Tiktok deutlich mehr junge Menschen erreicht als jede andere Partei. Doch reicht der Einfluss rechter Parteien auf die Jugend aus, um das politische Gewicht im Europaparlament nennenswert zu verlagern?

Im Fall der Europawahl machen Erstwählerinnen und Erstwähler schließlich weniger als zehn Prozent der Wahlberechtigten aus - und nicht alle werden von ihrem Stimmrecht auch Gebrauch machen. Laut einer Eurobarometer-Umfrage im Vorfeld der EU-Wahl haben 64 Prozent der unter 30-Jährigen zumindest vor, an der Wahl im Juni teilzunehmen. Ob sie das tatsächlich tun, ist jedoch eine andere Frage. Gut 13 Prozent der jungen Menschen wollen der Europawahl bewusst fernbleiben.

Europawahl 2024Wahlberechtigte

Der Einfluss rechtsextremer Parteien auf die EU-Politik hängt jedoch nicht allein davon ab, wie viele Wählerinnen und Wähler ihnen ihre Stimme geben. Mindestens ebenso entscheidend für die künftigen Machtverhältnisse im EU-Parlament werden die neu zu schmiedenden Allianzen sein. Und dass es bei der Zusammensetzung der Fraktionen einige Verschiebungen geben wird, steht jetzt schon fest.

Stühlerücken im EU-Parlament: Formiert sich bald ein neues Rechtsbündnis?

So stellt sich beispielsweise die Frage, wie es mit der ID-Fraktion weitergeht, nachdem der französische Rassemblement National die Zusammenarbeit mit der AfD aufgekündigt hat. Damit verliert die Parlamentsgruppe zwar einerseits ihre Mitglieder aus Deutschland. Andererseits könnten einige der rechtsextremen Parteien sogar gestärkt aus diesem Auflösungsprozess hervorgehen, wenn dadurch eine Allianz mit der stärksten Kraft im Parlament wahrscheinlicher wird. Sollte sich die EVP tatsächlich für eine Zusammenarbeit mit den Parteien von Le Pen, Meloni und Co öffnen, könnten rechte Parteien auch ohne hohe Stimmanteile deutlich an Einfluss gewinnen - eine gewisse Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten vorausgesetzt.

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Die AfD wiederum könnte sich mit den anderen von den Mitte-Parteien des Europaparlaments verschmähten Außenseitern zusammentun und ein neues rechtsextremes Bündnis schmieden - mit der heimatlos gewordenen Orban-Partei Fidesz aus Ungarn zum Beispiel.

Es wäre eine neue Konstellation, in der sich ein Teil der europäischen Rechten weiter radikalisiert, während sich ein anderer Teil dem bestehenden Mitte-Rechts-Bündnis annähert. Man könnte auch von einem doppelten Rechtsruck sprechen: Dieser spielt sich einerseits am äußersten rechten Rand des Europaparlaments ab, der zahlenmäßig größer wird. Aber auch innerhalb der EVP-Fraktion würde der rechte Flügel an Macht gewinnen. Es kann niemand behaupten, dass das ein Trend wäre, an dem junge Bevölkerungsgruppen einen größeren Anteil hätten als andere.

Quelle: ntv.de

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